Lost in information? Patienten, Ärzte und das Internet

Imago Hominis (2010); 17(2): 105-111
Stephan Sahm

Zusammenfassung

Das Internet und Elektronachrichtendienste als bedeutsame Beispiele neuer Informationstechnologien bereichern das Instrumentarium der Medizin. Doch sie fordern gleichzeitig das Selbstverständnis der Medizin heraus. Bislang hatten Ärzte die Hoheit über den Informationsfluss. Jetzt liegt die Verfügungsgewalt nahezu ungehindert in den Händen der Patienten. Die Qualität der Informationen über Gesundheit und Krankheit ist häufig mangelhaft. Die Geschwindigkeit, mit der sie verbreitet werden, untergräbt das Prinzip der Verlangsamung als Voraussetzung wissenschaftlichen Diskurses. Internetbasierte Technologie zur Überwachung der Compliance von Patienten bedroht deren Privatsphäre. Das Aufkommen des Internet-Doktors gefährdet die Beziehung von Patienten zu ihren Ärzten. Angesichts der vielen mit der Einführung neuer Technologien verbundenen Vorteile geht es nicht darum, ihren Gebrauch im Sinne einer bloß traditionsverhafteten Kulturkritik zu beklagen. Doch unzweifelhaft haben sie Auswirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis und auf den Umgang mit Krankheit und Gesundheit. Daher bedarf die Einführung der neuen Informationstechnologien in die Praxis der Medizin einer kritischen Begleitung, um Missbrauch vorzubeugen.

Schlüsselwörter: Informationstechnologie, medizinische Praxis, Internet-Doktor, Arzt-Patienten-Verhältnis

Abstract

The use of internet-technology and e-mail-services have enriched the armamentarium of medical practice. Yet, some of the new developments may challenge medicine’s self concept: So far physicians have had the power over flow of information which is now almost completely in the hands of lay people. The information found in the internet is often of low quality. The velocity which the information is spread with endangers the principle of discourse which is a pre-condition of gaining knowledge in science. Internet based surveillance technology may compromise a patient’s privacy. The event of the internet-doctor may erode the highly sensitive patient-physician relationship. The introduction of new technology into medical practice is not to moan about. Yet, it deserves careful scrutiny to prevent abuses.

Keywords: Information Technology, Medical Practice, Internet Doctor, Patient-Physician-Relationship


1. Einleitung

Wer seinem an einem Prostatakrebs erkrankten Angehörigen mit Rat beistehen will, wird im Internet schnell fündig. Befragt man den derzeitigen Giganten der Suchmaschinen, der in Europa eine Monopolstellung einnimmt, stößt man auf 250.000 Seiten, die Informationen bereithalten. Unter dem Schlagwort Brustkrebs finden sich mehr als 900.000 Internetanschriften. Bereits im Jahr 2000 wurden über etwa 100.000 im Internet abrufbare Gesundheitsseiten allein in Großbritannien berichtet.1 Es versteht sich, dass die schiere Fülle der Angebote zu einem Wissenskollaps führen muss, wollte man auch nur versuchen, die Informationsflut zu bewältigen. Doch die ist wirkmächtig. Ärzte erleben es regelmäßig, dass Patienten sie mit Informationen, die aus dem Internet gewonnen wurden, konfrontieren, wie eine aktuelle Studie aus 2010 belegt.2

Die medizinische Praxis wurde in ihrer langen Geschichte vielfach durch die Integration neuer Technologien Veränderungen unterworfen, deren Ausmaß nicht selten erst rückblickend erkannt wurde. Das Stethoskop schaffte Distanz zum Patienten, denn vor der Erfindung des Instrumentes musste der Arzt sein Ohr auf die Brust des Erkrankten legen, um den Herzschlag zu hören. Die Entdeckung der Röntgenstrahlen, die Labormedizin, der Nachweis infektiöser Erreger haben den Umgang mit den Patienten nachhaltig beeinflusst, etwa wenn Betroffene isoliert werden. Doch die Informationstechnologie weist eine Besonderheit auf, die sie von anderen technischen Errungenschaften unterscheidet, die den Alltag der Medizin prägen. Bislang hatten Ärzte die Hoheit über den Informationsfluss. Das Internet ändert dies grundlegend. Jetzt liegt die Verfügungsgewalt nahezu ungehindert in den Händen der Patienten.3 Das Internet erweist sich subversiv, weil es auch die Frage nach der Behandlungshoheit stellt.

