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Sucht und Alkohol

Univ.-Prof. Dr Friedrich Kummer
Stand: Jänner 2010 (aktualisiert: März 2020)

Alkoholkonsum hat in alten Kulturen eine lange Tradition, die bis in die Anfänge der Geschichtsschreibung zurückverfolgt werden kann,1 wovon z. B. eine Weinpresse aus dem 6. Jahrtausend vor Christus zeugt, die bei Damaskus gefunden wurde. Der Terminus „Alkohol“ stammt wohl aus dem Arabischen („al-kuhl“, „vom Feinsten“) und wurde im 16. Jahrhundert von Paracelsus eingeführt. Die Gefahren der Berauschung durch Bier werden in Oberägypten (T. L. Amarna, 2. Jahrtausend vor Christus) angeprangert. Der Weinkonsum ist schon im 3. Jahrhundert vor Christus aus China dokumentiert, später – in der Antike in der griechischen und römischen Kultur – lässt er sich bereits nicht mehr wegdenken.

Während in den Frühkulturen noch der rituelle Gebrauch von Alkoholika (Opferriten) eine große Rolle spielen, werden gleichzeitig die Anzeichen des Missbrauchs immer deutlicher (bei Homer, Pillatos von Mykene).

Erste große soziologische Probleme treten allerdings erst im 18. Jahrhundert in England auf (sog. Gin-Krise), und erreichen im 20. Jahrhundert jene Dimensionen, mit denen die Gesellschaft heute konfrontiert ist.

Österreich lag laut OECD 2019 Health at a Glance wieder  unter den Ländern mit dem höchsten Alkoholkonsum: 11,8 Liter Reinalkohol pro Person im Durchschnitt pro Jahr. Damit liegt Österreich in Europa gleich an 2. Stelle nach Litauen (12,3l) vor Frankreich (11,7l) und Tschechien (11,6l)  und Deutschland (10,9l). Die geringste Alkoholmenge konsumierten die Norweger mit 6,0 und Griechen mit 6,5 Litern. Insgesamt drei Millionen Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren hatten 2018 in Deutschland eine alkoholbezogene Störung, 1,6 Millionen davon galten als abhängig. Etwa 74.000 Todesfälle jährlich werden allein durch Alkoholkonsum oder den kombinier­ten Konsum von Tabak und Alkohol verursacht, so dass Jahrbuch 2020 Sucht der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS).

Laut dem 2018 erschienenen Bericht Global status report on alcohol and health der Welt­gesund­heits­organi­sation (WHO) sterben jedes Jahr rund drei Millionen Menschen weltweit durch Alkoholkonsum – das sind mehr als durch Aids, Gewalt und Verkehrsunfälle zusammen. Am stärksten betroffen sind Männer – sie machen drei Viertel der alkoholbedingten Todesfälle aus. Die WHO bringt rund 200 Krankheiten mit Alkoholkonsum in Verbindung, darunter Leberzirrhose und einige Krebsarten. In dem 500-seitigen Bericht heißt es zudem, Alkoholkonsum mache Menschen anfälliger für Krankheiten wie Tuberkulose, HIV und Lungenentzündungen.

Laut WHO trinken 2,3 Milliarden Menschen weltweit Alkohol – in Amerika, Europa und im Westpazifik sind es mehr als die Hälfte der Einwohner. Europa weist die höchste Zahl der Alkoholkonsumenten auf, jedoch sank die Zahl im Vergleich zu 2010 um mehr als zehn Prozent. In drei Vierteln der europäischen Länder ging der Alkoholkonsum zurück, insbesondere in Russland, Moldau und Weißrussland. Einen „spektakulären“ Rückgang gab es laut WHO in Russland – dies sei auf die Umsetzung der WHO-Empfehlungen zurückzuführen. Dazu zähle die Einführung eines Mindestpreises für Wodka und das Verbot des Alkoholverkaufs in Tankstellen.

Die Abhängigkeit von Alkohol wird als chronische Krankheit (mit der Internationalen Kodierung ICD-10) angesehen, allerdings basierend auf sehr heterogenen Ursachen und in unterschiedlichen Manifestationen. Letztere können einer „Typologie“ zugeordnet werden.3 Es werden vier Typen unterschieden, die in ihrem Trinkverhalten, der Metabolisierung des Alkohols, der begleitenden Depression und den sozialen Gegebenheiten differieren. Auch die Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Entscheidung und damit zur Kooperation bei der Therapie, ist unterschiedlich gegeben. Dies ist beispielsweise in relativ hohem Maße beim Typ I der Fall (Aldehyd-Metabolismus, Kooperation in der Abstinenz möglich) und beim Typ II (Alkohol zur Angst- und Konfliktlösung). Bei Typ III (Alkohol als Antidepressivum) und beim Typ IV (voralkoholischer Gehirnschaden) ist die Eigenverantwortlichkeit in relativ weite Ferne gerückt, wobei die Abhängigkeit den Grad einer Psychose erreichen kann. Bei der Beurteilung der Gesamtsituation des Alkoholkranken spielt die „Co-Abhängigkeit“ eine wesentliche Rolle.4 Sie bezieht sich auf den Einfluss von Bezugspersonen eines Suchtkranken (Angehörigen, Kollegen, auch Therapeuten etc.) und deren Einfluss auf die Entstehung bzw. Aufrechterhaltung des süchtigen Verhaltens. Dies kann so weit gehen, dass die Co-Abhängigkeit als eigenständige Krankheit definiert wird (Umkehr von Opfer und Schuld im Verhalten der Umgebung des Abhängigen).

