Postmoderne Anthropologie: Der Verlust des Leibes

Imago Hominis (2009); 16(2): 99-114
Susanne Kummer

Zusammenfassung

Menschen stehen in der heutigen Konsumgesellschaft zunehmend unter Druck, ihre Identität einzig über ihren Körper zu konstruieren. Ein perfektes Selbst verlangt in dieser Logik einen perfekten Körper. Dieser pathogene, a-personale Körperkult verschränkt sich mit einem überspannten Autonomiebegriff, wonach der Mensch sich nur dort verwirklicht, wo er sich als autonomes Subjekt seinen  Körper  „rational“ untertan macht. Autonomie heißt dann, leibliche Erfahrungen oder Begrenzungen  zurückzudrängen, sich vom Leib wegzuarbeiten oder ihn überhaupt virtuell aufzulösen. Diese Formen der „Selbstmanipulation“ enden in einer Art Selbstausbeutung und Selbstentfremdung. Eine „humane“ Anthropologie muss den Menschen als Person in seiner leib-seelischen Ganzheit in den Blick nehmen. Insbesondere gilt es dabei, das Modell des „Körpers als Maschine“ zu überwinden und die positive Rolle der Leiblichkeit in der individuellen, sozialen und kulturellen Entfaltung des Menschen neu zu entdecken.

Schlüsselwörter: Leib, Körper, Identität, Subjekt, Anthropologie, Medizin

Abstract

A certain aspect of consumerism keeps people under a constant pressure in defining their identity solely by means of their body. A perfect self, in this logic, demands a perfect body. This pathogenic and impersonal worshipping of the body entangles with an exaggerated sense of autonomy: Self-realization takes only place, when an autonomic individual would “rationally” enslave his/her body. Autonomy, then, means to repress experiences of physical limitations, to make any effort to emancipate from the body or even to do a way with it in a virtual sense. These manifestations of self-manipulation will terminate in self-exploitation and self-alienation. A “humane” anthropology has to envisage a person in her entity of body and soul. The image of the “body as machine” must be overcome; instead, the positive aspects of the body in its individual social and cultural abilities deserve to be re-discovered.

Keywords: Body, Embodiment, Identity, Anthropology, Medicine


1. Die verrutschten Koordinaten: Leib-Seele/Geist-Körper

1.1. Was Tänzer an Descartes nicht mögen

Ungelenkig und verunsichert stehen sie da. Mehr als 200 Schüler aus sozial benachteiligten Stadtvierteln proben im Turnsaal einer Berliner Hauptschule. Sie sollen tanzen. Viele dieser Jugendlichen haben wenig Selbstvertrauen und sind offenbar zur Ansicht gekommen, dass sie gesellschaftlich ganz unten stehen. Zu klassischer Musik getanzt haben sie noch nie, schon gar nicht auf einer Bühne. Zu Beginn der Proben kichern die Mädchen, laufen neben der Freundin her, suchen Sicherheit durch physische Nähe, kleben aneinander und können sich nicht trennen. Unter den Burschen verhalten sich mehrere auffällig. Sie wollen Anführer in der Gruppe sein, durch schlechtes Benehmen oder das ständige Bedürfnis, für die anderen den Clown zu spielen. Bis sie irgendwann merken, dass dieses Verhalten nicht mehr zieht. Soll die Aufführung von Strawinskys „Sacre du Printemps“ zusammen mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Sir Simon Rattle gelingen, muss jede Bewegung exakt sein. Das Ich muss eingebracht und zugleich zurückgenommen werden – um des Ganzen willen.

Der britische Choreograf Royston Maldoom bekommt seine jungen Laiendarsteller langsam in den Griff. Schweigen muss man üben, erklärt er ihnen. Nur wer still ist, kann hören und sich einlassen, weil man „beim Tanzen durch den Körper sprechen“ muss. Maldoom, der als Tanzpädagoge weltweit Tanzprojekte dieser Art verwirklicht hat, glaubt an diese Jugendlichen, fordert sie hart, schenkt ihnen Vertrauen. Seine britische Tänzerkollegin wird nach den ersten Probestunden nachdenklich. Sie findet es „beängstigend, Jugendliche zu sehen, die so wenig Körperbeherrschung haben“. Sie hätten keine Kraft und seien sehr ungelenkig. Dabei seien sie noch jung. Je geringer das Selbstbewusstsein, desto mehr werde geschwätzt und gelacht, nur um davon abzulenken, wie schwer es ihnen falle. Dennoch gelingt es den beiden Profi-Tänzern, diese jungen Menschen zu einer Form von Konzentration und Engagement zu motivieren, von der so mancher Pädagoge nur träumen kann. Das Projekt ist ein großer Erfolg, die Aufführung begeistert das Berliner Publikum. Der Weg dazu ist festgehalten in dem eindrucksvollen Dokumentarfilm „Rhythm is it!“ (D 2004). Maldooms eigentlicher Erfolg ging über den Applaus weit hinaus. Der Tanz hat die Jugendlichen selbst verändert, ihr Verhältnis zu sich selbst.

Beim Tanzen spricht der Leib. Der Leib ist gewissermaßen Ursprache des Menschen. Noch bevor Worte artikuliert und Begriffe erfasst werden, öffnet der Leib als Medium den Zugang zu sich in Form der Selbstgegenwart, zur Anwesenheit des personalen Gegenüber und zur Welt. Das Gleichgewicht zwischen Leib zu sein (Subjekt sein, Selbsterfahrung) und Körper haben (Objekt werden, Fremderfahrung) steht unter Spannung: Diese Spannung positiv in unsere „Ich-Ganzheit“ zu integrieren, ist lebenslange Aufgabe – der konkreten Person in den verschiedenen Phasen ihres Lebens (Jugend, Alter, Krankheit, Gesundheit, Erfahrung der Generativität, Hinfälligkeit usw.). Sie ist aber auch Aufgabe einer Kultur, die eine Sprache des Leibes, ein Annehmen der eigenen Natur und damit die Integrität der Person fördert oder hindert. Auf Dauer ist es zwar nicht unmöglich, aber doch schwer, gegen den vernichtenden oder verächtlichen Blick der Gesellschaft oder unmittelbaren Umgebung ein positives Verhältnis zu sich selbst einzuüben. Der Umgang und die Erfahrung mit dem eigenen Körper qua Leib und damit das Verhältnis zu sich selbst, ist nach Böhme stark zeit- und gesellschaftsbedingt: „Dieser Blick des anderen ist durch Sozialisation und Alltagspraxis tief ins eigene Selbstverhältnis eingelassen.“1

Das Verhalten der Jugendlichen im Berliner Tanzprojekt mag exemplarisch zeigen, wo unsere Kultur nach 500 Jahren traditionellem Leib-Seele-Dualismus steht: mitten in einer großen Leib-Verunsicherung. Im Tanzen – im sich bewegen, einander berühren, hochheben, andere stützen, still stehen, Gleichgewicht halten, den Raum in abgestimmter Bewegung miteinander teilen – gewannen diese Jugendlichen einen Zugang zu sich selbst.

„Das Denken, gegen das sich der Tanz wehrt, ist das cartesianische Denken, das eine Körpermaschine und ein isoliertes Subjekt hervorbringt. Der Tanz ist wahrhaftig der beste Beweis dafür, dass es dieses Denken nicht sein kann“, bringt es Alarcón auf den Punkt.2

1.2. Kritik am „Leib als Maschine“-Modell

Das nach Descartes’ Begriff der res extensa hergeleitete Konzept des Menschen als „Körpermaschine“ von La Mettrie, der Arzt war, ist uns in unserer technikbeherrschten Zivilisation zutiefst vertraut. Wir haben sie uns „einverleibt“ und durch zahlreiche Maschinen-Metaphern ergänzt: Wenn wir uns erholen, „schalten wir ab“ oder „tanken wir auf“; von jemand, der intelligent, aber emotional unterentwickelt ist, sagen wir, „er hat die Hardware, aber die Software fehlt ihm“; wenn wir uns etwas merken, „speichern“ wir es und bedanken uns für „neue Inputs“ usw. Wir sprechen über uns selbst in der Sprache der Maschine. Das deutsche Wort „Leib“, das dem menschlichen, geistig durchformten (klassisch: Seele = forma corporis) Körper, der Person vorbehalten ist, verschwindet aus dem Sprachgebrauch und wird verdrängt durch den „Körper“ oder neudeutsch „Body“.3

Die Auffassung des Leibes als Maschine prägt bis heute unser Selbstverständnis. Sie ist charakterisiert durch den Blick auf den menschlichen Körper als das Fremde (Objekt), als Besitz (mein Körper gehört mir) und durch den Umgang mit ihm unter dem Aspekt der Macht (über den Körper für eigene Ziele verfügen können). Erfolg, Autonomie und Selbstverwirklichung wird gleichgesetzt mit Erlernen, den eigenen Körper zu beherrschen, zu besitzen, ihn sich gefügig zu machen.