Es liegt auf der Hand, dass die Rolle des Arztes in Frage gestellt wurde. Kann die Information den ärztlichen Entscheidungsprozess womöglich ersetzen, genügt der Google-Doktor? Ärzten hat er sich bereits als web-basierte Informationsquelle hilfreich erwiesen.4 Warum sollten Patienten diese nicht direkt nutzen?

Ebenso halten neue Techniken der interaktiven Informationstechnologien Einzug in Kliniken und Praxen. Smartphones, iPads und andere Systeme sollen die Arbeit von Pflegenden und Ärzten erleichtern.5

Diese Entwicklungen gilt es nicht etwa nur zu beklagen im Sinne einer traditionsverhafteten Kulturkritik oder gar eines Kulturpessimismus. Wissenschaftlich fundierte medizinische Praxis strebt nach Neuerung und Fortschritt.6 Doch bedürfen die erwähnten Entwicklungen der kritischen Begleitung, denn sie bleiben nicht ohne Wirkung auf das Verhältnis von Patienten zu ihren Ärzten, auf den Umgang mit Krankheit und Gesundheit in der Gesellschaft, das Gebot der Vertraulichkeit (Schweigepflicht), den Datenschutz, das Verständnis von Selbstbestimmung, das Wesen der medizinischen Indikation, um nur einige Aspekte zu benennen.

Im Folgenden sollen einige der hervorstechenden Auswirkungen der ubiquitären Zugänglichkeit medizinischer Informationen und der Gebrauch der neuen Informationstechnologien auf die Praxis der Medizin untersucht werden.

2. Internet und medizinischer Erkenntnisgewinn

Qualität der Informationen im Internet

Die schiere Fülle medizinischer Angebote im Internet lässt eine Überprüfung ihrer Qualität nahezu aussichtlos erscheinen. Im Blick auf einzelne Erkrankungen haben Fachleute versucht, Internetseiten zu bewerten. Wie kaum anders zu erwarten, variiert die Qualität erheblich.7 Doch können Seiten mit einer, unter Fachleuten anerkannten Qualität identifiziert werden.8 Dafür wurden bereits vor mehr als zehn Jahren Kriterien entwickelt, die den Benutzern helfen sollen, die Qualität der Informationen abzuschätzen. Auf Initiative einer Internet Healthcare Coalition wurde ein e-code für Gesundheitsseiten unter der Ägide der WHO entwickelt.9 Doch ist es jedem Nutzer sofort einsichtig, dass nur ein geringer Anteil der Betreiber solcher Seiten die Kriterien einhält.

Mithin ist die Gefahr der Verbreitung von Irrtümern groß. Falsche Meldungen breiten sich sehr schnell im Internet aus. Darauf hat Cass Sunstein eindrücklich aufmerksam gemacht.10 Ein Gerücht ist mit vielen Seiten verlinkt, die den Inhalt zu bestätigen scheinen. Die Elektronachrichtdienste tragen ebenso zur Verbreitung bei.

Die Internet- und Blogwelt untergräbt durch ihre Beschleunigung das für die Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnis wesentliche Prinzip der Debatte, des Austausches von Argumenten, die auf Gründen basieren. Die ist ohne ein Maß an Verlangsamung, Retardierung, nicht zu haben. Dieser Befund ist nicht allein eine wesentliche Herausforderung für den Bereich der Medizin. Trotz des Anspruchs, Öffentlichkeit in bisher ungeahntem Ausmaße herzustellen, gilt das Umgekehrte: Die erwähnte Beschleunigung und Fülle der Angebote untergräbt das für die Demokratie unverzichtbare Prinzip öffentlichen Raisonnements.11

