„Haben wir die Pflicht, das Recht und die Freiheit, alles zu tun, was die Medizin zustande bringt?“

Imago Hominis (2000); 7(2): 148-151
Georg Freiherr von Salis-Soglio

Die Mehrzahl der Ärzte ist heute übermäßig ausgelastet mit:

  • einer sehr großen (zu großen?) Zahl von Patienten
  • einer fast schon unüberschaubaren Fülle rein medizinischer Fragestellungen
  • juristischen Aspekten (ausreichende Aufklärung, aber auch vielfach Absicherungsdenken)
  • wirtschaftlichen Aspekten (in der Praxis verständliches Bemühen um Egalisierung hoher Investitionen und gleichzeitig Beachtung zunehmend strenger Verordungsvorgaben, in der Klinik Konfrontation mit gedeckelten Budgets, Fallzahlen, Verweildauer und Fallpauschalen).

Diese Anmerkungen sollen keineswegs als Klage verstanden werden, sondern bereits auf einen wesentlichen Punkt meiner Ausführungen hindeuten, dass wir heute in aller Regel nämlich zu wenig Zeit haben (vielleicht auch uns zu wenig Zeit nehmen), uns mit grundsätzlichen Fragen zu beschäftigen, die letztlich das Ethos des ärztlichen Berufes betreffen.

Dieser Mangel an Zeit und Ruhe zum Nachdenken und zur Besinnung erscheint mir in unserer heutigen Epoche ohnehin eines der zentralen Probleme zu sein, von dem kein Beruf und keine gesellschaftliche Gruppe ausgespart sind.

An wen richtet sich nun eigentlich die im Thema genannte Fragestellung?

  • Nur an den scheinbar im Vordergrund stehenden Arzt?
  • An Verwaltungsleiter, Krankenkassen und Krankenversicherungen, die über die Finanzierbarkeit medizinischer Maßnahmen entscheidend mitzureden haben und deren Einfluss dramatisch steigt?
  • An Politiker, die gesundheitspolitische Vorgaben liefern müssen?
  • An die Vertreter der Kirche, die zu moralischen bzw. ethischen Aspekten Stellung nehmen sollen?
  • Oder etwa auch an den Patienten, der doch schließlich im Mittelpunkt der medizinischen Bemühungen stehen sollte?

Ein wenig provozierend möchte ich meine Verwunderung darüber aussprechen, dass überhaupt die Frage gestellt wird, ob wir heute alles tun sollen, dürfen oder müssen, was die Medizin ermöglicht.

Denn letztlich ist in der Definition des Begriffes „Medizin“ die Antwort doch schon enthalten.

Die Medizin (Heilkunde) ist die Wissenschaft vom gesunden und kranken Menschen, von Ursachen, Erscheinungen, Auswirkungen der Krankheiten, ihrer Erkennung, Heilung und Verhütung.

Hieraus müsste sich doch eigentlich die Selbstverständlichkeit ableiten, dass der Arzt alles heutzutage Mögliche tun sollte, um Krankheiten zu erkennen, zu heilen und, wenn möglich, zu verhindern.

Etwas schwieriger wird die Situation allerdings, wenn man hinterfragt, ob der Arzt alles heutzutage Mögliche tun sollte, um uneingeschränkte Gesundheit seiner Patienten zu erreichen bzw. zu erhalten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert die Gesundheit als einen Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlergehens, und hieraus ergäbe sich natürlich eine sehr viel weitergehende Interpretationsmöglichkeit ärztlicher Aufgaben.

Es ergeben sich aus diesen scheinbar banalen Vorbemerkungen einige bedeutsame Fragen, mit deren Beantwortung wir uns heute vielfach sehr schwer tun.

1. Ist der Zustand völligen Wohlergehens überhaupt erreichbar und immer mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln anzustreben? Welcher Aufwand ist vertretbar, um dies zu erreichen? Ist der Zustand völligen Wohlbefindens gleichbedeutend mit der Abwesenheit von Krankheiten?