Die kurze Betrachtung des Tanzes kann als Ausgangspunkt dienen, diesen instrumentalisierenden Zugang zum eigenen Leib und den traditionellen Leib-Seele-Dualismus in Frage zu stellen. Geist und Körper werden darin als zwei nebeneinander herlaufende Substanzen (Mensch = Geist, Ich; Leib = Es, animalisch) definiert. Doch der Leib ist nicht einfach ein dreidimensionaler Körper unter anderen Körper. Seine Natur ist nicht „nackte Tatsache“, der nachträglich ein Sinn durch eine Ich-Instanz oder ein autonomes Subjekt aufgepfropft werden muss.

Auch ist der Leib nicht einzig Ausdruck einer „Seele“. Er hat seine Eigengesetzlichkeit, zeigt Widerstand, Grenze, in die man sich einfügen muss, damit Leben gelingt. Die Einheit und Differenz von Leib und Seele ist nicht die von zwei für sich bestehenden Seienden (ontisch), sie liegt auf der Ebene der Seinsprinzipien (ontologisch). Es handelt sich nicht um „Hülle“ und „Füllung“, sondern um die beiden Seinsprinzipien des Menschen, die ihn erst gemeinsam „ganz“ machen. Das personale Selbst ist ein lebendiges, verkörpertes Selbst.

1.3. Keine Selbsterfahrung ohne Leiberfahrung

Das Sich-Einlassen auf sich selbst ist ohne ein Sich-Einlassen auf den Leib, die „Natur, die wir selber sind“4, nicht möglich: keine Selbsterfahrung ohne Leiberfahrung, keine Selbstannahme ohne Annahme unserer ganzen Natur – auch in ihrer leiblichen Dimension. Dieser Zugang ist angesichts der vorherrschenden technisch-naturwissenschaftlichen Grundeinstellung der Moderne zum eigenen Körper und dem „anything goes“ der Postmoderne vor besondere Herausforderungen gestellt. Böhme sieht in der Leibpraxis, die in unserer technischen Zivilisation vorherrscht, dass „das Körperhaben als das Natürlichste und Selbstverständlichste erscheint. Dagegen wird Leibsein zur Aufgabe.“5

Denken wir an unsere jungen Laientänzer, die die Sprache ihres Leibes neu erlernt haben. Sie haben ihren Körper nicht als Mittel zum Zweck für etwas anderes benutzt. Sie haben ihn auch nicht manipuliert zur Leistungssteigerung, um am Ende ihm gegenüber als Souverän aufzutreten. Sie verzichteten darauf, ihren Erfolg an der Skala von Kraft und Leistung zu messen, wenngleich sie durchaus harte „Körperarbeit“ leisteten und Körperbeherrschung erlernten. Diese waren aber nicht Selbstzweck. Sie reduzierten ihren Leib nicht darauf, Körper zu sein, noch negierten sie ihn. Sie schwebten ja nicht als denkend-geistige Subjekte über die Bühne. Sie haben sich selbst im Tanz in eine Form leiblicher Anwesenheit eingelassen. Leibsein ist nichts Zweites neben uns, nichts Äußerliches. Es ist die Lebensbewegung des Menschen selbst, des ganzen Menschen, der aus sich herausgeht und sich leiblich-seelisch artikuliert: in Regungen, Stimmungen, Charakter, Gefühlen, Bewegungen.6 Die Erfahrung des Tanzes erfasste und formte die Jugendlichen in ihrer ganzen Person – geistig und leibhaftig.

Genau diese Sprache des Leibes ist uns vielfach fremd geworden. Das aber heißt: Wir sind uns selbst ent-fremdet, selbst fremd geworden. Diese Entfremdung ist nicht denkbar ohne das Menschenbild, das die Philosophie der Neuzeit geprägt hat: die Körper-Seele/Geist-Spaltung und die radikale Trennung in eine Innen- und Außenwelt. Der Leib als Referent subjektiver Erfahrung kommt in dieser Tradition nicht vor.

2. Altlasten und Neuzugänge in der Philosophie des Leibes

Im 20. Jahrhundert kam es in der Philosophie zu einer Renaissance der Beschäftigung mit dem Leib. Der Leib ist in der Philosophie auffällig geworden, die Entfremdung des Menschen von seinem Leib qua Natur wurde Thema der so genannten Leibphilosophie. Seit Nietzsche wurde versucht, die philosophische Leibvergessenheit rückgängig zu machen und der Verdrängung leiblicher Erfahrung entgegenzuwirken.7 Als eigenständiges Themengebiet gewann der Leib in der Philosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr an Boden. Die „Entdeckung des Leibes“ ist ohne die Arbeiten von Scheler, Sartre, Heidegger und insbesondere Merleau-Ponty nicht denkbar. Die wichtigsten Durchbrüche hat nach Gahlings8 die Phänomenologie Husserls erzielt, der die bis heute gültige Unterscheidung von Körper und Leib entfaltete. Als „Pionierin“ der Leibphilosophie nennt Gahlings Husserls Schülerin Edith Stein, die den Leib ins Zentrum ihrer Philosophie der Einfühlung rückte und deren phänomenologische Analysen für ihre spätere Theorie der geschlechtlichen Differenzierung bis heute von großem Nutzen sind.9

Trotz dieses Versuchs eines Paradigmenwechsels, den naturwissenschaftlich-technischen Zugang zum Körper hinter sich zu lassen und die Leiberfahrung ins Zentrum zu rücken, halten sich die philosophischen Altlasten – einmal rationalistisch, einmal materialistisch getarnt – bis heute hartnäckig.

Beide Extrempositionen greifen auf eine lange Tradition von dualistischen und monistischen Theorien über das Verhältnis von Leib und Seele zurück. Der Rationalismus bzw. Idealismus hat das Ich in den denkenden Geist verlegt und radikal vom Körper getrennt. Der Körper bleibt als lästige Hülle übrig. Der Materialismus hat das ganze Ich in den Körper verlegt, vorzugsweise in den Kopf bzw. das Gehirn, das jetzt nur noch Ich-Zustände produziert, die in Wirklichkeit nichts als Illusionen sind. Der Geist wurde zum Gespenst in der Materie.

2.1 Die Spannung: Leib sein und Körper haben

Sehen wir uns die beiden Extrempositionen, die beide auf den Grundfesten eines Leib-Seele-Dualismus stehen, etwas genauer an.

a) Ich bin mein Leib

Dem idealistischen Ansatz nach wird der Leib platonisch mit der niedrigen Seinsstufe gleichgesetzt, er ist nur materielles Substrat, Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Triebhaftigkeit. Die Seele wird vom Leib unterdrückt (Körper ist Kerker der Seele). Sie wird erst durch ein sich Wegarbeiten von ihm ganz sie selbst, autonom. Der Geist ist das Eigentliche, der mich als absolutes Subjekt setzt, ersetzt auch noch die Realität meines Leibes. Der eigene Körper gehört damit der reinen  Außenwelt an, dem materiellen Reich des Determinismus, von dem sich das Ich, das dem geistigen Reich der Freiheit angehört, absondert.

Kritisch lässt sich einwenden, dass gegen dieses Konzept die Erfahrung spricht, dass wir unser Leib selbst sind. Der Leib ist Ausdruck meiner Selbst, kein Zweites neben oder unter mir. Er erst ermöglicht meinen Daseinsvollzug als personales, beziehungsfähiges und -angewiesenes, weltoffenes Wesen. Wer einen Leib sieht, sieht ja nicht etwas, sondern jemanden.10 Im Leib habe ich es direkt und unmittelbar mit mir selbst bzw. mit jemandem zu tun. Er ist die Gestalt, in der ich bin.

Wir erfahren unseren Leib ja normalerweise als wesenhaftes Medium unseres Existierens11 und gar nicht als Gegen-Stand, als von uns fremdes Objekt. Normalerweise bemerken wir ihn auch nicht, sondern er ist Teil unseres Selbstvollzugs als leibliches Wesen. Aufdringlich und bemerkbar wird der Leib oft erst dann, wenn er diesen Selbstvollzug hindert, begrenzt, bei Unwohlsein oder Krankheit. Dann trete ich zu meinem Leib in Distanz und beschreibe Symptome an ihm, die gleichwohl aber mich als Ganzes betreffen. Insofern bedeutet der Leib Grenze: „Das Leibsein markiert die Grenze des verfügen Könnens.“12 Er bedeutet Bindung, Verletzlichsein, Hinfälligkeit, Abhängigsein, Bedürftigkeit usw. Und er erinnert an die Tatsache, dass man nicht ungestraft über die Eigengesetzlichkeiten des Leibes qua Natur hinweggehen kann.13

b) Ich habe einen Körper

Dem materialistischen Ansatz nach bin ich nichts anderes als mein Leib, mein Körper ist alles, was ich bin. Es gibt kein „das Ich“, kein reales Subjekt, oder, in der Sprache der Neurobiologie: Nicht ich denke, das Gehirn denkt. Dem wiederum widerspricht die Tatsache, dass wir zu uns selbst in Distanz treten können, unseren Körper „haben“. Mein Körper und ich fallen nicht schlechthin in eins. Ich kann mich zu ihm verhalten. Die simple Tatsache, dass ich von meinem Leib spreche, verdeutlicht, dass hier nicht ein Leib über sich spricht, sondern die Selbstzuschreibung durch mich erfolgt.14 Ich bin leiblich eben mehr als nur Leib. Wie ich mich zu meinem Leib verhalte, verhalte ich mich zu mir selbst.15

Dieses „Haben des Leibes“ ist aber nicht gleichzusetzen mit dem Besitz einer Sache. „Haben“ hat hier einen anderen Sinn. Ich kann meinen Leib ja nicht weglegen, über ihn beliebig verfügen (man denke hier z. B. an den Fall von einem, der sich vorsätzlich die Hand abschlägt, um von der Versicherung Geld zu bekommen; da sprechen wir auch nicht bloß von Leib-, sondern von Selbstverstümmelung.) Wir haben unseren Leib, in dem wir leiblich sind.