Für den Bereich der Medizin können die erwähnten Sachverhalte u. U. unmittelbare und ggf. auch für Betroffene schädliche Auswirkungen zeitigen. Dies wurde etwa im Zusammenhang mit den Empfehlungen zur Impfung gegen die Schweingerippe erst kürzlich eindrücklich bestätigt. Eine Frankfurter Ärztin verschickte Elektronachrichten, in denen behauptet wurde, der Impfstoff verursache bei jedem vierten Geimpften Beschwerden, die dem mysteriösen Golfkriegssyndrom amerikanischer Soldaten gleiche. Sie machte einen Wirkverstärker dafür verantwortlich.12 Auch der Autor wurde von Patienten mit dieser Nachricht konfrontiert. Später nahm die Ärztin diese Behauptung wieder zurück. Nachweislich wurden viele Bürger durch diese Fehlermeldung von einer Impfung abgehalten, die nach Einschätzung der Fachleute sinnvoll war und eine weitere Ausbreitung der Virusinfektion offensichtlich verhindert hat.13

Das Beispiel berührt ein die Allgemeinheit betreffendes Problem, den Konflikt zwischen der Freiheit der Meinungsäußerung in freien Gesellschaften und der möglichen Beschränkung von Missbrauch. Mit Blick auf die neuen Informationstechnologien wurde in vielen Staaten darauf noch keine befriedigende Antwort gefunden. Die Diskussion reicht bis weit hinein in den Bereich der Politik. So wurden Parteien gegründet, deren wesentliches Ziel es ist, Zensur im Internet zu verhindern.14

Für die medizinische Wissenschaft und Praxis werden gesetzliche Verbote wegen des Vorranges der freiheitlichen Meinungsäußerung kaum Abhilfe schaffen, was die Verbreitung von Irrtümern betrifft. Doch können Zertifikate, die die Einhaltung der oben erwähnten Kriterien beurkunden, Quellen mit qualitätsgesichertem Angebot kennzeichnen. Dies wäre ein nicht gering zu schätzender Gewinn für die Nutzer dieser Dienste.

Das Prinzip der Verlangsamung als konstitutives Element der Generierung wissenschaftlicher Erkenntnis

Im Blick auf die Verbreitung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse ist das Prinzip der Verlangsamung einzufordern. Neues darf erst nach eingehender wissenschaftlicher Diskussion und Prüfung empfohlen werden. Dieses Prinzip ist ein Prinzip der Selbstbeschränkung. Es lässt sich kaum gesetzlich durchsetzen.

Dies gilt in besonderer Weise für die Hersteller neuer Produkte wie die pharmazeutische Industrie. Das Internet wird in vielen Fällen zur vorzeitigen Streuung wissenschaftlich noch nicht abgesicherter Erkenntnisse missbraucht. Ein Kodex der Selbstbeschränkung der Hersteller medizinischer Produkte wäre wünschenswert. Ebenso scheint es erwägenswert, in Analogie zu Presseräten, die in vielen Ländern Missbrauch der Medien kontrollieren, eine Institution zu schaffen, die die Einhaltung eines solchen Kodex überwacht.

Ärzte nutzen das Internet immer häufiger als Ressource für den schnellen Wissenszugriff. Im Alltag der medizinischen Praxis sind sie nicht selten ebenso wie Laien der Manipulation der Anbieter ausgeliefert. Ärzte stehen aber als Lotsen und nicht zuletzt als diejenigen, die medizinische Produkte verschreiben, an einer zentralen ökonomischen Schaltstelle im Medizinsystem. Daher sind Versuche, deren Entscheidungen zu beeinflussen, endemisch. Für den Umgang von Ärzten mit den Vertretern der Industrie (Pharma-Marketing; Sponsoring von Fortbildungen) wurden bereits vor Jahren Kodizes entwickelt. In ähnlicher Weise gilt es Kriterien zu entwickeln, die die Selbstbeschränkung der Darstellung von Produkten in webbasierten Informationssystemen für die medizinische Praxis regeln.

Die bisherigen Ausführungen könnten den Eindruck erwecken, die Nutzung neuer Informationstechnologien wie des Internets sei vornehmlich eine Gefahr. Dies ist natürlich falsch. Sie eröffnen vielmehr ungeahnte Möglichkeiten der Informationsbeschaffung, der Schulung von Patienten und Aufklärung, die noch vor kurzem als undenkbar galten.

Ein Beispiel ist etwa der Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums. Er wird viel genutzt und bietet für den Laien aufbereitet gesicherte medizinische Information. Studien zeigen, dass der Verweis auf qualitätsgesicherte Quellen im Internet nachweislich die informierte Entscheidung von Patienten günstig zu beeinflussen vermag,15 obgleich bislang Ärzte nur selten auf solche Seiten aufmerksam machen.

