Polypragmasie: Bringt E-Health die Lösung?

Imago Hominis (2010); 17(2): 121-126
Eckhard Beubler

Zusammenfassung

Arzneimittel haben seltener verlässliche Wirkungen als erhofft und häufiger Nebenwirkungen als erwartet. Werden mehrere Arzneimittel gleichzeitig genommen (Polypragmasie), steigt die Anzahl möglicher Nebenwirkungen und je nach Kombination durchaus in entgegengesetzte Richtungen, z. B. Blutung respektive Thrombose. Elektronische Karteien zur Entdeckung wichtiger Wechselwirkungen sind nur so verlässlich, als die Informationsinhalte der einzelnen Arzneimittel regelmäßig ergänzt werden. Dies ist vor allem bei älteren Arzneimitteln häufig nicht der Fall, es bleiben entsprechende Lücken. Elektronische Überwachung von Arzneiverordnungen können sicher häufige, schwerwiegende und gut bekannte Wechselwirkungen verhindern. Sicher verhindert werden können elektronisch auch Doppelverschreibungen, die aufgrund der unzähligen Generika auf dem Markt an Häufigkeit zunehmen.

Schlüsselwörter: Arzneimittelwechselwirkungen, E-Card, Generika

Abstract

Most prescription drugs are less reliable and have more unwanted side effects than anticipated. Such side effects are further potentiated when more than one drug is prescribed (polypragmasia), thus leading to an increase in unwanted side-effects. Combination of certain drugs in dependence of the second drug may even lead to opposite side effects like bleeding or thrombosis. Databases monitoring unwanted side-effects due to combination of drugs are only of use when they are updated on a regular basis. Especially for “older” drugs, updates on combinatorial side-effects are missing, thus often leaving open gaps. Hence, it is mandatory that such databases are updated on a regular basis to prevent common and severe combinatorial drug side effects. In addition, the maintenance of such a database will also be able to prevent double-subscriptions, which are on the rise due to the many generica currently flooding the market.

Keywords: Drug-Drug Interactions, E-Card, Generics


Erwünschte und unerwünschte Nebenwirkungen

In unserer mechanistisch orientierten Zeit sollen Arzneimittel möglichst rasch und sicher alle körperlichen und seelischen Veränderungen korrigieren bzw. ausmerzen, die Lebensstil und Überfluss über viele Jahre hinterlassen. Dabei wird die Wirkpotenz vieler Arzneimittel gehörig überschätzt, die Gefährlichkeit hingegen häufig unterschätzt. Arzneimittel werden dem Gesunden verordnet, um Krankheiten fernzuhalten, wie z. B. Statine, um einen Herzinfarkt zu verhindern, oder sie sollen Symptome bestehender Erkrankungen positiv beeinflussen wie z. B. Paracetamol, das bei Grippe das Fieber senkt und Gliederschmerzen erträglich macht. Statine werden 149 Personen vergeblich nehmen, erst der 150ste wird geschützt sein, während eine Änderung der Lebensgewohnheiten wie Ernährung und Bewegung für nahezu alle von Vorteil wäre.1 Unabhängig von Paracetamol wird die Grippe anhalten, bis das Immunsystem die Viren vernichtet. Insulin verlängert das Leben des Diabetikers, geheilt wird er damit nicht. Arzneimittel senken einen erhöhten Blutdruck, stärken ein schwaches Herz oder erleichtern dem Asthmatiker das Atmen – solange sie eingenommen werden. Eine endgültige Heilung einer Erkrankung erreichen nur Antibiotika, denn sie töten die Erreger der Infektion, wirken aber nicht auf den menschlichen Organismus ein. Arzneimittel haben die Eigenschaft, gewünschte Wirkungen zu vermitteln und unerwünschte Wirkungen herbeizuführen. Die neuen Mittel gegen Depression hemmen ein Transporteiweiß für Serotonin an Nervenendigungen im Zentralnervensystem, Serotonin verschwindet langsamer, und es steht mehr Serotonin zur Verfügung, die Stimmung wird verbessert. Der gleiche Transporter soll auch Serotonin in die Blutplättchen befördern. Wird er gehemmt, können die Plättchen nicht verklumpen, und eine Blutung droht.2 Derselbe Mechanismus führt also zur erwünschten und unerwünschten Wirkung.