Die Spannung zwischen beiden Polen – Leib sein und Körper haben – denkerisch, kulturell und individuell durchzuhalten – ist Grundlage für ein gelingendes Leben. Sowohl Idealismus als auch Materialismus stehlen sich aus der Verantwortung, diese Aufgabe anzunehmen. Sie kennzeichnen sich durch den Versuch, „den ganzen Leib zu haben, zu besitzen“, entweder in Form einer Totalvergegenständlichung (nichts als Materie) oder als Idee (nichts als Produkt des Geistes). „Die abstrakte Geistmetaphysik des Idealismus und Materialismus (…) sind Komplementärphänomene, sie treiben einander hervor und schlagen ineinander um“16, wie die Geschichte zeigt: Der „absolute Geist“ Hegels hat Marx und seinem materialistischen Menschenbild den Boden bereitet. Der Materialist meint, auf den Geist verzichten zu können, der Idealist erklärt die Materie für irrelevant. Beide versagen jedoch angesichts der Erfahrung des Menschen, der weder sich noch sein Gegenüber als ein Nach- oder Nebeneinander von Körper und Geist erlebt, sondern sich selbst leibhaftig anwesend erfährt.

2.2 Pathogener Leibzugang: Ich und „Nur-Körper“

Die Dissoziation von Leib und Geist ist Produkt einer falschen Anthropologie des Leibes. Das von der Gesellschaft geforderte „beste Selbst“ ist pathogen. Wenn überhaupt etwas wichtig ist, dann die Gesundheit, die Leistungsfähigkeit, das Outfit – nicht aber die Person. So sucht man verzweifelt im Körper das Heil. Oder man bestraft ihn, wenn er es einem verweigert.

a) Der perfekte Nur-Körper

Der konstruierte Nur-Körper muss der perfekte Körper sein, die Figur des „besten Selbst“17. Der a-personale Körper wird damit hinten herum wieder zum sozialen Körper. Das überfordert den Menschen, wie es etwa in den Erwartungshaltungen von Klienten, die sich ästhetisch-chirurgischen Eingriffen unterwerfen, deutlich wird, die unter Druck stehen, sich (vor allem) über den Körper Anerkennung, Wertschätzung, Geliebt-Sein erkaufen zu müssen. Die Hoffnungen sind enorm, durch „Körperarbeit“ und „Körpertuning“ die Idealvorstellung zu erreichen und daran gekoppelt all das, was einem auf sozialer oder seelischer Ebene versagt geblieben ist. Doch die Hoffnung, dass allein ein Eingriff mit dem Skalpell das Leben verändert, bleibt Utopie;18 Ernüchterung und Enttäuschung folgen. Am Beispiel der sogenannten „Schönheitschirurgie“ wird dies besonders deutlich. Untersuchungen zeigen, dass Frauen, die sich aus kosmetischen Gründen Brustimplantate einsetzen ließen, ein erhöhtes Selbstmordrisiko haben.19 Hinter dem Wunsch nach einer Brustvergrößerung steckte häufig ein geringeres Selbstwertgefühl und Depressionen. Die Operation ist dann eine technische (Schein-)Lösung für ein nicht-körperliches Problem. Statt zufrieden über das Resultat des Eingriffs zu sein, wächst die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper – bis hin zu Verzweiflung und Selbstmord.

Die Medien spielen auf diesem Sektor eine große Rolle. Laut einer kanadischen Studie werben Frauen-Hochglanzmagazine für Brustvergrößerungen inmitten von Berichten über Mode und Schlankheitsdiäten als normale Form der Körperpflege.20 Immer wieder sei davon die Rede, dass ästhetische chirurgische Eingriffe als solche positive Auswirkungen auf das Körpergefühl hätten, ohne Berücksichtigung der präoperativen emotionalen Situation der Frauen. Zielgruppe der Artikel waren Frauen im Alter zwischen 19 und 34 Jahren. In den USA ist die Zahl der Schönheitsoperationen im Jahr 2007 um acht Prozent auf 1,5 Millionen Eingriffe angestiegen.

Ein anderes, zunehmend problematisches Feld, ist die steigende Zahl von Freizeitsportlern und Jugendlichen, die regelmäßig zu Doping-Mitteln greifen. Eine Studie unter französischen Jugendlichen ergab, dass von 3.500 über einen Zeitraum von vier Jahren befragten Schülern drei Prozent der 15-Jährigen regelmäßig Dopingmittel konsumierten.21 Knapp ein Viertel der befragten Jungsportler greift täglich zu verbotenen Substanzen. Der Zusammenhang zwischen Doping-Gebrauch und psychologischen Faktoren war offensichtlich: Wer dopte, hatte ein tendenziell geringeres Selbstwertgefühl und neigte eher zu Ängsten.

b) Der geschädigte Körper

Die Folgen derartiger Versuche körperlicher Perfektionierung sind nicht mehr zu übersehen; der Körper selbst scheint sich gegen die zunehmenden Zumutungen zu wehren. Gerade bei jungen Frauen kommt es vermehrt zu Selbstschädigungstendenzen wie Essstörungen, Sucht, Medikamentenmissbrauch oder auch Selbstverletzungen. Der Druck der Ansprüche und die verschiedensten Formen von Missbrauch des Leibes machen deutlich, dass Menschen nicht als Körperdinge verletzt sind. Sie selbst sind die Verletzten. Die erschreckende Zunahme von psychiatrischen Krankheitsbildern und Persönlichkeitsstörungen, die in ein selbstverletzendes Verhalten münden, ist dafür ein deutliches Signal: autoaggressives Verhalten bei traumatisierten Menschen, Borderline-Störungen (etwa durch Selbstverletzung durch Schnitte in die Haut, extrem häufiges Duschen eines als „schmutzigen“ empfundenen Körpers aufgrund von sexuellem Missbrauch usw.). Selbstverletzendes Verhalten ist dabei Ausdruck einer verletzten Leiblichkeit: Ein Teil wird geopfert, um das Ganze zu retten, wobei die Motive der gestörten Beziehung zum eigenen Körper komplex sind und sowohl die leibliche, emotionale, kognitive als auch existentielle Ebene betreffen. Primär ist nach Moldzio jedoch die Leiblichkeit gestört.22 Patienten verletzten sich selbst, um „sich selbst zu spüren“, „zu sich zu kommen“, sie haben ein unerträgliches Gefühl von Wut, Hass, Trauer, Angst und müssen den inneren Druck durch Selbstverletzung lösen. Der Körper wird häufig als nicht zugehörig und von ihrem übrigen Dasein abgespalten angesehen. Oder er wird als Projektionsfläche für alles Negative instrumentalisiert. Der Körper wird zum Objekt, damit kann er nicht mehr als Grundlage für eine gesunde Leiblichkeit dienen. Gestört ist dann nicht nur das Spüren am eigenen Leib mit allen fünf Sinnen, sondern auch die leibliche intersubjektive Kommunikation. Die leiblich-personale Kommunikation greift über das Subjekt hinaus, weshalb Moldzio selbstverletzendes Verhalten auch als Ausdruck einer „pathologischen leiblichen Kommunikation“ definiert. Wenn ein adäquates und förderliches Gegenüber fehlt, sei es im eigenleiblichen Spüren oder in der leiblichen Kommunikation mit einem Partner, wird als ultima ratio die eigene Leiblichkeit verletzt.23

3. Körperkult und Leibvergessenheit

Ein Blick auf die Konsumkultur zeigt an, wo wir heute stehen: Wir erleben simultan eine Körperfixierung und Leibvergessenheit, das Verschwinden des Leibhaftigen und die laute Inszenierung des Körpers. Der Körper soll ostentativ als Körper präsent sein. Das führt zu einem Paradoxon, das Böhme wie folgt beschreibt: „Man könnte ja glauben, dass die intensive Beschäftigung mit dem Körper und das Bemühen um Schönheit, gute Figur, Fitness, Leibbewusstsein zu einem Grundzug gegenwärtigen Lebensgefühls gemacht hätten. Das ist aber nicht der Fall, vielmehr ist die Aufmerksamkeit, die man dem Körper schenkt, ist der Kult um den Körper, geradezu eine Verlängerung und Verstärkung der Leibvergessenheit.“24

Greifen wir drei Bereiche heraus, in denen die Krise des Leibes kulturell und individuell manifest wird: 1. Der Körper ist oberste Sinn-Instanz und soll retten, 2. das Subjekt ist dann es selbst, wenn es schrankenlos autonom handelt, 3. die Medizin hat als Erfüllungsgehilfin der Kundenwünsche zu dienen – wo liegen die Grenzen der Machbarkeit ärztlichen Handelns?