Ebenso können Angehörige chronisch Kranker großen Nutzen aus Informationsquellen im Internet ziehen. Diese können eine große Hilfe sein bei der Betreuung der Patienten im Alltag, wie am Beispiel Krebskranker belegt wurde. Doch betrifft dies nicht nur den Bezug weiterer Informationen aus dem Internet. Angehörige wünschen etwa, dass die Behandler für sie auf dem Wege der Elektronachricht häufiger erreichbar sein sollen. So verständlich diese Wünsche sind, so darf nicht außer Acht gelassen werden, was dies an Zeit seitens der Ärzte und Pflegenden in Anspruch nimmt, die vermutlich anderen Patienten abgeht.16

3. Internetbasierte Technologie als Erweiterung des therapeutischen Instrumentariums

Die neuen Möglichkeiten der Informationstechnologie können das therapeutische Spektrum erweitern helfen. Das Schlagwort Telemedizin mag dies verdeutlichen. In Regionen medizinischer Unterversorgung kann e-Medizin der einzige Weg sein, ein Minimum medizinischer Versorgung sicher zu stellen. In Kooperation mit Helfern medizinischer Assistenzberufe eröffnen interaktive Systeme die Möglichkeit, auch an abgelegenen Orten medizinische Beratung sicherzustellen, diagnostische Entscheidungen von Experten überprüfen zu lassen und ggf. therapeutische Eingriffe durchführen zu können. Doch ist es zwingend notwendig, die Effektivität solcher Netzwerke zu überprüfen.17

Eine besondere Herausforderung stellte der Gebrauch internetbasierter Informationssysteme im Bereich der Therapie dar. So wurden etwa Programme zur Behandlung der Adipositas entwickelt, bei denen die Patienten auf dem Wege des Internets kontrolliert und überwacht werden.18 Ziel der Entwicklung dieser Programme war es, Kosten zu reduzieren. Aber völlig offen ist es, wie mit Informationen umgegangen werden soll, die dabei über die Mitwirkung des Patienten, d. h. der Compliance, gewonnen werden. In einer aktuellen Studie haben Ärzte versucht, das Verhalten von Adoleszenten, die zu Bewegung angehalten werden sollten, internetbasiert zu überwachen.19 Während ein solches Modell hilfreich sein kann, z. B. auf dem Wege der Telemedizin Patienten mit Rhythmusstörungen des Herzens zu überwachen, so stellt die Kontrolle der Compliance der Patienten jedoch einen Eingriff in ihre persönliche Freiheit dar. Deren Intimsphäre wird verletzt, wenn sie sich den Ratschlägen ihrer Ärzte nicht im privaten Bereich zu entziehen vermögen. Es steht zu fürchten, dass fehlende Mitarbeit in Zeiten knapper Ressourcen ökonomisch sanktioniert werden könnte. Die Folgen solcher Überwachungssysteme für das Verhältnis von Arzt und Patienten sind bisher in der Medizinethik kaum bedacht worden.

Die interaktiven Systeme des Internets ermöglichen denjenigen, die darüber Kontrolle haben, Informationen über Personen zu sammeln. Die Konsequenzen dieses Sachverhaltes für das allgemeine Persönlichkeitsrecht werden noch nicht in ihrem Ausmaß erkannt. Ebenso wie es Kriminalisten gelingt, Täterprofile aus den elektronischen Spuren herauszufiltern, die die Nutzer im Internet hinterlassen, so ist es Versicherungsgesellschaften ein leichtes, Krankheitsprofile von Personen abzuleiten. Eine Antwort auf diese Herausforderung ist noch nicht gefunden.

4. Medizinische Praxis und der Internet-Doktor

Eine besondere Herausforderung stellen die Informationstechnologien dar, wenn sie vom Patienten selbst für Diagnostik und Therapie genutzt werden. Die Verfügung über das Wissen allein garantiert noch nicht eine profunde medizinische Entscheidung. So berichteten kürzlich Ärzte anekdotisch über die Folgen des Gebrauches von Information aus dem Internet für Betroffene. Während Ärzte vom raschen Zugriff auf das Wissen profitieren können, wie etwa anhand des sogenannten Google-Doctors gezeigt worden ist, kann dies für Patienten negative Folgen zeigen. Bei einer entsprechenden Neigung kann der Hinweis auf bestimmte Symptome bzw. Syndrome bei dem Patienten hypochondrische Reaktionen und Ängste auslösen. Diese Folge kann selbst dann eintreten, wenn die Informationsquelle seriös ist und nur Informationen enthält, die dem Stand der medizinischen Kunst entsprechen.

