Euthanasie auf dem Vormarsch? Palliativmediziner warnen vor „Dammbruch“

Imago Hominis (2009); 16(2): 96-97
Petra Mihály

Mehr Selbstbestimmung für Patienten, mehr Transparenz und Kontrolle, weniger illegale Sterbehilfe: So lauten die Verheißungen, die Vertreter der Euthanasie-Lobby vorbringen, wenn es darum geht, den so genannten „ärztlich assistierten Suizid“ oder das „Töten auf Verlangen“ in einer Gesellschaft salonfähig zu machen. Dazu kommt, dass die westliche Gesellschaft immer älter wird. Die Lebenserwartung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark erhöht, gleichzeitig wird die Zahl der pflegebedürftigen alten Menschen immer größer.

Von 7. bis 10. Mai 2009 fand der 11. Kongress der Europäischen Gesellschaft für Palliativmedizin und -pflege (EAPC) statt, diesmal in Wien. Und es tat gut, dass sich führende Mediziner dabei dezidiert gegen Bestrebungen aussprachen, die Problematik der immer höheren Zahl pflegebedürftiger Menschen auf andere Weise zu „lösen“ – nämlich durch Euthanasie. Lukas Radbruch, Präsident der EAPC, warnte gar vor einem „Dammbruch“, sollte die aktive Sterbehilfe legalisiert werden. Medizinisches Töten ohne Einverständnis oder sogar gegen den Willen eines Patienten könnte damit irgendwann akzeptabel werden, betonte er.

Ist diese Sorge unbegründet? Befürworter der Sterbehilfe streichen ja in ihrer Argumentation den „freien Willen“ der Suizidwilligen hervor und betonen, Euthanasie müsse als Akt der Autonomie des Individuums von der Gesellschaft respektiert und von Medizinern unterstützt werden. Doch wie schnell ein „Töten auf Verlangen“ zu einem „Töten ohne Verlangen“ werden kann, zeigte der deutsche Wissenschaftsjournalist Stefan Rehder in seinem neuesten Buch „Die Todesengel. Euthanasie auf dem Vormarsch“1 mit erschreckender Deutlichkeit. Zwar werde in Ländern wie Holland oder Belgien von Intellektuellen die „totale Autonomie des Individuums“ gefeiert, doch „so fremdbestimmt waren wir noch nie“, kritisierte Rehder, der am 5. Mai 2009 auf Einladung von IMABE im Wiener Bioethikclub sprach.

Laut einer Regierungsstudie würden in den Niederlanden nur 54 Prozent aller Fälle aktiver Sterbehilfe überhaupt gemeldet. Mehrere anonyme Umfragen unter niederländischen Ärzten hätten überdies ergeben, dass diese in 25 Prozent der Fälle aktive Sterbehilfe an Patienten leisteten, die gar nicht dezidiert darum gebeten hatten. Dies zeigt nach Rehder, dass Mediziner, denen die Rolle des „Sterbehelfers“ zugewiesen wurde, sich bald selbst als Herren über Leben und Tod der Patienten zu sehen beginnen. In der Studie gaben Mediziner an, wegen der ihrer Meinung nach „geringen Lebensqualität“ oder „unerträglicher Leiden“ aus eigenem Entschluss zur Todesspritze greifen zu müssen – ohne Wunsch des Patienten.

Die Gesetzgebung in Belgien aus dem Jahr 2002 habe, so Rehder, einen „perfiden“ Zusatz: Dort müsse der Tod eines Patienten durch die Hand eines Arztes statistisch als „natürlicher Tod“ gezählt werden: „Das wäre ja so, als ob jeder gemeldete Diebstahl im Nachhinein als Einkauf zu gelten habe“, kritisierte der Bioethik-Experte. Dass der käufliche Tod ein gutes Geschäft ist, zeigt die umstrittene Sterbehilfe-Organisation Dignitas in der Schweiz: Für „Todesengel“ muss man rund 6.400 Euro auf den Tisch legen. Transparenz der finanziellen Gebarung des Vereins gibt es bis heute keine.