3.1 Der Körper, die rettende Sinn-Instanz

Der Boom zum „gemachten Körper“ ist ein großes Geschäft: Medien, Wellness-Programme, Leistungssport und Life-Style-Medizin vermarkten den Körper und sind dabei, den Sinn des Daseins darauf zu zentrieren, dass man einen optimierten, unverwundbaren, leistungsorientierten Körper vorweisen kann. Körper-Styling dient dabei als primäres Medium der Selbstinszenierung. Aus dem schicksalhaften Körper ist der Körper als Option geworden.25 Man ist nicht mehr nur seines Glückes Schmied, sondern auch seines Körpers Schneider. In der Konsumkultur muss ich meinen Körper gestalten, muss ihn erst zu meinem machen (schön, fit, gesund, usw.). Unvollkommenheiten haben hier keinen Platz. Die Verheißungen pervertieren zur Bedrohung, die Verantwortlichkeiten wachsen: Wer krank, nicht schön genug ist, ist selbst schuld. Die Herstellung des perfekten Körpers ist zudem kostspielig: Die Industrie profitiert von der Fetischisierung eines Ideal-Körpers: Der perfekte Körper ist nämlich unerreichbar. Und gerade die Unerreichbarkeit garantiert immer neuen Konsum. Man muss aber nicht nur Geld investieren, sondern es geht mitunter auf Kosten der ganzen Person. Sie zerbrechen am Ideal des makellos, jugendlich strahlenden, angepassten Konsumkörpers, der als Garant von Selbstfindung und Identität verkauft wird. Der Körper wird zur Sinn-Instanz, die Rettung kommt aus dem Körper.26 Wer ihn hat (den braungebrannten, den gestrafften, den durchtrainierten, den belastungsfähigen Körper), der hat Sinn und Rettung, um durchzustehen, was sonst als ohnehin sinnlos empfunden wird.

Die obsessive Fixierung auf den Körper macht diesen zu einem Objekt des Zugriffs, verwandelt ihn in ein Produkt, in eine Ware. Sie vermittelt dem Subjekt das Gefühl, eine gewisse Kontrolle ausüben zu können. Statt der verheißenen selbstbestimmten, selbstkontrollierten Identität tappt man jedoch in die Falle, sich selbst ständiger Fremdkontrolle zu unterwerfen (Diäten, Stoppuhren, Pulsmesser, Kalorienzähler, Schönheitsidealen usw.). Um jemand zu sein, muss man eben diesen Körper haben (im Sinne des Verfügens). Um ihn zu besitzen, sich seiner zu bemächtigen, muss man bereit sein, sich zu opfern. Das ist das Paradox des Körperwahns, in dem es uns letztlich selbst „an den Kragen“ geht. Der Körperkult nimmt dabei quasi-religiöse Züge an. Die neue „Askese“ ist allerdings wenig heiter (während christliche Askese heiter ist – oder eben nicht christlich).27

Der Körperkult ist außerdem seelenlos, wie etwa in der Body-Performance-Kunst. Wo nur noch der Körper und nichts als der Körper „Glück“ verheißt (durch sich aufschneiden, „reparieren“, mit technologischem Zubehör erweitern lassen usw.), weist dies tragische Züge auf. Prothetisch wird der Körper, der in der Cyberwelt ein verschwindendes Element ist, neu konstruiert und darin zur symbolischen Fläche für Identität. Moore spricht in diesem Zusammenhang von einer „tödlichen Umarmung“28 durch einen Körperkult, in der Individuen gefangen sind. In ihrem Wunsch nach Veränderung, nach dem perfekten Körper, der kein natürlicher Körper sein kann, klammern sich Menschen an ihrem Körper als quasi einzigem Identitätsmerkmal fest. Doch Identität ist beim Menschen nie nur leiblich bestimmt, sie transzendiert den Körper immer schon. Dazu hielt Draesner fest: „In einer Zeit, in der das Metaphysische immer flüchtiger wird, wird das greifbar Materielle umso lieber fetischisiert. Und als solches aufgeblasen zu einem pseudo-transzendenten Subjekt.“29 Treibt man dem Leib die Seele aus, bleibt der Körper als letzter Anker des Selbst übrig.30 Er muss dann für alles herhalten, was Sinn gibt, er muss retten. Doch er rettet nicht, auch wenn er gestrafft und gebräunt ist.

3.2 Das schrankenlos autonome Subjekt

Auf der anderen Seite wird suggeriert, dass der Mensch sich nur dort verwirkliche, wo er sich als autonomes Subjekt seinen Leib „rational“ untertan macht. Das Autonomieprinzip besteht darin, den Leib zurückzudrängen, sich von ihm wegzuarbeiten oder ihn überhaupt virtuell aufzulösen. Er darf keine Grenzen setzen bei der Konstruktion des autonomen Subjekts, des Individuums, das seine Identität selbst entwirft. Nicht selten endet diese Form der „Selbstmanipulation“ in einer Art Selbstausbeutung. Der Mensch wird taub gegenüber seiner Natur, seinen eigenen grundlegenden leiblichen Bedürfnissen, er „hört nicht auf seinen Körper“ – und auch nicht auf andere oder auf seine Umwelt. Alles hat sich seinen – selbst gesetzten Zwecken – unterzuordnen. Das grenzenlos autonome Subjekt hat seinen Leib nach Böhme nur noch äußerlich. Die Natur darf unter dieser Perspektive keinen Eigensinn oder Eigenwert besitzen – das wäre Begrenzung, Fixierung, Einengung.

Die Euphorie der schier grenzenlosen Manipulierbarkeit des Körpers, die dazu dient, lästige Spuren von Vergänglichkeit, Hinfälligkeit und leiblicher Begrenztheit zum Verschwinden zu bringen, lässt den Leib permanent als Störfaktor erleben. Alles Tun konzentriert sich darauf, das leibliche Eigenleben in den Griff zu bekommen und seine Grenzen zu sprengen – im Geschwindigkeitsrausch, in der Überwindung der Schwerkraft (z. B. Bungee-Jumping), in der kognitiven Leistungssteigerung (Neuro-Enhancement), in dem man Wunsch-Merkmale durch gentechnische Manipulation herstellt, leibliche Spuren der Zeitlichkeit auslöscht und ewige Jugend, Schönheit herstellt anhand digitaler, medial aufdiktierter Idealbilder (Schönheits-OP), in dem Kinder nicht als Gabe, sondern als Habe (künstliche Befruchtung) produziert oder negiert (Abtreibung) werden; in der Generativität als Bedrohung der Autonomie empfunden und deshalb technisch bzw. durch Einnahme von Hormonen kontrolliert oder ausgeschaltet wird; in der die Umwandlung in ein anderes Geschlecht als Freiheit gefeiert und als medizinische Dienstleistung eingefordert wird.

Das Ergebnis dieses Anspruchs ist uns geläufig: Wenn wir über unser Maß leben und die Eigengesetzlichkeiten der Natur (in uns und um uns) nicht beachten, fallen diese wie ein Bumerang auf uns selbst zurück. Wir haben inzwischen gelernt, dass man nicht ungestraft Raubbau an der Natur, die uns umgibt, betreiben darf und sind zu Maßnahmen bereit (Meidung von Luftverschmutzung, Müllproduktion, Regenwaldrodungen, usw.). Doch im Umgang mit der Natur, die wir selber sind, sind die Koordinaten, die einen ganzheitlichen Umgang mit uns selbst ermöglichen, noch verrutscht. Um eine „Ökologie“ des Humanen zu betreiben, die wir als leiblich-geistig verfasste Personen brauchen, muss man die Frage nach dem Humanum selbst stellen. Körperfixierte Gesundheitsprogramme ohne tiefere Anthropologie bringen uns nicht aus der Sackgasse, in die uns der Raubbau am eigenen Leib geführt hat. Hier sind Ethik und Menschenbild gefragt.

