EU-Parlament abgeblitzt: keine Embryonenselektion

Imago Hominis (2009); 16(2): 93-95
Jan Stejskal

Eine eugenische Monstrosität hätte in der Europäischen Union beinahe Fuß gefasst. Nun ist sie vorerst einmal vom Tisch. Konkret ging es um einen „Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Unterstützung von Patienten mit seltenen Krankheiten“. Dieser wurde Ende April 2009 vom Europäischen Parlament mit großer Mehrheit angenommen, obwohl der darin enthaltene Änderungsantrag des Berichterstatters Antonios Trakatellis massives Befremden ausgelöst und zu scharfen Protesten von Wissenschaftlern, Behindertenverbänden und Politikern geführt hatte. Darin empfahl das EU-Parlament im Kampf gegen seltene Krankheiten auch auf eine Embryonenselektion mittels der umstrittenen Präimplantationsdiagnostik (PID) zurückzugreifen und verwendete dabei Diktionen wie „Ausmerzung“ und „Selektion“ zur Förderung von „Gesundheit“.

Bei ihrem Treffen in Luxemburg Mitte Juni 2009 verzichteten die EU-Minister allerdings auf die umstrittene Empfehlung zur Embryonenselektion mit dem Ziel der „Ausmerzung“ seltener Krankheiten. Sie ließen das Thema PID beiseite, in ihrer Empfehlung kommt die zuvor scharf kritisierte Embryonenselektion nicht mehr vor. Der Ministerrat vereinbarte lediglich, im Hinblick auf seltene Krankheiten europaweit enger zusammenzuarbeiten.

Auch wenn der EU-Ministerrat nun vorerst die Reißleine gezogen und dem Parlamentsvorstoß eine Riegel vorgeschoben hat, darf man mit einer Dosis politischen Realismus davon ausgehen, dass das Thema früher oder später wieder aufs Tapet kommen wird. Deshalb lohnt es sich, die Empfehlung des (demokratisch gewählten) EU-Parlaments ein wenig näher unter die Lupe zu nehmen und entsprechende Schlüsse zu ziehen.

Macht Selektion gesünder?

In dem Text des Ausschusses für Umweltfragen, Volksgesundheit und Lebensmittelsicherheit heißt es wörtlich, dass den EU-Mitgliedstaaten nahe gelegt werden soll, „Bemühungen zu unterstützen, um seltene Erbkrankheiten zu verhindern, die schließlich zur Ausmerzung dieser seltenen Krankheiten führen werden“. Dies sollte „durch genetische Beratung der als Überträger der Krankheit fungierenden Eltern und gegebenenfalls und unbeschadet der bestehenden nationalen Rechtsvorschriften und stets auf Freiwilligkeit beruhend – durch die Auswahl gesunder Embryos vor der Implantation“ erfolgen. Nicht nur Kirchen, Behindertenverbände, die Christdemokraten und Grünen im Europäischen Parlament hatten sich gegen diesen Vorschlag gewandt, sondern auch die Europäische Gesellschaft für Humangenetik. Die Wissenschaftler erinnerten an den Eugenik-Wahn der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bei der man von „lebensunwertem Leben“ sprach. Auf die Unlogik des Vorschlags wies auch die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik hin: Zu meinen, man könne durch Selektion von kranken Menschen gesündere Menschen hervorbringen, sei ein wissenschaftlicher Irrglaube.

Behinderte: Menschen zweiter Klasse?

Die Forderung des EU-Parlaments muss in der Tat als skandalös bezeichnet werden. Erstens wird offensichtlich dadurch nicht nur das Ziel verfehlt, den Betroffenen zu helfen, sondern auch gleichzeitig erklärt, die künftige Existenz solcher Menschen sei nicht erwünscht. Statt therapeutischer Behandlung wird die Vernichtung der Embryonen angestrebt: Die englische Fassung des Änderungsvorschlags räumte diesbezüglich jegliche Zweideutigkeiten aus, indem unmissverständlich Ausdrücke wie „Eradication“ und „Selection“ verwendet wurden. Kinder mit Behinderung sollen also nicht geboren werden. Dies steht in eklatantem Widerspruch zur fundamentalen Achtung vor der Würde jedes Menschen, was Behindertenverbände massiv kritisiert haben. Dass solche Forderungen rasch zu Definitionen von „nicht lebenswertem Leben“ führen können, liegt auf der Hand. Menschen mit seltenen Erkrankungen bzw. Behinderung werden hier als Menschen zweiter Klasse betrachtet. Europa entfernt sich mit solchen Vorhaben davon, ein Vorbild für Zivilisation und Menschlichkeit zu sein. Es ist erschreckend, dass dem Gedankengut, welches zuletzt in die Ideologie des Dritten Reiches Eingang fand, auf solche Art und Weise eine demokratische Legitimation verschafft werden sollte.

Zweitens ist der Vorstoß, genetische Beratung und Präimplantationsdiagnose (PID) im Dienst staatlicher Präventionsprogramme einzusetzen, in Bezug auf Genese und Vererbung solcher Krankheiten wissenschaftlich unzureichend fundiert. Bekanntlich sind die Vererbungsvorgänge viel komplexer, um nur durch alleinige Selektion in Anbetracht der Mutationsvorgänge phänotypisch gesunde Nachkommen zu schaffen. Hinzu kommt, dass nicht alle der seltenen Erkrankungen auch tatsächlich vererbt werden, wovon jedoch die offiziellen Stellen nicht auszugehen scheinen und nicht zwischen seltenen Erkrankungen und genetischen Erbkrankheiten unterscheiden. Eine seltene Krankheit betrifft laut EU-Definition weniger als fünf von 10.000 Menschen. Laut Schätzungen gibt es zwischen 5.000 und 8.000 solcher Krankheiten, wobei viele von ihnen genetischen Ursprungs sind.