Der moderate Genuss von Alkohol ist relativ ungefährlich und kann unter Umständen auch eine schützende Wirkung haben. Anfang der 1990er-Jahre hat das sog. „French Paradox“5 – d. h. die relativ niedrige Inzidenz von kardiovaskulären Erkrankungen im trinkfreudigen Frankreich – zu einer Fülle von epidemiologischen, dann aber auch tierexperimentellen Studien geführt. Diese wiesen speziell im Rotwein eine Reihe von Antioxydantien nach, die gegen die systemische Inflammation und Atherogenese wirksam sind. Es wurden allerdings dem Alkoholgenuss Grenzen gesetzt (30 g pro Tag für Männer, 15 g für Frauen), innerhalb derer die protektive Wirkung zum Tragen kommt. Die Basis dafür bieten bestimmt Polyphenole (z. B. Resveratrol und Quercetin), die über ihre anti-oxydativen Eigenschaften auch antithrombotisch, antiinflammatorisch und letztlich anti-atherogen wirken. Allerdings sind die Grenzen zur Unverträglichkeit selbst kleinerer Alkoholmengen gegenüber der Langzeitverträglichkeit bzw. Bahnung einer Abhängigkeit fließend, sodass man keineswegs eine generelle Empfehlung zu moderatem Alkoholkonsum im Rahmen einer Primärprävention von Ereignissen, die das Herz und Gefäßsystem betreffen, abgeben kann. Die Analyse der Daten von mehr als 35.000 Personen in Frankreich und Großbritannien zum Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und dem Risiko für die Koronare Herzkrankheit (KHK) kamen zu ähnlichen Ergebnisse. Das Forscherteam vom University College London und der University of Cambridge der im BMC Medicine  (2018: 16, 124) publizierten Studie stützt die These, dass moderater Alkoholkonsum bzw. das beliebte Gläschen Wein am Abend das Herz schützen kann – mit dem Zusatz, dass es auf ein konsequent gemäßigtes Konsumlevel ankommt.

Wo und wann auch immer über Genussmittel gesprochen wird, sollte die Frage nicht ausgeklammert werden, inwieweit noch (oder wieder) in ihnen ein kulturelles Gut vorliegt. Tatsächlich waren in verschiedenen Epochen und Kulturverbänden sowohl Alkohol als auch Tabakrauch, sowie Medikamente zur Erzeugung von Trance etc. teilweise in weiten Kreisen der Bevölkerung im Gebrauch. Dem steht zu allen Zeiten aber der Missbrauch und als dessen Folge die Abhängigkeit gegenüber. Während früher ein Genussmittel in Rituale und einen strikt sozial-kulturellen Kontext eingebunden war, fällt dieser nunmehr weg. Eine deutliche Veränderung zur Entritualisierung des Drogengebrauchs zeigte sich im Zeitalter des Kolonialismus, der eben die strikte Zuordnung der Droge zur Kultur auflöste. Selbst wenn anzuerkennen ist, dass jede Droge ihre Abhängigen schafft, also insgesamt gefährlich ist und vor Missbrauch nicht eindringlich genug gewarnt werden kann, so war die Ritualisierung das beste Mittel im Kampf gegen die Droge, denn sie zwang zum kontrollierten Genuss und setzte beim Genießer die Fähigkeit zur Selbstkontrolle voraus.6 Derzeit hat es weltweit den Anschein, als ob der Genussmittelgebrauch weitgehend vom Genussmittelmissbrauch überflügelt worden ist.

Ein weiterer Faktor, der die Gesamtsituation erschwert, ist, dass das Einstiegsalter immer mehr sinkt. Die Hälfte der Jugendlichen in Europa begann mit 13 oder noch jünger zu trinken. Fast 10 Prozent gaben an, im Alter von 13 Jahren zumindest schon einmal betrunken gewesen zu sein. Studien zeigen, dass Kinder, die früh und häufig Alkohol konsumieren, später eher in eine Alkoholsucht rutschen, so die Warnung im Health at a Glance Report 2018. Alkoholkonsum geht bei Jugendlich häufig auch mit dem Konsum von illegalen Drogen einher – was wiederum zu psychischen Problemen und Erkrankungen führt. Weitere Sorgenbereiche in Sachen Gesundheitsprävention liegen im hohen Tabakkonsum und der mangelnden Prävention für psychische Erkrankungen.

Fachleuten zufolge sind Aufklärungskampagnen in den Schulen wirkungslos, da die beabsichtigen Effekte der Abschreckung durch die – nicht intendierte – Weckung des Interesses wieder aufgehoben werden. Das gilt für Alkohol und Tabakrauchen. Für Drogenprävention sind keine verlässlichen Daten verfügbar. Die bislang wirkungsvollsten Maßnahmen zielen auf Erschwernis der Verfügbarkeit, wobei die Preissteigerung wieder erfolgreicher zu sein scheint als das Verkaufsverbot an Minderjährige.Aus Public Health-Perspektive bestehe Handlungsbedarf, mahnt jedenfalls die OECD. Der Alkoholkonsum könne nachweislich durch ein Bündel von Maßnahmen gesenkt werden, etwa durch höhere Besteuerung, strengere Bestimmungen bei der Abgabe von Alkohol an Jugendliche (z. B. Anhebung des Alters, Einschränkungen in der Werbung, mehr Aufklärung usw.).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Genussmittel grundsätzlich als wertfrei betrachtet werden können, sofern sie unter optimalen persönlichen und sozialen Umständen mäßig konsumiert werden. Stets muss jedoch dem hohen Potential an Missbrauch Rechnung getragen werden, und zwar in der Erziehung, durch Schaffung von positiven Vorbildern und durch Erschwerung des Erwerbes der Genussmittel und durch die Einbettung des Genusses in positive kulturelle Rituale (z. B. mäßiger Alkoholgenuss zu besonderen, festlichen Anlässen etc.). Jeder Missbrauch kann schließlich zur Abhängigkeit führen.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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