Die Reduktion des Leibes auf einen a-personalen „Nur-Körper“ hat schädliche Folgen: Wir sind betroffen auf physiologischer Ebene, in dem sich krankhafte leibliche Symptome zeigen; aber auch auf Gesetzesebene in der Missachtung der Menschwürde und auf kultureller Ebene etwa im Konstrukt der postmodern fließenden Geschlechteridentität.

a) Menschenwürde und die Ehrfurcht vor dem Leib

Für die Frage der Menschenwürde hat dieses Konzept von „Leiblosigkeit“ des Subjekts dramatische Folgen: „Wenn der Leib nicht mehr hinreicht, die Achtung vor dem Menschsein einzufordern, ist jeder von einer Beliebigkeit bedroht, die jeweils ihre Argumente finden wird.“31 Der menschliche Leib genügt nicht mehr, damit sein Recht auf Leben gesichert ist. Stattdessen muss der Leib „geistige Eigenschaften“ wie Autonomie als Eigenschaft aufweisen (wie etwa bei Peter Singer), um als Person zu gelten und Würde zu besitzen. Die gefährliche Reduktion des menschlichen Leibes auf einen Nur-Körper, der zur Ver-Fügung anderer steht, wird hier deutlich. Wenn einige wenige festlegen und bestimmen, wer als menschliches Subjekt Achtung und Würde genießt, ist die Kehrseite klar: dass eine Mehrheit von Personen der Fremdbestimmung und Willkür einer Minderheit ausgeliefert ist. Aus medizinischer Sicht wird das Krankenhaus oder Pflegeheim damit ein bedrohlicher Ort für die Alten, wie es der Mutterleib jetzt für die Jungen ist. An technischen Entwicklungen wie der Embryonenforschung oder der künstlichen Befruchtung, die die Selektion und Vernichtung menschlichen Lebens für einen abstrakten Gesundheitsbegriff und „höhere Ziele“ mit einschließt, lässt sich unschwer erkennen, welche Gefahren dieses leiblose Würdekonzept in sich birgt.

Deshalb betont Thomas: „Es gibt also keine Wahl: Entweder gibt es eine unverfügbare Würde der Person, dann kommt sie jeder leiblichen Äußerung des Menschen in gleicher Weise zu wie den geistigen Äußerungen, auf deren Natur die Würde gründet. Dann ist sie in jedem Wesen zu achten, das uns mit einem menschlichen Leib begegnet – gleich welchen Alters oder welcher Behinderung. (…) Oder wir geben die Idee von der unantastbaren Menschenwürde auf.“32

b) Gender: Leiblose Geschlechterforschung

Ein anderes, aktuelles Feld akuter Leibvergessenheit liegt im konstruktivistischen Gender-Konzept. Menschliche Person zu sein, heißt, Frau oder Mann zu sein. „Wir sind Frauen, wir sind Männer“; und nicht: „Wir sind Menschen und haben einen Frauenkörper oder einen Männerkörper“. Genau diesem Gedanken verschließt sich der Konstruktivismus. Nichts ist Natur, alles ist Konstrukt. Damit wird Geschlechtlichkeit zu einer durch Sozialisation dem Leib aufgesetzte Eigenschaft, zum bloßen Accessoire, zu einer Rolle, die man an- oder ablegen kann. Das Ziel ist die Konstruktion eines geschlechtslosen Es, das autonom entscheidet, wann es wer oder was sein will. Doch es gibt keinen „abstrakten Leib“, dem später geschlechtliche Merkmale zugewiesen werden. Ja, der leiblich bedingte Geschlechtsunterschied von Mann und Frau ist nie nur ein rein biologisches Faktum. Er hat beim Menschen eine existentielle Bedeutung, die durch Erziehung und Kultur unterstützt oder zerstört werden kann. Die Einheit von Leib und Geist macht die menschliche Person aus, das biologische Geschlecht ist nicht wählbar. Das setzt voraus, dass man so etwas wie Natur überhaupt akzeptiert. Und daran scheitert die sozialkonstruktivistische Gender-Theorie. In ihr wird die »natürliche« Basis konsequent ausgeblendet.33

3.3 Machbarkeit und Medizin: Wenn der Leib nicht gut genug ist

In der modernen Medizin hat das Nur-Körper-Konzept des Menschen zunächst einen Schub an Erkenntnissen über den menschlichen Organismus erlaubt. Der Fortschritt der modernen Medizin verdankt sich eben dieser neuzeitlichen Trennung des Körpers vom personalen Selbst. Der menschliche Körper wurde damit auf neue Weise zum Objekt menschlicher Erkenntnis und wissenschaftlichen Interesses. Damit veränderte sich aber auch das Verständnis von Krankheit und Gesundheit. Krankheit gilt nun als „Fehler“ im „Körpersystem“, als Störfaktor. Die Rolle des Arztes ändert sich. Er wird zu einer Art Mechaniker, dem man sein Gestell zur Reparatur bringt. Krank ist nicht die Person, sondern der Körper. So mutiert Gesundheit zu einem herstellbaren Produkt, und der Körper wird planbar.

Die Schattenseiten dieser Entwicklung haben uns längst eingeholt: Statt Freiheit, wächst der Druck der Machbarkeit. Technik ersetzt Tugend. Der Leib wird instrumentalisiert, er wird zur Folie, um andere Zwecke zu erreichen, der Arzt mutiert zum Erfüllungsgehilfen des Patienten oder Kunden der Wunschmedizin. Diese widerspricht jedoch dem ärztlichen Ethos und der genuinen Aufgabe des Arztes.

Erstens: Auch der Arzt steht vor der Grenze des Verfügens über den Körper des anderen. In der Medizin hat das Verfügen-Können über den Körper seinen legitimen Platz. Denken wir an die Eingriffe, die notwendig sind, um einem kranken Menschen zu helfen, dass er wieder gesund werden kann, etwa durch eine Operation. Dieser Eingriff steht im Dienst der Gesundung eines Menschen, sonst wäre er als Körperverletzung strafbar. Gesundheit ist aber kein vom Menschen gesetzter Zweck, sondern ein von seiner leiblich-personalen Natur vorgegebener. Sie lässt sich nicht herstellen, höchstens wiederherstellen.

Davon unterscheiden sich Zwecke, die ausschließlich vom Menschen gesetzt und durch Eingriffe in den Leib hergestellt werden (Effizienz, Leistung, Attraktivität, usw.). Der Leib ist nicht gut genug. Die ganze Person muss sich dem unterordnen, wird funktionalisiert auf das Äußere hin, das käuflich, herstellbar ist. Diese Form der „Leibvergessenheit ist jedoch ethisch keineswegs irrelevant, wenn man bedenkt, dass sie eine Form verweigerter Selbstannahme ist.“34 Man macht den perfekten, idealen, wirklichkeitsfernen Körper. Wenn man ihn hat, so das Optimierungsprogramm, dann ist man perfekt, ideal. Wer jedoch solche Optimierungsprogramme propagiert, gibt nach Pöltner zu verstehen, dass er nicht nur sich, sondern auch die anderen für nicht gut genug hält.35

Daraus folgt zweitens, dass es nicht Aufgabe noch Verantwortung des Arztes sein kann, Gesundheit um jeden Preis oder gar das Lebensglück seines Patienten herzustellen, wie Lanzerath bemerkte. Da Gesundheit ein Gut, aber nicht das Gute schlechthin ist, befasst sich der Arzt „mit einem Teilbereich der Gelingensbedingungen, aber nicht mit dem Gelingen selbst, denn dafür trägt jeder eigenständig Verantwortung. Weder der individuelle Lebensentwurf noch das völlige soziale Wohlbefinden können ernsthaft Gegenstand ärztlichen Handelns sein.“36

4. Ausblicke auf eine Wiedergewinnung des Leibes

Seit die technische Entwicklung dem Menschen sozusagen auf den Leib gerückt ist, sind nach Böhme der moralische Umgang des Menschen mit sich selbst wie auch der gesellschaftliche Umgang mit Leib und Leben fraglich geworden. Leibsein versteht sich nicht mehr von selbst, es wird zur Aufgabe. Die positive Wiedergewinnung des eigenen Körpers als Leib (Gerl-Falkovitz37) ist zentral im Reifungsprozess des Individuums, aber auch für die Gemeinschaft, Gesellschaft und Kultur, in die der Einzelne eingebettet ist. Wie sich jemand zu seinem Leib verhält, prägt sein Verhältnis zu sich, zu den anderen und zur Welt. Wie sich Gemeinschaft und Gesellschaft zur Leiblichkeit verhalten, ist mitbestimmend für die Selbsterfahrung des Individuums.

Im Folgenden sollen Dimensionen des Leibes skizziert werden, die uns helfen, ihn als das wiederzugewinnen, was er ist: Der Leib ist inkarnierte Identität, die Rolle der Leidenschaften ist positiv, der Leib ist die Bedingung personaler Kommunikation und er ist unmittelbarer Ausdruck unseres sozialen Wesens. Die darin eingeschlossene positive Abhängigkeit von anderen ist ein wichtiger, in der Praxis der Medizin noch zu wenig beachteter Aspekt.

