Bioethik Aktuell

Häufung von assistierten Suiziden in der Schweiz: Alle fünf Jahre gibt es eine Verdoppelung

Gesellschaftliche Entwicklung reflektiert die Aktivität von "Sterbehilfe"-Vereinen  

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Wie entwickeln sich die Zahlen in einem Land, das Beihilfe zum Suizid legalisiert? Welche Altersgruppen sind besonders betroffen – und warum mehr Frauen als Männer? Eine Schweizerische Studie untersuchte diese Fragen anhand von 8.738 Fällen - dem bisher größten Sample an assistierten Suiziden von Personen mit Wohnsitz in der Schweiz.

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Eine in Swiss Medical Weekly publizierte Studie (2023;153:40010 DOI https://doi.org/10.57187/smw.2023.40010) befasst sich mit der Entwicklung des assistierten Suizids in der Schweiz anhand der offiziellen Daten von 20 Jahren (1999–2018). Die Zahlen waren bis zum Jahr 2000 relativ niedrig und konstant, dann stiegen die Suizide mithilfe Dritter alle fünf Jahre um das Doppelte an, berichten die Forscher um Giacomo Montagna vom Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York in Zusammenarbeit mit Uwe Güth vom Breast Center in Zürich.

Alle fünf Jahre kam es zu einer Verdopplung der Suizide

Die 8.738 Fälle von assistiertem Suizid, die vom Schweizer Bundesamt für Statistik (BFS) registriert wurden, stellten die Wissenschaftler in vier Beobachtungszeiträumen gegenüber. In den vier 5-Jahreszeiträumen (1999-2003, 2004-2008, 2009-2013, 2014-2018) verdoppelte sich in etwa die Zahl der assistierten Suizide der jeweiligen Periode im Vergleich zur vorherigen – von 582 in der ersten Periode auf 4820 in der letzten. Insgesamt stieg die Zahl zwischen 1999 und 2018 um mehr als das Achtfache. Der Anteil der assistierten Suizide an allen Todesfällen in der Schweiz stieg von 0,2 Prozent (1999-2003) auf 1,5 Prozent (2014-2018). Ob das nun viel oder wenig sei, sei laut Studienautoren, die dem assistierten Suizid gegenüber offen sind, „Ansichtssache“. Seit 1942 ist Beihilfe beim Suizid nicht strafbar, sofern dieser Hilfe nicht selbstsüchtige, insbesondere finanzielle Motive zugrunde liegen.

Eine besonders vulnerable Gruppe sind hochaltrige Frauen

Das Durchschnittsalter der Menschen, die sich für einen Suizid entschieden, stieg zwischen 1999 und 2018 von 74,5 Jahre in der ersten Periode auf 80 Jahre in der letzten Periode an. Der Anteil der Frauen wuchs von 42,8 auf 57,2 Prozent. Eine Krebserkrankung gehörte bei 41 Prozent aller assistieren Suizide zu den festgestellten Grunderkrankungen, was im Vergleich zu anderen Ländern relativ niedrig ist. Viele ältere Menschen würden die Option der Beihilfe zum Suizid aus anderen Gründen als Krebserkrankungen in Anspruch nehmen, schlussfolgern die Wissenschaftler. In einer separaten Auswertung zur Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) konnten die Forscher keine Tendenz-Änderung des Anteils dieser Erkrankung an den Suiziden ermitteln.

Vertrauen der Patienten in die ärztliche Integrität wird dauerhaft untergraben

Die Gegner der aktiven Sterbehilfe weisen darauf hin, dass die aktive Rolle des Arztes im Sterbeprozess das Wesen der Medizin verletzt und „das Vertrauen der Patienten und der Gesellschaft in die moralische Integrität der Ärzteschaft irreversibel untergraben könnte“. Die Untersuchung erläutert auch die juristische Situation in der Schweiz und ergänzt dies mit den Leitlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). 

Beihilfe zum Suizid wird als normale Todesursache mit „Begleitursache“ kodiert

Die Studie nutzte die Datenquellen zum assistierten Suizid, die seit Ende der 1990er-Jahre beim BFS eingehen. Da es in der Krankheitskodifizierung mit ICD-10 in den untersuchten Jahren keinen Code für den assistierten Suizid gab, wurden diese Fälle über Jahre als „Suizid durch Vergiftung“ eingestuft. Erst seit 2009 wird mit dem Code X61.8 (Vorsätzliche Selbstvergiftung) der Suizid als „Begleittodesursache“ erfasst – nicht aber als Todesursache. Gestorben ist der Patient offiziell also nicht an einer Vergiftung, sondern einer anderen Grunderkrankung. In diesem Graubereich spielen Erstattungsfragen eine Rolle, weil Krankenversicherungen nicht für die Maßnahmen zahlen, die einen assistierten Suizid herbeiführen.

„Wenn es sein muss, dann gehe ich zu Exit...“

Die hohe gesellschaftliche Akzeptanz des Suizids mittels sogenannter „Sterbehilfevereine“ habe auch schon Spuren in der Alltagssprache hinterlassen. Es sei, so die Studienautoren, mittlerweile üblich, dass Menschen, die unter schweren Erkrankungen leiden, „Sterbehilfe“ als Option in Erwägung ziehen mit Worten wie: „und wenn es sein muss, gehe ich zu EXIT.“ Eine weitere häufige Aussage sei: „Ich möchte keine Sterbehilfe, aber es ist ein Trost zu wissen, dass sie da ist, falls ich sie brauche …“. Im Herbst 2022 gab es Proteste zu einer von Exit durchgeführten Pro-Suizid-Werbekampagne in öffentlichen Transportmittel (Bioethik aktuell, 6.11.2022).

Gerontozid: Wird der assistierter Suizid zur Lösung für eine überalternde Gesellschaft?

Aus Public Health-Perspektive entspricht die Größenordnung des Fallanstiegs dem Mitgliederzuwachs bei Vereinen, die in der Schweiz den assistieren Suizid fördern, was auch für Parallelen bei der Altersstruktur zutrifft. Exit hat derzeit 154.118 zahlende Mitglieder, die höchste Zahl seit der Gründung der Organisation vor 40 Jahren (vgl. Swissinfo, 28.3.2023). Den Anstieg führt der Verein auf die wachsende Zahl älterer Menschen zurück.

In Kanada sieht das Gesundheitsministerium ein eigenes Curriculum vor für Ärzte vor, die sich am Euthanasie-Programm Medical Assistance in Dying (MAID) beteiligen (vgl. Pressemitteilung, 27.3.2023). Ab März 2024 sollen auch psychische Kranke Anspruch auf eine Tötung auf Verlangen haben. Kanada hatte bereits 2017 vorgerechnet, wieviel Geld sich durch Tötung auf Verlangen im Gesundheitssystem einsparen lasse (Bioethik aktuell, 6.2.2017).

Der dystopisch japanische Film „Plan 75“, der 2022 in Cannes Aufsehen erregte, ist im Mai 2023 in den deutschsprachigen Kinos angelaufen (Bioethik aktuell, 22.5.2022). Er erzählt das erschütternde Drama über eine Gesellschaft, die älteren Menschen ab 75 gegen eine Prämie anbiete, wenn sie sich frühzeitig „einschläfern“ ließen, um damit die Herausforderung einer schnell alternden Bevölkerung zu lösen.

Institut für Medizinische
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