Spezifische Nebenwirkungen sind demnach über den Wirkungsmechanismus des Arzneimittels erklärbar, dosisabhängig und treten ab einer gewissen Dosis bei jedem behandelten Menschen auf. Betablocker, auch sogenannte selektive, die zur Blutdrucksenkung eingenommen werden, blockieren auch Betarezeptoren in den Bronchien und führen zur Erhöhung des Atemwegswiderstandes. Sie blockieren auch Betarezeptoren, die im Stoffwechsel eine Rolle spielen und vermindern so die Glycogenolyse.3 Diese unerwünschten Wirkungen sind also besonders bei Asthmapatienten bzw. bei Diabetikern zu beachten. Zu den spezifischen Nebenwirkungen von Arzneimitteln gehören auch irreversible Schädigungen von Organen wie z. B. eine Nierenschädigung durch Langzeiteinnahme von Antirheumatika oder irreversible Bewegungsstörungen durch Langzeiteinnahme von klassischen Antipsychotika. Spezifisch sind auch sekundäre Nebenwirkungen wie Durchfälle aufgrund der Zerstörung der Darmflora bei einer Antibiotika-Therapie. In den genannten Beispielen geht es immer nur um ein Arzneimittel, und die unerwünschte Wirkung ist vorhersehbar.

Mangel an fachübergreifenden Guidelines

Ein Patient verlässt heute aber im Durchschnitt mit 4,5 Arzneimitteln das Krankenhaus. 12 bis 15 Arzneimittel pro Patient sind aber auch keine Seltenheit. Die Ärzte müssen den zahlreichen Diagnosen, die vor allem bei älteren Patienten gestellt werden, Rechnung tragen und entsprechend den Guide Lines der spezifischen Fachgesellschaften Therapien einleiten. Aus Mangel an fachübergreifenden Guide Lines kommt es zur Verordnung zu vieler Arzneimittel, und die Abstimmung untereinander unterbleibt. Arzneimittel, die allein eingenommen, kaum Nebenwirkungen zeigen, können, in Kombination mit anderen, bemerkenswerte und zum Teil gefährliche Nebenwirkungen erzeugen.

Zur Erläuterung einige Beispiele möglicher Wechselwirkungen: Eine der am häufigsten verordneten Arzneimittelgruppen sind Magenschutzpräparate vom Typ Protonenpumpenhemmer (PPI). Diese neuen Magenschutzpräparate haben kaum Nebenwirkungen. Nimmt der Patient aber gleichzeitig ein Arzneimittel zur Hemmung der Blutgerinnung, ein sogenanntes Cumarin (z. B. Marcoumar), so wird dieses, in Gegenwart des Magenschutzpräparates, langsamer in der Leber abgebaut, seine Wirkung nimmt dadurch zu. Die Folge könnte eine schwere Blutung sein.4 Andererseits kann dasselbe Magenschutzpräparat die Aktivierung von Clopidrogrel (z. B. Plavix) verhindern, das die Aggregation der Blutplättchen hemmen soll. Damit wird dessen Wirkung verhindert, eine Thrombose könnte die Folge sein.5 Ein und dasselbe Arzneimittel also, das allein verabreicht ein völlig harmloser Magenschutz ist, könnte in Kombination mit einem Präparat eine Blutung und in Kombination mit einem anderen Präparat das Gegenteil, nämlich eine Thrombose hervorrufen.

Die sogenannten Benzodiazepine sind heute die am meisten verwendeten Beruhigungsmittel und Schlafmittel und werden in Abhängigkeit ihrer Wirkungsdauer als Tagessedativa oder eben als Schlafmittel eingesetzt. Sie werden im Körper abgebaut und verlieren damit ihre Wirkung. Protonenpumpenhemmer blockieren den Abbau von einigen Benzodiazepinen, diese wirken länger als erwartet, in der Folge können Stürze oder Unfälle auftreten.6 Drastische Wechselwirkungen gibt es mit dem sehr kurz wirksamen Benzodiazepin, Midazolam, das intraoperativ zur Bewusstseinsausschaltung des Patienten eingesetzt wird. Steht der Patient unter antiepileptischer Behandlung mit Carbamazepin werden die das Midazolam abbauenden Enzyme induziert, und das Mittel wirkt überhaupt nicht: Der Patient wird bei vollem Bewusstsein operiert (was schon der Fall war). Im Gegensatz dazu würde ein Arzneimittel aus der Gruppe der Makrolidantibiotika aber den Abbau von Midazolam hemmen und der Patient in der Folge nicht aufwachen.