4.1 Leib als inkarnierte Identität

Der Mensch ist als Lebewesen ein „Leib“wesen. Der menschliche Körper ist nicht etwas, sondern er verkörpert jemanden. Freilich kann man auch den Leib zum Objekt machen, die Vergegenständlichung ist manchmal unumgänglich. Doch sie ist nicht die ursprüngliche Erfahrung. Ursprünglich ist der Leib die unmittelbare Gegenwart meiner oder einer Person (oder als Leichnam jemandes, der gewesen ist). Daraus lässt sich schließen: Die Identität des Menschen, sein Selbstsein als Garant der Fortdauer des Individuums, ist weder isoliertes Produkt des Geistes (Konstruktion) noch isoliertes Produkt des Körpers (Gehirn). Die Identität des Menschen, sein Selbstsein, ist personal, leiblich-geistig verfasst.

Viele Begriffe wurden zum Ausdruck des Verhältnisses von Leib und Seele gebraucht: Der Leib sei Ausdruck, Erscheinung, Verwirklichung, Folie, Außenseite der „Innenseite“, genannt Geist, Seele. Guardini definiert das ontologische Verhältnis von Leib und Seele, die die Identität der menschlichen Person konstituieren so: Der Leib sei die „Analogie der Seele“. Guardini greift dafür den Symbolbegriff auf (das eine erscheint als das andere) und folgert: „Das Symbolverhältnis schlechthin ist das von Leib und Seele. Der menschliche Leib ist die Analogie der Seele in der sichtbar-körperlichen Ordnung. Wollte man, was die Seele im Geistigen ist, körperlich-sichtbar ausdrücken, dann käme eben der Menschenleib zustande. Das meint letztlich die Formel: anima forma corporis. Im Leib übersetzt sich die Seele ins Körperliche als in ihr lebendiges Symbol.“38

Das also meint die klassische Formel: Das Wesen der Seele ist es, Form des Leibes zu sein. Der Mensch ist ein lebendiges oder verkörpertes Selbst.

Als Konstante – in allen Phasen des Lebens – bleibt mein Leib immer der je meinige. Er und ich sind untrennbar: „Mein Leib ist nicht meiner, weil ich ihn mir angeeignet habe, sondern weil ich mir selbst als Leib gegeben bin.“39 Er ist unhintergehbar mein Leib, auch wenn ich ihn manipuliere, verkleide, operiere, zur Unkenntlichkeit deformiere. Positiv ermöglicht er meine Identität als Gabe und Aufgabe.

Die menschliche Identität basiert auf primärer Selbsterschlossenheit: Denn die Erfahrung und das Wissen, dass man man selbst ist, geschieht nicht durch Rückschluss, dass man eben doch nicht jemand anderer ist. Als „lebende Körper“ (Jonas) verfügen wir über Kenntnis von innen her. Zugleich ist das Finden zu sich selbst und aus der eigenen Mitte heraus zu leben, authentisch zu sein, lebenslange Aufgabe, geprägt von der Spannung, Leib zu sein und Subjekt zu sein, von innerem und äußerem Menschen, von Offenheit und Grenze, von Sich-Selbst-Besitzen und Von-Sich-Selbst-Loslassen usw.

Viele Menschen klagen darüber, zu „kopflastig“ zu sein. Sie  sind mit ihrer eigenen leiblichen Verfasstheit unvertraut, sprechen dann von „blockiert sein“ oder konzentrieren sich auf ungesunde Weise auf die körperlich-biologische Dimension des Leibes (bei jedem Essen muss betont werden, dass die Kalorienwerte stimmen und es „gesund“ ist, eine Mußestunde muss gerechtfertigt werden, weil man dann „Stress abbaut“ etc.). Doch erst das Von-Sich-Loslassen, dem entsprechen, was der Leib mir als Medium eröffnet, ist Form personaler Offenheit. Es braucht diese positive Selbstvergessenheit, in der ich kraft Leibesvollzug ganz da und darin ich selbst sein kann. Der erstaunliche Nebeneffekt, wenn Leib ganz Medium wird, ist ja, dass er qua Körper nahezu entschwindet, was uns aus den hohen Erfahrungen der Kunst vertraut ist – die Finger, die über die Klaviatur laufen und das Stück zum Klingen bringen; der Körper, der in der Bewegung des Tanzes aufgeht –, aber auch aus alltäglichen Situationen wie etwa die Hand, mit der die Mutter dem Kind zärtlich über das Haar streicht usw. Je tiefer der geistige Ausdruck verleiblicht wird, desto weniger körperlich ist er. „Das Leibhafte wird immer gerade dann, wenn ein Mensch in besonders charakteristischer und höchster Weise menschlich existiert, auf eine eigentümliche Weise in vollkommene Unbeachtetheit entschwindet… In solch wahrhaft menschlichem Verhalten ist für den Handelnden selbst der Leib qua Leib-Körper überhaupt nicht mehr da.“ (Boss)40

4.2.Die positive Rolle der Leidenschaften

Es ist der ganze Mensch, der sich nicht bloß „ausdrückt“, sondern in einer Lebensbewegung aus sich herausgeht, artikuliert, öffnet. Dazu gehören auch Gefühle, Regungen und Stimmungen. Neben dem Loslassen ist das Einbringen eben dieser Faktoren in das menschliche Handeln und Erleben sehr wichtig. Sie liegen mehr auf der sinnenhafte Ebene, mit einer deutlich physischen Komponente (zum Beispiel Herzklopfen, rotes Gesicht, kalte Hände usw.), und sind nicht unmittelbar kontrollierbar. Unsere Physis „hat“ uns, wir sind von ihr betroffen und auch auf sie angewiesen, wie sich uns Welt zeigt und öffnet. Der Leib ist so auch Grenze der Autonomie! Wir sind nicht grenzenlos da. Wir sind angewiesene Subjekte, der Körper ist Symbol dieser Gebundenheit, auch des Nicht-Verfügbaren etwa im unmittelbaren Betroffensein durch Schmerz. So gesehen gibt uns der Körper auch in unserer Entwicklung eine Struktur vor, innerhalb derer wir uns als Menschen entfalten können.

Welche Rolle spielen in der Ethik und in ihrer Frage nach dem guten Handeln die leibdominanten Erfahrungen wie Leidenschaft, Gefühle oder Affekte?

Der negative Zugang zur Leiblichkeit hat im Laufe der Geschichte ein positives Konzept von Leib und damit der Rolle der Leidenschaften für das sittliche Handeln erschwert. Von hartnäckigen neo-platonischen Tendenzen ließen sich streckenweise auch christliche Denker beeinflussen. Die christliche Philosophie des 20. Jahrhunderts versuchte, das genuin christliche Leib- und Menschenverständnis zu rehabilitieren. Dazu zählt: Die Seele ist nur leibbezogen wahrhaft menschlich. Ohne die für das Gute eingesetzte Leidenschaft und das Gefühl kann man daher kein christlich (und damit menschlich) vollkommenes Leben leben,41 wenngleich klar ist, dass das nicht automatisch geht, wir auf Widerstand in uns gefasst sein müssen: Zum christlichen Menschenbild gehört die Überzeugung, dass wir es uns etwas kosten lassen müssen, wirklich das zu sein, was wir wesenhaft sind: sich selbst besitzende, freie sittliche Person.42

Für das Gute muss man mit „Leib und Seele“ einstehen, mit ganzer Person. Ohne die positive Kraft der Sinnlichkeit, der Gefühle und Affekte wäre dies nach christlichem Verständnis undenkbar. Pieper kritisiert, dass man in einer Art spiritualistischem Stoizismus praktisch das Moment des Leidenschaftlichen überhaupt, das stets körperlich mitbedingt ist, aus der christlichen Ethik als etwa Fremdes und mit ihr Unvereinbares ausgeschlossen hat. Thomas von Aquin hielt hingegen hellsichtig in seiner Lehre über die Tugenden fest, dass „überhaupt einer, der mit Leidenschaft das Gute tut, mehr zu loben ist als einer, der „nicht ganz“, nicht bis in die Kräfte des sinnlichen Bereiches hinein, für das Gute entflammt ist.“43 Dass dieser Gedanke überrascht, wertet Pieper als Beweis, wie sehr wir, uns selber kaum bewusst, „geneigt sind, das „rein Geistige“ für das eigentlich Menschliche zu halten; und wie sehr andererseits die „Alten“ uns gerade darin Lehrer zu sein vermögen, mit wirklichkeitsbejahendem Sinn das volle schöpfungshafte Wesen von Welt und Mensch zu umfangen“.44 Seit Kant ist eine Handlung moralisch gut, wenn sie aus reiner Pflicht getan wird, Leidenschaften seien „Krebsschäden für die reine praktische Vernunft“45. Die christliche Vision ist eine andere: „Nur die Liebe zähmt die Leidenschaften, ohne sie zu zerstören: Der Löwe muss Löwe bleiben und nicht Schaf werden!“46

4.3 Personale Kommunikation ist leibgebunden

Nicht nur die eigene Leibverfasstheit, auch die Umwelt ist ein prägender Faktor der personalen Entwicklung. Es gibt Umfelder, die uns in unserer menschlichen Entwicklung fördern, und solche, die ihr hinderlich sind. Deshalb soll hier noch kurz auf die Rolle des Leibes für die menschliche Kommunikation eingegangen werden im Zusammenhang mit dem Problem der exzessiven Nutzung elektronischer Medien.