Wenn etwa Symptome falsch gedeutet werden, leiden Patienten nicht selten unter den psychologischen Folgen. Kompliziert wird dies noch, wenn im Internet unkontrolliert Therapien angeboten werden.

Dies verweist auf eine grundlegende Erkenntnis über das Wesen medizinischer Entscheidungsprozesse. Ärztliche Entscheidungen sind nicht Ableitungen von Wissen, sondern ein Handeln. Das Wissen, die Abschätzung der Folgen von Interventionen muss eingebettet werden in den Lebenszusammenhang der Betroffenen. Erst hier erhalten sie Bedeutung. Aber genau diese Leistung kann vermutlich nur schwerlich von den Betroffenen selbst geleistet werden. Hier sind die ärztliche Beratung und die Rolle des beratenden Arztes dringlich notwendig.

In einer freien Gesellschaft kann jedoch nicht verhindert werden, dass Personen auf den Kontakt zu ihren Ärzten verzichten. Deren Kompetenz beruht auf einer durch Ausbildung und unter Anleitung gewonnenen Erfahrung. Auch Informationssysteme, die evidenzbasiertes Wissen vermitteln, ersetzen nicht das Moment der Entscheidung in der medizinischen Praxis. Es gilt, den Einzelfall unter die Regel zu subsumieren. Dies ist aber ein Anwendungsfall nicht der instrumentellen, sondern der praktischen Vernunft. Praxis im Sinne des Aristoteles heißt: handeln.

Dies wird deutlich am Beispiel der Indikation.20 Dabei handelt es sich um ein Ärzten von der Gesellschaft zugestandenes Recht, ein Urteil über die Sinnhaftigkeit einer medizinischen Maßnahme stellen zu dürfen (und die Pflicht, dies auch zu tun!). Dies ist ein Vorrecht. Der Akt der Indikationsstellung enthält ein Werturteil und die daraus abgeleitete Handlungsempfehlung, die jedoch auf evidenzbasiertem Wissen medizinischer Wissenschaft beruhen muss. Dieses Urteil entfällt jedoch bei der Selbstnutzung und diagnostischer/therapeutischer Anwendung internetbasierter Informationen durch die Betroffenen. Damit fehlt aber ein wesentliches Moment medizinischer Praxis.

Die Information, die frei zugänglich ist, kann in vielen Fällen hilfreich sein. Die Einordnung eines Zustandes als Krankheit, die Indikationsstellung und die daraus folgenden sozialen Konsequenzen (Erstattung von Behandlungskosten, Krankschreibung etc.) bedürfen jedoch der intersubjektiven Entscheidung durch eine entsprechende Instanz, wie sie die in Kammern verfasste Ärzteschaft darstellt. Die besondere Rolle, die dem ärztlichen Handeln zukommt, wird in der Pflicht deutlich, einer Ärztekammer anzugehören. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist ein Ort der Freiheit, der sich aber nicht der Kontrolle entzieht. Ärzte dürfen ihre Profession nicht im Umherziehen ausüben. Doch die Verantwortlichkeit eines Internetdoktors wäre nicht zu fassen, sie flottierte frei. Die Gefahren, die durch eine bloße Eigennutzung und Selbstinterpretation drohen, liegen auf der Hand.

Die neuen Informationstechnologien stellen zudem eine besondere Herausforderung dar für das Verhältnis von Ärzten und Patienten. Dabei geht es nicht nur um den Aufwand, der Ärzten zugemutet wird, Patienten zu helfen, die im Internet gewonnene Information zu verarbeiten. Das Internet kann, wie bereits oben ausgeführt, sogar ein hilfreiches Instrument sein, wenn Ärzte auf qualitätsgesicherte Internetseiten verweisen können. Vielmehr geht es um die Herausforderung, die das Internet darstellt, wenn Ärzte nur noch über das Internet für Patienten erreichbar sind. Es ist eine anthropologische Deformation, wenn der persönliche Kontakt nur noch medial vermittelt stattfindet. Daraus ergeben sich bislang nicht absehbare Konsequenzen, etwa im Blick auf die Zuschreibung von Verantwortung für Folgen, die sich aus Empfehlungen ergeben, die auf Webseiten oder im Rahmen einer internetbasierten Beratung erteilt werden.