Die üblichen Kinderkrankheiten, Husten und Schnupfen, gelegentliche Kreuzschmerzen sowie manche unkomplizierten Verletzungen im Sport werden doch heute als fast schon normal und irgendwie dazugehörend angesehen.

Hier muss man auch nicht immer das Maximum an Diagnostik und Therapie einsetzen, sondern man kann mit gutem Gewissen den spontanen Heilungsverlauf abwarten, vielleicht ein wenig unterstützen, und man kann mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass letztlich ein für den Betroffenen befriedigender Zustand erreicht wird.

Doch gilt diese Überlegung auch für Alterungsvorgänge, die mit bestimmten Gebrechen oder Beschwerden einhergehen? Kann oder sollte man diese nicht gelegentlich mit etwas mehr Gelassenheit hinnehmen?

Die eingangs gestellte Frage könnte vor diesem Hintergrund laufen: muss in jeder Lebensphase ein Zustand völligen Wohlergehens erreicht werden kann bzw. angestrebt werden?

Die Weiterführung dieser Gedanken zum Nachdenken über das Sterben liegt nahe. Wann neigt sich ein Leben unwiderruflich dem Ende entgegen und wann kann, soll oder muss ich alle Möglichkeiten einer Lebensverlängerung ausschöpfen? Schiebt man manchmal mit ärztlichen Maßnahmen vielleicht nur das Sterben hinaus?

So unumstritten es ist, bei jüngeren Patienten mit Aussicht auf Heilung alles heute in der Medizin Mögliche einzusetzen, so viel schwieriger wird diese Frage beim alten Menschen und bei Patienten mit bösartigen Tumorerkrankungen und begrenzter Lebenserwartung.

Übersehen wir möglicherweise nicht gelegentlich, dass es manchmal viel menschenwürdiger wäre, das Sterben zu erleichtern, als es um jeden Preis hinauszuzögern?

Wir würden doch niemals ernsthaft in Frage stellen, dass die Entstehung des Lebens und die Geburt etwas ganz Natürliches und Wunderbares und zum Leben Dazugehörendes sind. Sollten wir nicht auch das Ende eines Lebens – bei allem Schmerz – als etwas Natürliches akzeptieren, das ja ohnehin nicht verhindert werden kann?

2. Viele Fragen ergeben sich aus der Rolle des Arztes als Wissenschaftler und Forscher.

Sinn und Notwendigkeit ärztlicher Forschung können sicherlich nicht in Frage gestellt werden, wobei auch zugestanden werden muss, dass bestimmte neue Behandlungsverfahren nicht immer nur im Labor erprobt werden können. Es ist weiterhin zu bedenken, dass manche Forschungsansätze erst nach einigen Irrwegen zu einem für zukünftige Patienten beglückenden Ergebnis führen.

Auf der anderen Seite können neue wissenschaftliche Erkenntnisse bei missbräuchlicher Anwendung verheerende Folgen nach sich ziehen. Die Gentechnologie stellt zweifellos ein aktuelles Beispiel dafür dar, wie nahe segensreiche Ansätze und verantwortungsloser Missbrauch beieinander liegen können.

Da wir wahrscheinlich immer mit dem menschlichen Drang, alles Machbare auch zu tun, konfrontiert sein werden, ist die Empfehlung, bei sich anbahnenden ungünstigen Entwicklungen rechtzeitig umzukehren, sicherlich nicht ganz einfach durchzusetzen.

Zumindest sollte man aber in derartigen Situationen nicht schweigen und ggf. auf Gefahren bzw. ungünstige Entwicklungen hinweisen.

3.) Wer soll bei den heutzutage in allen Ländern stark begrenzten finanziellen Mög- lichkeiten darüber entscheiden, wann und wo vor allem bei wem gespart wird?

Mit dieser ganz aktuellen Problematik sind wir Ärzte heute nahezu tagtäglich konfrontiert. Auch wenn diese Frage hier natürlich nicht weiter diskutiert werden kann, so soll doch etwas später ein etwas provozierender Lösungsvorschlag unterbreitet werden.

