Editorial

Imago Hominis (2010); 17(1): 3-5
Friedrich Kummer

„Unser Leben währt 70 Jahre, und wenn es hoch geht 80“, heißt es im Psalm 90, entstanden vor fast 3000 Jahren. Der Psalmist hatte dabei wohl einige vom Schicksal Bevorzugte vor Augen, ohne zu ahnen, dass diese Altergruppe einst zu einer dominierenden werden könnte: Der medizinische Fortschritt macht es möglich.

Unsere Welt, die sich stolz als die „erste“ bezeichnet, kann in Sachen Krankheitsbekämpfung und Lebensverlängerung tatsächlich auf große Erfolge verweisen. Sie zeigt sich laufend bestrebt, diese auch anderen Teile der Welt zu vermitteln, wo Säuglingssterblichkeit, Kriege und soziales Elend die Lebenserwartung beschränken.

Tatsache ist, dass der Fortschritt zu neuen Problemen geführt hat. Sind wir nicht damit konfrontiert, dass die körperliche, geistige und soziale Abbauphase laufend prolongiert wird? Dass es paradoxerweise dank der medizinischen Eingriffe immer mehr Kranke in unserer Gesellschaft gibt?

Zwar sehen die heute Siebzigjährigen um 10 bis 15 Jahre jünger aus als ihre Eltern im gleichen Alter, und nahezu 93 Prozent der über 75-Jährigen versorgen sich weitgehend selbst. Dennoch kommt für fast jeden irgendwann die Abbauphase (sofern nicht der Tod schneller ist), die zu jenen großen Einschnitten führt, die da sind: körperliche Leiden, Stürze, Vergesslichkeit, Isolation und schließlich Pflegeabhängigkeit.

Diese Entwicklung scheint dem viel gepriesenen Prinzip der Autonomie diametral gegenüber zu stehen, auf der die Praxis der eigenverantwortlichen Tat beruht. Mit dieser erscheint die Würde eng verquickt, jene Basis und Ur-Manifestation der conditio humana.

In der gegenwärtigen rasanten Überalterung der Gesellschaft scheint es, dass der hohe Rang der vollen personalen Würde durch die senile Abbauphase gefährdet ist: Aus durchsichtigen markttechnischen Gründen wird die jüngere (erwerbstätige) Population umworben, wobei ein erbarmungsloser Zwang zur Jugendlichkeit propagiert und der grauen amorphen Masse der Senioren („Generation Oldies“) mit Zurückhaltung, Scheu, wenn nicht Spott und Ablehnung begegnet wird. Dies wird auch nicht gemildert, wenn das Kosmetik-, Bekleidungs- und Fitness-Business einen unrealistisch durchgestylten, faltenlosen Typ von älteren Menschen kreiert, der jedoch in lachhafter Weise mit der Realität kontrastiert.

Kann da von „Würde“ und „Respekt“ die Rede sein? Gehen diese Termini nicht mit dem schnellen oder bereits fortgeschrittenen Abbau verloren?

Hier liegt klar die Herausforderung: Der Mensch als Person geht niemals selbst seiner Würde verlustig, vielmehr liegt die Gefahr in der Umgebung – und nur allzu oft beim Betroffenen selbst! –, der alternden, leidenden, behinderten etc. Person ihre Würde abzusprechen.

Diese Problematik hat uns zur Wahl des Schwerpunktthemas für das vorliegende Heft bewogen.

Der Neurologe Wolfgang Kristoferitsch (Vorstand der Neurologischen Abteilung des SMZ-Ost-Donauspitals in Wien) geht in medias res: Nach einer grundsätzlichen Erörterung zum empirisch-phänomenologischen Begriff der „Würde“ legt er dar, dass sich das Selbstwertgefühl eines alten, auch leicht dementen Patienten direkt proportional am Grad seiner Unabhängigkeit im Alltag orientiert.

Ganz nahe am alten und kranken Menschen stehen die Pflegepersonen. Zwei erfahrene Repräsentantinnen, Ingrid Fischer und Brigitte Leicht (SMZ-Ost Wien), erläutern in ihrem Beitrag, auf welche Weisen der Würde ihrer alten Schützlinge Rechnung getragen werden kann, wissenschaftlich fundiert, verbunden mit warmherziger Sorge.

Unter „gutem Altern“ versteht man in unserer Kultur meist eine Form des Älterwerdens, die in möglichst vielen Bereichen möglichst lange möglichst viel an Autonomie erhalten lässt. Dass das alleine nicht genügt, macht der Philosoph und Theologe Clemens Sedmak (Universität Salzburg/King’s College London) klar. Der Begriff der „Autonomie“ muss daher überdacht werden. Im Alter kann man sie nicht an der Zahl verfügbarer Wahloptionen festmachen - diese sind in dieser Lebensphase naturgemäß reduziert. Dafür spielen Bindungen für die eigene Identität eine umso größere Rolle. Gerade im Alter, so Sedmak, zeige sich Autonomie eher im Sinne von „Selbsthaftigkeit“ als von „Unabhängigkeit“.

Der Internist und klinische Pharmakologe Johannes Bonelli (Direktor IMABE, Wien) weist in seinem Beitrag auf die Multimorbidität älterer Menschen hin, die zu einer mitunter gefährlichen medikamentösen Polypragmasie führe, welche die Tendenz zum „Aufschaukeln“ in sich trage und selten korrigiert werde.

Für Johannes Rudda (Hauptverband der Sozialversicherungsträger) muss auf die begrenzte Verfügbarkeit der finanziellen Ressourcen geachtet werden, mittels derer auch ein Altern in Würde gesichert werden könne. Hier ist eine gesamtgesellschaftliche Solidarität einzufordern, die für Rationalisierungen offen ist und Rationierungen abwehrt.

Die Schweizer Juristin Gabriele Eisenring erläutert die jüngsten Entwicklungen der organisierten Sterbehilfe in der Schweiz. Beihilfe zum Suizid ist Beihilfe zum Töten. Und keine Gesellschaft darf das Recht beanspruchen, bestimmte Tötungen für rechtmäßig zu erklären. Palliativmedizin und Hospizbewegungen machen ein wirklich „menschenwürdiges Sterben“ möglich.

F. Kummer

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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