Wir sind uns selbst in unserer Leiblichkeit gegeben, der Andere ist uns ebenfalls gegeben, aber er ist zunächst der Fremde, bis wir durch vertieften Umgang, Zeit, Widmung, einander „selbst“ kennenlernen. Die ursprüngliche Erfahrung des Anderen als Mitmensch ist zwar leibhaftig gegeben und vermittelt – dazu gehören Stimme, Hand, Blick, Berührung usw. Wenn wir vom Begegnenden völlig in Anspruch genommen sind, dann schwindet aber auch da, wie schon vorhin dargelegt, das Körperliche und wir begegnen einander. Im liebenden Miteinandersein ist das Problem der Fremdwahrnehmung aufgehoben.47

Nun könnte man meinen, dass diese Entkörperlichung auf exemplarisch positive Weise durch den Gebrauch der neuen Medien direkt erreichbar sei. In der virtuellen Kommunikation ist der Leib verschwunden und durch den Bildschirm ersetzt, keine Stimme ist mehr nötig, um Botschaften zu senden, die Handschrift als letzte Spur von Leiblichkeit wird ersetzt durch mechanisches Eintippen von Zeichen. Sind das nicht die besten Voraussetzungen, um schneller zum Kern der Person vorzudringen?

Die Erfahrung zeigt uns ein anderes Bild: „Netzgespenster“, „Problem-Knechte“, „Verstandesruinen“ und „Medien-Zombies“ in plappernder Sprachnot, so beschreibt Botho Strauß die Oberflächlichkeit der Informations- und Mediengesellschaft.48 Das Surrogat der Kommunikation per Internet wird zur Primärerfahrung menschlicher Kommunikation. Vereinsamte, isolierte Ichlinge sitzen vor dem Computer, tauchen in virtuelle Welten, schließen 200 und mehr virtuelle Freundschaften, ohne je einander begegnet zu sein, und schlüpfen in einem „Second Life“ von einer (auch geschlechtlichen) Identität in die andere. Seelisch und emotional verarmt wissen sie auch nichts mehr mit ihrer eigenen Leiblichkeit anzufangen. Die Erfahrung mit echten Personen wird zweitrangig, ebenso der Umgang mit der realen Welt.

Das hat Konsequenzen für die eigene Identität und Leiberfahrung, der ihr eigentlicher Raum, die „echte“ Wirklichkeit, vorenthalten wird. Zahlreiche Studien befassen sich inzwischen mit diesem Thema. So zeigte eine Untersuchung an exzessiv computerspielenden Kindern, dass ihre Impulskontrolle und Konzentrationsfähigkeit im Unterricht signifikant im Vergleich zu ihren Mitschülern gestört war, ihnen Bewältigungsstrategien bei negativen Gefühlen fehlten und ihre nächtliche Schlafdauer geringer waren.49 Der Überschuss an visuellen und akustischen, elektronisch vermittelten Informationen stimuliert die emotionalen und motorischen Sinnesbereiche zu wenig, woraus die Autoren auf erhebliche Risiken für die spontanen und alle Sinne ansprechenden Aneignungsprozesse der sozialen und der natürlichen Umwelt schließen.

Wir brauchen also eine Kommunikation, die der Person gerecht wird, ihr angemessen, menschlich ist. Diese ist gebunden an die Leibhaftigkeit eines personalen Gegenübers – und nicht bloß an den Kontakt mit technischen Dingen oder Körperdingen. Menschliche Kommunikation ermöglicht die positive Annahme unserer Selbst und der anderen, stärkt das Selbstvertrauen und legt Möglichkeiten frei, über sich selbst hinauszuwachsen, offen zu werden für die Umgebung und die anderen. Wäre das eingangs erwähnte Tanzprojekt etwa als virtuelle Performance konzipiert worden, in der kein Kontakt mit der eigenen Leiblichkeit oder jener der anderen vorgesehen gewesen wäre, oder wären die Tänzer voneinander abgeschirmt nur mit dem Hantieren von Tanzpuppen beschäftigt gewesen, wären diese Erfahrungen nicht möglich geworden: die Erfahrung des Leibes als personale Offenheit und Selbstbesitz. Wo diese Erfahrung fehlt, kann es auch zu keiner tiefen, menschlichen Begegnung kommen.

4.4 Die soziale Dimension des Leibes und das Leitbild der Medizin

Paradoxerweise werden das Leben des Menschen und seine Umgebung weniger menschlich, weniger rational in dem Maß, in dem wir nur auf die Rationalität achten. Hätten wir keinen Leib, würden wir keine grundlegenden Bedürfnisse spüren. Doch die Art, wie wir diese Bedürfnisse fühlen bzw. die Weise, wie wir sie befriedigen, sind nicht einfach materiell oder instinktiv. Beim Menschen sind Essen und Trinken, Ankleiden und Wohnen Tätigkeiten, an denen auch die Vernunft Anteil hat. Unsere Körperlichkeit, unsere Gebrechlichkeit, unsere Verletzlichkeit sind nichts Negatives oder Zweitrangiges. Sie sind Quelle für Kultur und auch Gelegenheit, die notwendigen Gewohnheiten und Tugenden für das tägliche Zusammenleben zu erwerben.50 Entspricht dieser Bedürftigkeit des Menschen, als Mit-Mensch zu leben, angenommen zu sein, kein adäquates soziales Umfeld, wird er in die Isolation gedrängt. Das hat Folgen für Leib und Leben, weshalb die Medizin diesem Beziehungsfeld vermehrte Aufmerksamkeit widmet.

So zeigen Untersuchungen, dass ältere Menschen, die sich einsam und verlassen fühlen, mehr als doppelt so häufig an einer Alzheimer-Demenz erkranken wie gesellige Menschen.51 Die soziale Umgebung wirkt positiv stimulierend: Wie sehr sich ein abstinentes Umfeld auswirkt, wenn Raucher aufhören wollen, zeigte eine weitere Studie.52 Demnach hängen Raucher stark von sozialen Netzwerken ab. Wer einen Abstinenzversuch beim Rauchen startet und erfolgreich sein will, sollte zunächst einmal seinen Bekanntenkreis analysieren. So steigen die Entwöhnungserfolge signifikant an, wenn es jemand im sozialen Umfeld geschafft hatte.

Die Einbettung eines elementaren Bedürfnisses wie Nahrungsaufnahme in den entsprechenden sozialen Kontext (in die Kultur der gemeinsamen Mahlzeit) schützt vor einer Verselbständigung des Leibes als Körper. In einer Langzeitstudie stellte man signifikant weniger Essstörungen bei weiblichen Teenagern fest, wenn diese sich zu fünf oder mehr Mahlzeiten pro Woche gemeinsam mit der Familie getroffen hatten. Regelmäßige gemeinsame Mahlzeiten in der Familie werden deshalb zu den protektiven Faktoren gezählt, um junge Mädchen vor Essstörungen und übertriebener Sorge um das eigene Gewicht zu bewahren.53 Die soziale Dimension des Menschen, die an seine leibliche Dimension gebunden ist, muss also wieder an Bord geholt werden – auch wenn wir über Krankheit, Lifestyle und Gesundheit sprechen.

5. Schluss

Die leibliche Dimensionen unserer Natur lassen uns ein wichtiges Charakteristikum des Menschlichen erkennen: Wir sind abhängig und brauchen die Fürsorge der anderen. Unsere Autonomie ist relativ: Wir haben Grenzen, was an sich nichts Negatives ist. Die second wave des Feminismus und ihre Thesen über care giving haben diesen Aspekt neu entdeckt: Der Kontakt mit dem Leiden, die Krankheit und der Schmerz helfen uns, besser zu verstehen, was das Menschliche ist. Oder, mit Worten von Benedikt XVI. in der Enzyklika Spe salvi: „Das Maß der Humanität bestimmt sich ganz wesentlich im Verhältnis zum Leid und zum Leidenden.“54 Angesichts der genannten Entwicklungen ist klar, dass die Medizin ihr anthropologisches Leitbild des gesunden Körpers/Menschen in Frage stellen muss und sich auf ihr eigentliches Ethos zurückbesinnen muss: dem krank gewordenen Menschen in seiner psycho-physischen Einheit lindernd und helfend beizustehen. Nur ein Menschenbild, das Kranksein und Krankwerden in die grundsätzliche Annahme des Selbstseins miteinschließt, ist human. Krankheit ist nur dann ein Störfall des Systems, wenn der gesunde, autonome, souveräne Mensch zum Leitbild gemacht wird. Die Medizin ist dazu aufgerufen, ein Menschenbild zu vermitteln, in dem die Abhängigkeit, Hilfsbedürftigkeit und Angewiesenheit des Menschen als eigentlich konstitutive Merkmale betrachtet werden.55