Nach diesen mehr grundsätzlichen Fragen möchte ich im Folgenden einige konkrete Beispiele für Bereiche unseres ärztlichen Handelns nennen, in denen teilweise äußerst kontroverse Auffassungen und Verhaltensweisen existieren.

A. rein medizinisch-fachliche Fragen

  • Fragen zur Entstehung und zur Frühphase menschlichen Lebens (Befruchtungsmodalitäten, Abtreibung, Leihmütter, Klonen etc.)
  • Intensivmedizin (bemerkenswerterweise wird hier Kritik meist von Außenstehenden und nicht vom direkt betroffenen Patienten und vom Behandlungsteam geäußert)
  • Multiorgantransplantation (u.a. Spenderproblematik)
  • Multigelenkersatz
  • Problematik aufwendiger Operationen bei unheilbar Tumorkranken
  • Gentechnologie (s.o.).

Die angesprochenen Bereiche sind ohne Zweifel spektakulär und erfreuen sich daher einer intensiven Beschäftigung durch unsere vielfältigen Medien. Viel häufiger sind wir jedoch mit ganz banalen Situationen konfrontiert, in denen äußerst unterschiedliche Verhaltensweisen realisiert werden können.

Ich möchte hier beispielhaft noch einmal die oben schon angesprochenen geringfügigen Erkrankungen und Befindlichkeitsstörungen nennen, denen man mit einigen guten Ratschlägen und Anleitungen zur Selbsthilfe genauso erfolgreich begegnen könnte wie mit dem gesamten Spektrum teurer Behandlungsmethoden.

B. medizinisch-juristische Aspekte

An dieser Stelle soll keineswegs über die notwendige Aufklärung der Patienten gesprochen werden und auch nicht über die Verpflichtung der Ärzte, entsprechend den neuesten und gesicherten Erkenntnissen zu behandeln (Stichwort „evidence-based-medicine“).

Die Problematik besteht vielmehr darin, dass aus Angst vor Haftungs- bzw. Regressansprüchen heute vielfach ein Übermaß an Diagnostik und Therapie eingesetzt wird, wobei die Relation zu der zugrunde liegenden oder vermuteten Gesundheitsstörung gar nicht mehr gewahrt bleibt.

C. wirtschaftliche Aspekte

Hier soll nicht die oben schon genannte Frage erörtert werden, was heute in der Medizin finanzierbar ist. Vielmehr geht es um die eigentlich unfassbare Realität, dass die Gestaltung von Diagnostik und Therapie – keineswegs nur in Ausnahmefällen – davon abhängig gemacht wird, welcher wirtschaftliche Gewinn daraus erwächst. Vor diesem Hintergrund werden tagtäglich überflüssige diagnostische und überzogene therapeutische Maßnahmen ergriffen, wobei Praxis und Klinik gleichermaßen betroffen sind. Auf die verhängnisvolle Einflussnahme der Industrie kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden.

Indem ich auf die oben aufgeworfene Frage nach der Finanzierbarkeit unserer Medizin zurückkomme, stelle ich die Behauptung in den Raum, dass unser Gesundheitssystem weitestgehend saniert wäre, wenn wir im Gesamtbereich unserer Medizin auf unnötige und unangemessene Maßnahmen verzichten würden.

Bei der Suche nach den Gründen für die angesprochenen Probleme ergeben sich zwangsläufig auch Lösungsvorschläge.

1. Reform unseres Gesundheitssystems

Bei den vielfältigen Bemühungen zur Konsolidierung unseres Gesundheitssystems stehen nahezu ausschließlich ökonomische Erwägungen im Vordergrund, was einer Behandlung von Symptomen und nicht von Ursachen entspricht.

Eine grundlegende Neubesinnung ist erforderlich, die eben nicht mit wirtschaftlichen Ansätzen, sondern vielmehr mit Überlegungen zur Ethik in der Medizin beginnen sollte.

Man sollte nicht vor der vielleicht provozierenden oder gar weltfremd erscheinenden Forderung zurückscheuen, dass unser ärztliches Handeln von individuellen wirtschaftlichen Überlegungen völlig frei sein sollte. Die vor diesem Hintergrund angedachte Pauschalvergütung leitender Ärzte ist nach meiner Überzeugung ein Schritt in die richtige Richtung.

2. Verbesserung der Ausbildung bzw. Unterweisung in medizinischer Ethik, Gesundheitsökonomie und Medizinrecht.

Während noch vor wenigen Jahren überhaupt keine Vorlesungen oder Kurse in diesen Bereichen angeboten wurden, finden sich heute zumindest erste zarte Ansätze in Form – leider meist nur freiwilliger – Zusatzveranstaltungen in diesen Disziplinen. Medizinische Ethik, Gesundheitsökonomie und Medizinrecht müssen ohne Zweifel baldmöglichst gleichberechtigte Hauptfächer in der ärztlichen Ausbildung werden.

3. Nun soll ein Aspekt angesprochen werden, der überraschen mag, der aber am wichtigsten erscheint und der den großen Vorteil hat, dass er sofort für den Einzelnen realisierbar ist: Ruhe und Zeit zum Nachdenken.

Wir brauchen Ruhe und Zeit, um uns über die grundsätzliche Motivation unserer ärztlichen Tätigkeit im klaren zu sein. Viele von uns werden sich nach jahrelanger ärztlicher Tätigkeit überhaupt erstmalig mit dieser Frage beschäftigen. Um die oben angedeuteten Grenzfragen bei einzelnen Patienten beantworten zu können, ist sicherlich vielfach mehr Zeit als fachliches Wissen gefragt.

Die enge und vertrauensvolle Einbeziehung des Patienten und seiner Angehörigen erleichtert nicht nur schwierige Entscheidungen, sondern führt erfahrungsgemäß auch dazu, dass selbst langwierige Behandlungsverläufe und sogar ungünstige Ergebnisse akzeptiert und bewältigt werden.

Mit anderen Worten, wir sollten vielleicht mehr Zeit für das Warum als für das Wie unseres ärztlichen Handelns aufwenden!

4. In der Umsetzung der eigenen Überzeugungen konsequent sein.

Wir müssen gerade in der heutigen Zeit verstärkt den Mut aufbringen, auch einmal oder gegebenenfalls sogar mehrmals gegen den Strom zu schwimmen. Und es gibt viel mehr Gleichgesinnte als man denkt, die froh wären, wenn sie sich auf einfache, ehrliche und natürliche Verhaltensweisen besinnen könnten und die vielleicht nur auf einen kleinen Anstoß von außen warten.

Konsequenz und Standfestigkeit im eigenen (nur scheinbar kleinen) Umfeld mag weniger spektakulär sein, ist aber auf Dauer viel wirksamer als von außen diktierte und vorgegebene Verhaltensweisen. Auch wenn die im Thema aufgeworfenen Fragestellungen im Rahmen der Ausführungen eigentlich nur weiter aufgeschlüsselt wurden, sollen doch abschließend aus persönlicher Sicht zwei Antworten gegeben werden:

a. Unter der Voraussetzung, dass die allgemeinen gesetzlichen und standesrechtlichen Bestimmungen beachtet werden, haben wir natürlich grundsätzlich das Recht und gleichzeitig die Freiheit, für den Patienten alles in der Medizin Mögliche zu tun, wobei im Zweifelsfall das Wohlergehen des einzelnen Patienten Vorrang vor jeglichen wirtschaftlichen Überlegungen haben sollte.

b. Solange aber die Medizin (im weitesten Sinne) Handlungen ermöglicht, die entweder moralisch verwerflich oder zumindest sehr umstritten sind, haben wir vor allem die Pflicht, jede einzelne Entscheidung kritisch zu überdenken, und dabei gleichzeitig den Mut und die Konsequenz aufzubringen, uns einem vielleicht übermächtig erscheinendem Zeitgeist zu widersetzen.

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. Georg Freiherr von Salis-Soglio
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Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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