Jetzt noch ein Beispiel zu überschätzten Arzneimittelwirkungen: Weit verbreitet ist heute die prophylaktische Einnahme von Aspirin, um Schlaganfall und Herzinfarkt zu verhindern. Für Risikopatienten mag das noch einen Sinn ergeben, und Patienten, die schon einen Infarkt hatten, sind gut beraten, Aspirin täglich einzunehmen. Gesunde Menschen aber hätten keinen Profit davon: 2000 Personen müssten ein Jahr lang täglich Aspirin einnehmen, um einen Herzinfarkt zu verhindern.7 Einer von 50 jedoch entwickelt bei dieser Behandlung eine schwere Blutung.8 Der prophylaktische Effekt wird also durch eine häufig auftretende Nebenwirkung aufgehoben. Eine Reihe auch sehr oft verordneter Arzneimittel könnten diese Gefahr schwerer Blutungen durch Aspirin-Gabe noch verstärken wie z. B. entzündungshemmende Schmerzmittel (Antirheumatika), Antidepressiva vom Typ Serotonin-Rückaufnahmehemmer (SSRI)9 oder gerinnungshemmende Arzneimittel. In allen Beispielen war hier immer nur die Rede von zwei Arzneimitteln, zugleich eingenommen. Unser Fachwissen und unsere Phantasie reichen nicht aus, abzuwägen, was passiert, wenn ein Patient über 12 Arzneimittel einnimmt. Bei über 20% der Patienten ist das aber laut Statistik der Krankenkassen der Fall. Die Kunst des Arztes also besteht darin, mit einer sorgfältigen Auswahl der wichtigsten Arzneimittel die Lebensqualität eines Menschen zu verbessern und sie nicht durch Gabe von zu vielen Arzneimitteln zu verringern.

Wechselwirkungskarteien: Kein automatisches Update

Allen in dem System Tätigen ist aber klar, dass das nicht immer möglich ist, zumal die Guide Lines der einzelnen Fachdisziplinen die Ärzte zwingen, vorliegende Erkrankungen mit den entsprechenden Arzneimitteln zu behandeln. Man denke sich einen Patienten von 70 Jahren, Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes, fortschreitendem Parkinsonismus und chronischer Herzinsuffizienz. Unter 10 Arzneimittel wird der Arzt hier nicht auskommen. Welche Möglichkeiten hat der Behandler nun, die gegenseitige Beeinflussung der Arzneimittel hinsichtlich Wirkung, Wirkungsdauer, Abbau und Ausscheidungsgeschwindigkeit usw. zu beurteilen? Ohne computerisierte Wechselwirkungskarteien sind solche Beurteilungen heute unmöglich, doch auch die besten Wechselwirkungskarteien sind nur so vollständig, wie die Fachinformationen der einzelnen Arzneimittel vollständig hinsichtlich Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln sind. Neue Arzneimittel müssen hinsichtlich Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln dem heutigen Stand der Wissenschaft entsprechen. Die Fachinformation älterer Arzneimittel wird aber im Großen und Ganzen dem Stand der Wissenschaft der Zeit entsprechen, zu der sie erstmals zugelassen wurden. Ergänzungen der Fachinformation erfolgen danach, wenn drastische Nebenwirkungen oder Wechselwirkungen und neue Erkenntnisse eine Änderung erfordern. Ein automatisches „updaten“ der Fachinformation ist aber nicht die Regel. Ein Beispiel soll diesen Umstand erläutern: Bei einem eben erst zugelassenen Arzneimittel, dem Aliskiren, Handelsname Rasilez, ist in der Fachinformation der Absatz über Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln sehr lang. So wird auch auf die sogenannten ABC-Transportproteine und die Wechselwirkungen, die auf Beeinflussung dieser Proteine beruhen, Bezug genommen.10 Arzneimittel, die diese Transportproteine hemmen, können die Resorption des gegenständlichen Arzneimittels verfünffachen, andere Arzneimittel, die diese Transportproteine induzieren, können die Resorption des gegenständlichen Arzneimittels komplett hemmen. Der behandelnde Arzt wird über die Wechselwirkungskartei auf diesen Umstand aufmerksam gemacht und kann entsprechend die Dosierung verändern. Der Arzneistoff Verapamil, ein Kalziumantagonist, lange Zeit in der Hochdrucktherapie und bei Herzrhythmusstörungen eingesetzt, ist ein bekannter Hemmer des Transportproteins, von dem hier die Rede ist (P-Glycoprotein). In der experimentellen Forschung wird Verapamil als Modellsubstanz eingesetzt, um Einfluss von P-Glycoprotein auf die Resorption bzw. auf das Eintreten anderer Stoffe ins Gehirn zu beurteilen. Verapamil wurde 1964 erstmals zugelassen, die Transportproteine waren damals unbekannt. 2006 wurde die Fachinformation letztmals geändert, die Transportproteine waren schon längst bekannt, in der Fachinformation werden sie mit keinem Satz erwähnt. Das ist auch heute im Jahr 2010 noch so der Fall. Der Hersteller des Originalpräparates hat kein Interesse, Geld freiwillig in weitere Forschungen dieses Arzneimittels zu stecken, da die Ärzte Verapamil als Generikum verschreiben (müssen). Die Hersteller der Verapamil Generika werden freiwillig auch keine Forschungen durchführen. Die Wechselwirkung zwischen Verapamil und den P-Glycoprotein-Substraten werden also weiterhin in Wechselwirkungskarteien nicht auftauchen.