Referenzen

  1. Böhme G., Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Die Graue Edition, Kusterdingen (2003), S. 29
  2. „Es gibt verschiedene Zugangsweisen zu einer Philosophie des Tanzes, ich glaube aber, dass alle diese philosophischen Richtungen etwas Gemeinsames haben, sie thematisieren jene Bereiche, die Descartes mit seiner radikalen Trennung zwischen Denken und Körper, aus dem Denken ausblendete: das Erleben, Intersubjektivität, Sein in der Welt und Verkörperung vom Geistigen.“ Alarcón M., Einführung in die Philosophie des Tanzes, in: Fischer M., Alarcón M. (Hrsg.), Philosophie des Tanzes: Denkfestival – eine interdisziplinäre Reflexion des Tanzes, Fördergemeinschaft wissenschaftlicher Publikationen von Frauen e. V., Freiburg/Breisgau (2006), S. 11
  3. Gahlings U., Die Wiederentdeckung des Leibes in der Phänomenologie, Information Philosophie 2/2008, S. 36
  4. Böhme G., Ethik leiblicher Existenz. Über den moralischen Umgang mit der eigenen Natur, Suhrkamp, Frankfurt/Main (2008), S. 119
  5. Böhme G., siehe Ref. 1, S. 29
  6. Böhme G., siehe Ref. 4, S. 131
  7. Böhme G., siehe Ref. 4, S. 119
  8. Gahlings U., siehe Ref. 3, S. 38 ff.
  9. vgl. dazu Westerhorstmann K., Bestimmung und Berufung der Frau nach Edith Stein, Imago Hominis (2006); 13: 123-135
  10. vgl. Pöltner G., Grundkurs Medizin-Ethik, Facultas, Wien (2002), S. 70
  11. Pöltner G., siehe Ref. 10, S. 74
  12. Pöltner G., Sorge um den Leib – Verfügen über den Körper, Zschr Med Ethik (2008); 54: 3-11, S. 7
  13. vgl. Prat E. H., Körpervergessenheit: warum sich Männer zu Tode rauchen. Eine kulturkritische Betrachtung, in: Bundesministerium für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz, Psychosoziale und ethische Aspekte der Männergesundheit, BMSGK, Wien (2004)
  14. Pöltner G., siehe Ref. 12, S. 7
  15. vgl. Kummer S., Gender – Quo vadis?, in: Bundesministerium für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz, Geschlechtertheorie, BMSG, Wien (2003), S. 67-79
  16. Wucherer-Huldenfeld K. A., Vorlesungsskriptum Philosophische Anthropologie II, Universität Wien, S. 120
  17. Rittner V., Krankheit und Gesundheit. Veränderung in der sozialen Wahrnehmung des Körpers, in: Kamper D., Wulf C. (Hrsg.), Die Wiederkehr des Körpers, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1982), S. 41
  18. Vgl. Piza-Katzer H., Kummer S., Schönheitschirurgie am ethischen Prüfstand, Imago Hominis (2007); 14: 297-306
  19. Brisson J., Latulippe L. et al., Mortality among Canadian Women with Cosmetic Breast Implants, Am J Epidemiol (2006); 164: 334-341
  20. Polonijo A. N., Carpiano R. M., Representations of Cosmetic Surgery and Emotional Health in Women’s Magazines in Canada, Women’s Health Issues (2008); 18: 463-470
  21. Laure P., Binsinger C., Doping prevalence among preadolescents athletes. A four-year follow-up, Br J Sports Med (2007); 41: 660-663
  22. vgl. Moldzio A., Verletzte Leiblichkeit, Gesellschaft für Neue Phänomenologie e. V., S. 1-12, http://www.gnp-online.de/fileadmin/media/Moldzio_Leiblichkeit.pdf
  23. Moldzio A., siehe Ref. 22, S. 10
  24. Böhme G., siehe Ref. 1, S. 120
  25. Draesner U., Das fiktive Alphabet – Spekulationen ins Unsichtbare, in: Ausfeld-Hafter B. (Hrsg.), Der hippokratische Eid und die heutige Medizin, Peter Lang, Frankfurt/Main (2003), S. 59
  26. Rittner V., siehe Ref. 17, S. 48
  27. vgl. Lütz M., Erhebet die Herzen, beuget die Knie. Gesundheit als Religion: Vorsorge, Enthaltsamkeit, Sport – das ist die neue Dreifaltigkeit. Ein Gotteslästerer, der dies bezweifelt, Die Zeit, 17. 04. 2008 Nr. 17, http://www.zeit.de/2008/17/Gesundheitswahn
  28. Moore H. L., Was ist eigentlich mit Frauen und Männern passiert?, in: Davis-Sulikowski U., Körper, Religion, Macht, Campus, Frankfurt/Main (2001), S. 413
  29. Draesner U., siehe Ref. 25, S. 68
  30. vgl. Kummer S., Das Unbehagen in der Gleichheit. Auswege aus der Gender-Sackgasse, Imago Hominis (2006); 13: 105-122
  31. Thomas H., Leiblichkeit: Ehrfurcht vor dem Leib oder Furcht vor der Medizin, in: Thomas H., Menschlichkeit in der Medizin, Busse+Seewald, Herford (1993), S. 86
  32. Thomas H., siehe Ref. 31, S. 85 f.
  33. vgl. Kummer S., Das geschlechtslose Es oder: Zweifel am leibfernen Ideal der Gleichheit als politischem Konstrukt, in: Gruner P.-H., Kuhla E. (Hrsg.), Befreiungsbewegung für Männer. Auf dem Weg zur Geschlechterdemokratie. Essays und Analysen, Psychosozial-Verlag, Gießen (2009), S. 111-133
  34. Pöltner G., siehe Ref. 12, S. 10
  35. Pöltner G., siehe Ref. 12, S. 10
  36. Lanzerath D., Krankheitsbegriff, Anthropotechnik und die Grenzen ärztlichen Handelns, in: Maio G., Clausen J., Müller O. (Hrsg.), Mensch ohne Maß? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizinischen Ethik, Alber, Freiburg/Breisgau (2008), S. 157
  37. Gerl H.-B., Liebe und Geschlechtlichkeit. Herausforderung an die Einheit der Person, in: Gerl H.-B., von Koch J. F., von Heereman M., Person. Ehe. Geschlechtlichkeit. Anthropologische Grundlagen der Ehemoral (Reihe „Sinn und Sendung“, Band 3), EOS, St. Ottilien (1990), S. 17
  38. Guardini R., Liturgie und liturgische Bildung, Paderborn, Mainz (1992), S. 35
  39. Böhme G., siehe Ref. 4, S. 160
  40. Boss M., Grundriß der Medizin und der Psychologie, 2. Auflage, Huber, Bern (1975), S. 273, zit. nach Pöltner G., siehe Ref. 10, S. 74
  41. Christlich vollkommen heißt: das Menschsein in seiner Höchstform als Kind Gottes zum Blühen bringen.
  42. Pieper J., Über die Tugenden. Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß, Kösel, München (2004), S. 226
  43. Pieper J., siehe Ref. 42, S. 240
  44. Pieper J., siehe Ref. 42, S. 241
  45. Kant I., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), in: Weischedel W. (Hrsg.), Werke in 12 Bänden, Band 12, Frankfurt/Main (1977), S. 395-690, § 81
  46. Torelló J. B., Medizin, Krankheit und Sünde, Arzt und Christ (1965); 1(2): 65-83, S. 69
  47. vgl. Wucherer-Huldenfeld K. A., siehe Ref. 16, S. 127 ff.
  48. Strauß B., Das Partikular, Carl Hanser, München (2000)
  49. Grüsser S. M., Thalemann R., Albrecht U., Thalemann C. N., Exzessive Computernutzung im Kindesalter – Ergebnisse einer psychometrischen Erhebung, Wiener Klein Woschr (2005); 117(5-6): 188-195, www.infoset.ch/de/Dokumente/2008_04_Computerspielen_online.pdf
  50. vgl. Chirinos M. P., Antropologia della dipendenza: il lavoro e la costituzione dell’essere umano, Acta Philosophica (2007); 16: 195-212
  51. Wilson R. S. et al., Loneliness and Risk of Alzheimer Disease, Arch Gen Psychiatr (2007); 64(2): 234-240
  52. Christakis N. A. et al., The Collective Dynamics of Smoking in a Large Social Network, N Engl J Med (2008); 358: 2249-2258
  53. Neumark-Sztainer D. et al., Family Meals and Disordered Eating in Adolescents. Longitudinal Findings From Project EAT, Arch Pediatr Adolesc Med (2008);162(1): 17-22
  54. Benedikt XVI., Enzyklika Spe Salvi, Vatikan (2007), Nr. 38, http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/encyclicals/documents/hf_ben-xvi_enc_20071130_spe-salvi_ge.html
  55. vgl. Maio G., Medizin und Menschenbild, eine Kritik anthropologischer Leitbilder in der modernen Medizin, in: Maio G., Clausen J., Müller O. (Hrsg.), Mensch ohne Maß? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizinischen Ethik, Karl Alber, Freiburg/Breisgau (2008), S. 226

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