Der Medizinethiker Göran Collste hat die ethischen Herausforderungen formuliert, die sich durch das Auftreten des Internet-Doktors ergeben.21 Er verdeutlicht sie anhand verschiedener Modelle, in denen die Beziehung zwischen Patienten und Ärzten beschrieben wurde. Beim sog. Ingenieur-Modell kommt es alleine darauf an, bestimmte Informationen, etwa Blutdruck, Temperatur etc. zu bewerten und Folgerungen zu schließen. Diesem Modell kann der Internet-Doktor vielleicht noch gerecht werden. Allerdings erfasst das Ingenieur-Modell nicht die volle Wahrheit der therapeutischen Dimension der Arzt-Patienten-Beziehung. E. Pellegrino und D. Thomasma haben sie als eine „heilende Beziehung“ beschrieben.22 Dabei kommt es im Sinne Martin Bubers auf eine Begegnung zwischen Personen an, auf ein gegenseitiges Verständnis. Die Verpflichtung und die Fähigkeit, eine Diagnose stellen zu können/zu müssen, gründet in der Erfahrung des anderen und seines Leidens. Dies ist nur hermeneutisch zu ergründen.23 Die Wahrnehmung des Leids des anderen, die Einordnung in den Lebenszusammenhang, kann nur schwerlich auf der Basis bloß elektronisch vermittelter Kontakte gelingen.

Gleichzeitig ist Vertrauen die Voraussetzung jeder gelingenden Beziehung von Patient und Arzt. Das Vertrauen verweist auf einen wesentlichen Befund hin, der nicht selten vernachlässigt wird. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist asymmetrisch. Der Kranke ist abhängig, auch in seinen Entscheidungsprozessen. Die internetbasierte Diagnostik und Therapie suggeriert aber, dass der medizinische Entscheidungsprozess vom Patient gesteuert wird. Genau dies widerspricht der reduzierten, durch Krankheit eingeschränkten Autonomie des kranken Menschen.24

Die bloß mediale Vermittlung und Kontaktaufnahme von Arzt und Patient verletzt grundlegende Voraussetzungen dieser Beziehung. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Auch ein Richter ist nicht befugt, ein Urteil alleine aufgrund einer Verhandlung im Rahmen einer Videokonferenz zu fällen. Dabei lassen sich ebenso wie in der Medizin Situationen konstruieren, wo auch dies ohne Schaden denkbar wäre. Im Zusammenhang aber von die Person in ihrer Wesenheit betreffenden Dimensionen wie Krankheit (wie auch der Zuweisung von Schuld und Strafe) ist der persönliche Austausch zwingend. Ärztliche Entscheidung in diesem Sinne ist nicht ersetzbar.

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  6. Es ist eine ethische Verpflichtung, Segnungen des wissenschaftlichen Fortschritts den Patienten zukommen zu lassen.
  7. Vgl. etwa Armstrong W. S., del Rio C., HIV-associated resources on the internet, Top HIV Med (2009); 5: 151-162
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  8. Vgl. etwa Armstrong W. S., del Rio C., siehe Ref. 7
    López-Jornet P., Camacho-Alonso F., siehe Ref. 7
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  13. An dieser Stelle kann selbstredend keine wissenschaftliche Diskussion der Empfehlungen der zuständigen Impfkommissionen erfolgen. Doch ist das Beispiel instruktiv für die Verbreitung offensichtlicher Fehlbehauptungen und ihrer Folgen im Internet und ähnlichen Diensten, hier dem E-Mail-Service.
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    vgl. auch Sahm S., Autonomie und medizinische Indikation, in: Sahm S., Sterbebegleitung und Patientenverfügung, Campus, Frankfurt/Main (2006), S. 64-69
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Anschrift des Autors:

PD Dr. med. habil. Stephan Sahm, Chefarzt Medizinische Klinik I, Ketteler-Krankenhaus, Lichtenplattenweg 85, D-63071 Offenbach/Main
und
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Goethe-Universität, Paul-Ehrlich-Strasse 20-22, D-60596 Frankfurt/Main

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