Aber auch bei neueren Arzneimitteln wird man in der Interaktionskartei nicht alle relevanten Wechselwirkungen entdecken, welche aber in der wissenschaftlichen Literatur zugänglich wären. So hemmen die Antiemetika, Tropisetron bzw. Granisetron, die analgetische Wirkung von Paracetamol komplett.11 Für ein krebskrankes Kind, das wegen seiner Chemotherapie ein Antiemetikum bekommt und als einzige Schmerztherapie Paracetamol erhält, ist das fatal. Der Arzt wird ihm seine Schmerzen nicht glauben, die Interaktionskartei schweigt sich aus.

Generika und die Gefahr der Doppelverschreibung

Hier ist eine große Gefahr der Zulassung von Generika verborgen, deren Erzeuger naturgemäß kein Interesse an neuen Erkenntnissen haben. Das Arzneimittel, längstens eingeführt und bekannt, verkauft sich auch ohne Forschung, ja auch ohne besonderen Werbeaufwand. Der Entwickler des Originalpräparates steckt sein Geld auch lieber in Neuentwicklungen als ein Präparat zu beforschen, mit dem die Generika-Erzeuger ihr Geschäft machen. Wer übernimmt aber die Verantwortung für diesen Stillstand?

In einer sorgfältigen Publikation aus Schweden wurde ermittelt, dass 3,1% aller Todesfälle auf Arzneimittelneben- oder Wechselwirkungen zurückzuführen sind: von den 1520 Fällen also 49 Todesfälle.12 Nur in einem der genannten Fälle hat der Arzt auf einen Zusammenhang mit den verschriebenen Arzneimitteln hingewiesen. Krass ausgedrückt haben die nach den Guide Lines verordneten Arzneimittel zur Lebenszeit- und Qualitätsverlängerung das Leben der Betroffenen verkürzt. In 74% dieser Todesfälle waren es Blutungen, die zum Tod führten, verursacht durch Arzneimittel wie: Thrombozytenaggregationshemmer, nicht-steroidale Antirheumatika und Antidepressiva vom Typ der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, meist in Kombination miteinander. Ein elektronisches Überwachungssystem hätte längst Alarm geschlagen und verstärkte Kontrolle gefordert. Die Forschungsergebnisse dieser schwedischen Gruppe lassen sich gut auf Österreich übertragen, zumal arzneimittelbedingte Todesfälle von unseren Pathologen nicht gesucht werden.

