Bioethik aktuell

IMAGO HOMINIS: „Medizin in der Defensive“

Wie lässt sich das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient wieder zurückgewinnen?

Lesezeit: 02:52 Minuten

Die Medizin hat in den vergangenen 20 Jahren enorme Fortschritte zum Wohl der Patienten gemacht. Zugleich sind die Prozesse komplexer geworden. Das Phänomen der Defensivmedizin schwächt das Vertrauen in der Arzt-Patienten-Beziehung und artet in eine „Dokumentationswut“ und „Aufklärungswut“ aus, über die sich beide Seiten, Arzt und Patient, beklagen. Die Angst vor Strafrechtshaftung und Schadensersatzforderungen ist unter Ärzten gestiegen. Patienten nehmen zunehmend eine Anspruchshaltung gegenüber einer Medizin an, ihre Klagebereitschaft nimmt zu. Geschürt wird diese Entwicklung durch undifferenzierte Berichterstattung, die den Patienten falsche Hoffnungen und Versprechungen über Möglichkeiten der Medizin suggerieren. So gerät der Arzt immer mehr in die Defensive und das ärztliche Berufsbild entwickelt sich nach und nach zu einer reinen Dienstleistungsmedizin.

Parallel dazu ist eine Ökonomisierung der Medizin zu beobachten, die teils zu falschen Behandlungsanreizen führt. Ärzte neigen zur eigenen Absicherung zu einer übervorsichtigen und oft sinnlosen Diagnostik („positive Defensivmedizin“). Zum anderen bieten sie riskante, komplikationsträchtige Behandlungen gar nicht mehr an, um keinen Fehler zu machen („negative Defensivmedizin“).

Die Frage lautet: Wie lassen sich die vielen positiven Entwicklungen in der Medizin zum Wohle der Patienten voranbringen, ohne in die Defensivfalle zu geraten? Wie gewinnt man das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient wieder zurück?

Die kommende Ausgabe von IMAGO HOMINIS widmet sich schwerpunktmäßig dem Thema „Medizin in der Defensive“.

Michael Memmer (Universität Wien, Institut für Rechtswissenschaften) und Helga Willinger (Wiener Pflege-, Patientinnen und Patientenanwaltschaft) beleuchten das Thema Defensivmedizin aus der Perspektive des geltenden Medizinrechts und fragen nach, ob es tatsächlich eine überzogene Verrechtlichung der Arzt-Patient-Beziehung gibt.

Marcus Schiltenwolf (Universität Heidelberg, Klinikum für Orthopädie) setzt den Fokus auf die Perspektive des Arztes und den Faktor Angst. Angst vor Fehlern kann ärztliches Handel hemmen, aber auch motivieren. Das Anerkennen von unbewussten Ängsten - wie der Begegnung des Arztes mit der Krankheit seiner Patienten, mit eigenen Erwartungen, mit Schuld und Ohnmacht, wie auch mit Verzerrungen durch wirtschaftliche Vorgaben - kann dazu führen, das ärztliche Handeln und die Arzt-Patient-Beziehung zu stärken.

Der Internist Werner Waldhäusel (Medizinische Universität Wien) setzt sich mit der Frage auseinander, inwieweit Normen und verbindliche Leitlinien zum Fortschritt in der Medizin beitragen und wo deren Gefahren liegen. Die Arzt-Patient-Beziehung muss von Empathie, Vertrauen und Vertraulichkeit getragen sein. Dies lässt sich nicht in Algorithmen gießen, außer unter Zerstörung der Arzt-Patienten-Beziehung.

Harald Mang (Medizinische Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg, Medical Process Management) widmet sich der Problematik bei der Einführung von betriebswirtschaftlichen Konzepten und von wirtschaftlichen Evaluierungskriterien in die Institutionen der Gesundheitsversorgung. Die Frage stellt sich, welche Modelle es zur optimalen Zusammenarbeit zwischen Ärzten bzw. Pflegekräften und Managern geben könnte.

Der Kardiologe und Internist Klaus Gahl (Klinikum Braunschweig, Viktor von Weizäcker-Gesellschaft) fokussiert das Thema Misstrauen und Vertrauen in der Arzt-Patient- Beziehung. Der Arzt hat als Experte in der Arzt-Patient-Beziehung einen naturgegebenen Vorsprung gegenüber seinen Patienten (Asymmetrie). Dieses Spannungsverhältnis kann nicht allein durch eine umfassende Aufklärung überbrückt werden, sondern nur durch die Kultivierung eines echten Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient. Hier erwächst in erster Linie dem Arzt eine unaufhebbare Verantwortung, die er in hohem Maße wahrnehmen sollte.

Die Beiträge bieten wertvolle Anregungen und eine umfassende Analyse der Entwicklung im Verhältnis von Arzt und Patient in der gegenwärtigen Medizin.

Eine Vorschau der Imago-Hominis-Ausgabe 3/2017 können Sie hier abrufen; das Einzelheft kann bis 22. Oktober 2017 um 15 Euro (versandkostenfrei innerhalb Österreichs) bezogen werden.

Institut für Medizinische
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