Der Publizist erinnert in diesem Zusammenhang an ein prophetisches Zitat des Arztes und Freimaurers Christoph Wilhelm Hufeland (1762 – 1836): „[Der Arzt] soll und darf nichts anderes thun, als Leben erhalten; ob es ein Glück oder ein Unglück sey, ob es Wert habe oder nicht, dies geht ihn nichts an. Und maßt er sich an, diese Rücksicht in sein Geschäft aufzunehmen, so sind die Folgen unabsehbar, und der Arzt wird der gefährlichste Mensch im Staat.“

Ideologisch basiert die Sterbehilfe-Bewegung auf der Behauptung, der Suizid – gerne auch „Freitod“ genannt – sei der ultimative freie Akt des Menschen. Rehder zeigt mit Verweis auf die philosophische Tradition jedoch auf, dass nur ein lebendes menschliches Subjekt frei sein kann, und somit die Vernichtung des Subjekts auch zwangsläufig das Ende seiner Freiheit bedeutet.

Die psychologische Forschung der vergangenen Jahrzehnte hat mittlerweile klar herausgestellt, dass Suizidgefährdete gar nicht dem Leben, sondern vielmehr dem Leiden entrinnen wollen. Diese Erkenntnisse bestätigt auch eine neue österreichische Studie, die auf dem Palliativmedizin-Kongress in Wien präsentiert wurde. Dabei hatten von 778 befragten Palliativpatienten im Wiener Wilhelminenspital nur zwei von sich aus den Wunsch nach Euthanasie geäußert. „Als sie gesehen haben, was Palliativmedizin leistet, verschwand auch dieser Wunsch“, fügte Kongresspräsident Hans-Georg Kress von der Medizinischen Universität Wien hinzu.

Für Palliativmediziner, die sich tagtäglich mit schwerkranken Menschen beschäftigen, ist klar, dass derartige Wünsche in Wahrheit nicht eine Todessehnsucht, sondern einen Hilferuf bedeuten: „Die Frage dieser Patienten ist dann in der Regel ein Hilferuf um Verständnis und der Ausruf ‚Ich will so nicht mehr leben’ und nicht ‚Ich will nicht mehr leben’“, unterstrich Radebruch. Dahinter stünden etwa „die Angst, Autonomie zu verlieren oder jemandem zur Last zu fallen, die Angst vor Schmerzen oder die Angst, die eigene Würde zu verlieren. Diesen Ängsten können wir mit guter Palliativbetreuung begegnen“.

Nichtsdestotrotz ist der politische Kampf um die Legalisierung der Euthanasie in Europa bereits voll entbrannt: Während Luxemburg im Dezember 2008 nach den Niederlanden und Belgien die aktive Sterbehilfe gesetzlich zuließ, setzen sich diverse Sterbehilfegesellschaften in vielen Ländern mit großem Elan für den „selbstgewählten Tod“ ein. Spektakuläre Einzelfälle, wie zuletzt jene der Komapatientin Eluana Englaro in Italien, werden gezielt medial genutzt, um die Akzeptanz der Euthanasie zu erhöhen – selbst in Fällen, wo, wie bei Englaro, der Patient gar nicht mehr selbst über Leben oder Tod entscheiden kann.

Noch ist es nicht ausgesprochen, aber der Zusammenhang wird zunehmend klarer: Hinter den verführerischen Argumenten eines selbst bestimmten und schmerzfreien Todes stehen auch handfeste Interessen, nämlich ein kostensparendes „sozialverträgliches Frühableben“ von alten und kranken Menschen gesellschaftlich akzeptabel zu machen, damit sie einer immer älter werdenden Gesellschaft mit wenig Nachwuchs nicht zur Last fallen. Die Angst vieler Menschen vor einem „übertechnisierten“ Sterben im unpersönlichen, kalten Ambiente einer Intensivstation und die Tabuisierung von Leiden, Sterben und Tod im Alltag spielten diesen Bestrebungen leider oftmals in die Hände.

Dabei wären solche Sorgen eigentlich unbegründet: Denn dank Palliativmedizin und Hospizbewegung ist ein wirklich menschenwürdiges, „sanftes“ und geborgenes Sterben bereits heute möglich. Wie Rehder unterstreicht, muss sogar das der Weg der Zukunft sein, damit die Euthanasie sich nicht durchsetzen und schrittweise das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, Medizinern und Patienten vergiften kann. Das Diktum des Wiener Kardinals Franz König hat neue Brisanz gewonnen: „Menschen sollen an der Hand eines anderen Menschen sterben und nicht durch die Hand eines anderen Menschen.“

Referenzen

  1. Rehder S., Die Todesengel. Euthanasie auf dem Vormarsch, Sankt-Ulrich-Verlag, Augsburg (2009)

Anschrift der Autorin:

Dr. Petra Mihály, IMABE
Landstraßer Hauptstraße 4/13, 1030 Wien
postbox(at)imabe.org

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