Beim Probelauf des Arzneimittelsicherheitsgurtes im Bundesland Salzburg wurde in wenigen Monaten die Hyperkaliämie als häufige Interaktions-Komplikation erkannt, viele Patienten wurden vor der konsequenterweise folgenden Nierenschädigung bewahrt. Durchaus gängige Arzneimittel aus der „state of the art“ Palette können in Kombination eine Hyperkaliämie nach sich ziehen: ACE-Hemmer, kaliumsparende Diuretika, Angiotensin-Antagonisten (Sartane) und Antirheumatika. Die resultierende Dialyse-Pflichtigkeit dieser Patienten kostet ein Vermögen im Vergleich zu regelmäßigen Kalium-Messungen, die nicht in allen Bundesländern von der Krankenkasse bezahlt werden. Die elektronische Überwachung von Arzneimittelkombinationen wäre also nur dann ein Schutz, wenn vernünftige Analysen daran gekoppelt sind.

Zurück zu den Generika: Es ist keine Seltenheit, dass Arzneistoffe heute in 10, 20 und mehr „Verkleidungen“ auf dem Markt kommen. Ein und derselbe Arzneistoff kann also unter vielen Namen verordnet werden, die ein verschreibender Arzt unmöglich alle kennen kann. Die Folge sind Doppelverschreibungen. Ein gewissenhafter Patient würde von diesem Arzneimittel zu hohe Dosen einnehmen. Vor allem in Kombination mit mehreren anderen Arzneimitteln könnte das üble Folgen haben. Hier wäre eine elektronische Überwachung außerordentlich hilfreich, der Doppelverordnung wäre ein Riegel vorgeschoben.

Das ungelöste Problem der Compliance

Ein ungelöstes Problem bleibt aber die Compliance, die die Disziplin des Patienten bezeichnet, verordnete Arzneimittel entsprechend der Anweisung des Arztes einzunehmen. Laut WHO beträgt die Compliance bei über fünf Arzneimitteln pro Patient nur mehr 50%. Tauchen für den Patienten Arzneimitteln unter anderem Namen, anderer Verpackung, anderer Form und Farbe auf, so ist nicht zu erwarten, dass die Compliance verbessert wird. Zur Behandlung akuter Befindlichkeitsstörungen wird der Patient auch Arzneimittel einnehmen, die er bisher nicht gekannt hat. Ein Patient, der chronisch-prophylaktisch Arzneimittel einnehmen muss, wird möglicherweise bei Umstellung auf Generika die neuen, unbekannten Arzneimittel weglassen. Hier ist auch ein enormer Kostenfaktor involviert. Kästchen und Laden sind ohnehin schon gefüllt von verschriebenen, bezogenen, aber nicht genommenen Arzneimitteln. Die teuersten Arzneimittel sind zweifellos die nicht eingenommenen, jedenfalls aus der Sicht derer, die diese Arzneimittel mitfinanzieren müssen. Für den Patienten selbst mag es von Vorteil sein, das eine oder andere Arzneimittel nicht zu schlucken, nur fehlt ihm das Fachwissen für die Auswahl der optimalen Kombination. Hier wird auch ein elektronisches Überwachungssystem nicht viel ausrichten, es sei denn, der Patient belohnt das Interesse, das man für ihn bekundet, mit einer besseren Einnahmedisziplin. Bei der chronischen Arzneimitteleinnahme ist aber auch diese Disziplin vergänglich.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei einer bestehenden Polypragmasie Wechselwirkungen, soweit sie dem verwendeten System bekannt sind, elektronisch ausgeschaltet werden und Mehrfachverordnungen mit hoher Sicherheit vermieden werden können. Die Compliance, vor allem was chronisch – prophylaktische Arzneimittel betrifft, wird sich auch durch den Einsatz elektronischer Überwachungssysteme nicht nennenswert verbessern. Für viele Patienten würde letztlich der Verzicht auf die Anwendung von „Evidence-based medicine“ um jeden Preis die Lebensqualität erheblich verbessern.

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Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Mag. Dr. Eckhard Beubler
Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie der Medizinischen Universität Graz, Universitätsplatz 4, A-8010 Graz
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