Sicherlich: Eine genetische Beratung kann im Einzelfall berechtigt sein. Nimmt sie jedoch die Form einer Routineanwendung an, würde sie große Unsicherheit verursachen, da man in manchen Fällen nur von einer Wahrscheinlichkeit für eine Prädisposition sprechen kann. Zwischen den Zeilen ist klar, worauf der Antrag eigentlich hinaus wollte. Hier versuchte eine Lobby europaweit den Zugang zur PID zu fordern und ihre Anwendung zu legalisieren. Das Thema wird innerhalb der EU unterschiedlich behandelt. Nach wie vor ist das Ausselektieren von Embryonen im Reagenzglas in Österreich, Deutschland und Irland verboten. Es ist jedoch vorherzusehen, dass auf diese Länder Druck gemacht werden soll, die PID zu legalisieren.

Künstliche Befruchtung als flächendeckendes Präventionsprogramm?

Zu den Lobbyisten für eine Legalisierung der PID gehört die Europäische Gesellschaft für Reproduktionsmedizin und Embryologie (ESHRE). Ein Blick auf die dort vorgetragenen Positionen zeigt die Handschrift einer rein utilitaristischen Perspektive. So wird als Pro-Argument auf die psychische Belastung der Elternpaare im Falle der Nichtanwendung der PID verwiesen. Man übergeht dabei bewusst die ethischen Bedenken gegen die PID mit dem Argument, dass diese Embryonen ohnedies mehrheitlich nicht lebensfähig seien. Der Genetiker und Leiter des Bereiches Genetik an einem kommerziell ausgerichteten Wiener „Wunschbaby-Zentrum“, Markus Hengstschläger, vertritt die Ansicht, dass man als ersten Schritt Einzelgenehmigungen für das PID-Verfahren erteilen sollte. Eine Kommission sollte die Gefahr eines uferlosen Einsatzes (etwa PID zur Herstellung von Designerbabys) abwenden. Als Klientel kämen aber nicht nur Eltern in Frage, die unter Verdacht stehen, Träger von genetischen Krankheiten zu sein, sondern jedwedes Paar, bei dem man meint, die Erfolgsrate bei der künstlichen Befruchtung durch dieses Selektionsverfahren steigern zu können.

Wie würde unter solchen Voraussetzungen ein realistisches Zukunftsszenario aussehen? Man würde künftig all jenen Paaren, die genetische Auffälligkeiten aufweisen, eine künstliche Befruchtung mit PID empfehlen. Es wäre auch denkbar, überhaupt allen Frauen ab dem 30. Lebensjahr die IVF mit PID anzuraten, damit sie bei gesteigertem Risiko für Trisomie 21 ein „höchstwahrscheinlich gesundes“ Kind auf die Welt bringen. So betrachtet wäre die Zahl der Betroffenen durch Empfehlung des Rates noch viel größer und würde ganze Populationskollektive betreffen.

Ärzte als Handlanger von Industrie und Staat

Bedenklich wäre außerdem die Entwicklung, die Entscheidung über die Anwendung einer PID an Kommissionen und Gremien zu delegieren. Der Ärzteschaft soll offenbar sukzessiv ihre ethische Verantwortung entzogen werden, um sie so nach und nach nur noch zu Ausführenden von Individualentscheidungen, Firmen- oder Staatsinteressen zu machen (vgl. die neu entflammte eugenische Diskussion). Abgesehen davon ist die PID, sofern sie zur Vernichtung von Embryonen führt, als ethisch verwerflich abzulehnen.

Nicht nur Bioethiker sollen sich in diese Debatte einschalten, sondern vor allem auch Ärzte! Mittlerweile sind sie und ganze Bereiche der Medizin zum festen Bestandteil der bedenklichen „Embryonen- und Gen-Industrie“ geworden. Gerade die Wiedererlangung der eigenen ethischen Verantwortung der Mediziner angesichts dieser Fragen, wäre ein wichtiger Schutz und eine Gegenwehr gegen Projekte der Herstellung von „genetisch einwandfreien“ Kindern oder designten Wunschbabys.

Die Empfehlung des Europäischen Parlaments ist bei der Abstimmung im EU-Ministerrat abgeblitzt. Das ist ein positives Signal. Potentiell birgt sie nämlich die Gefahr, von der Pflicht zur Vermeidung kranker Kinder ein „Recht auf ein gesundes Kind“ zu etablieren. Dass gerade der Umgang mit kranken und behinderten Menschen den Maßstab für die Humanität einer Gesellschaft kennzeichnet, scheint als Gemeingut abhanden gekommen sein. Wenn der Schutz des Embryos als Person in ihrem frühsten Lebensstadium systematisch aufgegeben werden soll, dann müssen wir uns auch fragen, inwiefern die Autonomie der Kranken überhaupt noch geschützt ist. Oder brauchen wir bald auch ein europäisches Grundrecht, krank sein zu dürfen?

Anschrift des Autors:

Dr. Jan Stejskal, IMABE
Landstraßer Hauptstraße 4/13, A-1030 Wien
stejskal(at)imabe.org

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: