Professionelle Altenpflege als Erhalten und Aufheben

Imago Hominis (2012); 19(2): 87-95
Ruth Schwerdt

Zusammenfassung

Der Aufsatz bietet eine Interpretation der chassidischen Anekdote über „Das Altern“ im Kontext der dialogischen Philosophie Martin Bubers. Beleuchtet wird das Verhältnis zwischen jüngeren Pflegenden und alten Menschen mit Pflegebedarf in der beruflichen Altenpflege. Dabei erhalten die Kennzeichen professioneller Pflege – berufliches Wissen und Können, Kompetenz im Einsatz dieser Optionen und die Begegnung mit der Person, die Pflege erhält – besondere Aufmerksamkeit.

Schlüsselwörter: Altenpflege, professionelle Pflege, Dialog, Person, Professionalität

Abstract

This article provides an interpretation of a Hasidic anecdote on Ageing referring to Martin Buber´s dialogue philosophy. It investigates the relationship between young professional carers and old persons with nursing needs. Proficiency in nursing is defined as applying knowledge and nursing activities specificly in an authentic relationship to the old person in need of care.

Keywords: Gerontological Nursing, Dialogue, Person, Proficiency


I. Interpretation der chassidischen Anekdote über „Das Altern“

Die folgende chassidische Anekdote wurde von dem Philosophen Martin Buber (1878 - 1965) aufgeschrieben.

Das Altern
„Ein alter Spielmann spielte Rabbi Chanoch vor. Der sagte: ‚Auch Melodien, die altern, verlieren an Geschmack. Diese hat uns vormals, als sie bei Rabbi Bunam gespielt wurde, das Herz erhoben. Jetzt ist ihr Geschmack verloren gegangen.‘
So ist es in Wahrheit. Man muß sich auf das Alter sehr rüsten und bereiten.
Wir beten: ‚Wirf uns nicht hinweg zur Zeit des Alters!‘ Denn dann geht der Geschmack verloren.
Aber zuweilen ist gerade dies das Gute. Denn sehe ich, dass ich nach allem, was ich getan habe, gar nichts bin, so muß ich eben von neuem zu arbeiten beginnen.
Und es heißt von Gott im Gebet: ‚Der an jedem Tag das Werk der Schöpfung erneut‘.“1

Diese Anekdote thematisiert das Erleben des Alterns. Es wird verglichen mit einer Melodie, die einmal erfreut hat, nun aber nicht mehr anrührt. Es folgt die Mahnung, sich auf das Alter vorzubereiten, und die Bitte, im Alter nicht „weggeworfen“ zu werden.

Wie ist diese Bitte gemeint? Stehen die Werke der Älteren in Gefahr, von den Jüngeren „weggeworfen“ zu werden?

Die Anerkennung der Werte und Lebensleistungen der älteren Generationen durch jüngere kann durchaus nachlassen: Wenn eine berufliche Neuerung einmal in den Kanon des anerkannten Wissens und Könnens integriert ist, wird sie selbstverständlich, und ihre Innovationskraft verschwindet. Und wenn die Kinder einmal selbständig sind, verblasst die elterliche Leistung der jahrzehntelangen Erziehung und Unterstützung. Ein einmal beeindruckender Neubau verliert buchstäblich an Wert im Laufe seines Bestands. Und selbst das Engagement der Älteren für die Steigerung der Lebensqualität der nachfolgenden Generationen verliert ihre Eindruckskraft, wenn die Jüngeren einmal selbst die Verantwortung übernommen haben. Die Entbehrungen der jetzt Alten in harten Lebensphasen rücken im Geschichtserleben der Jüngeren, die Krieg und Hunger niemals erlebt haben, in eine Erlebensferne, die der einer Fiktion recht nahe kommt. Überleben in Katastrophen, Wiederaufbau nach umfassender Zerstörung, Leben in durch den Tod zerrissenen Familien wird in den Augen der Jüngeren Geschichte. Die Lebenswerte, die den Älteren ihr Überleben ermöglicht haben – Fleiß und Durchhalten um jeden Preis, Pflichtbewusstsein und eiserne Disziplin, Erhaltung von Ehe- und Familienstrukturen, auch um den Preis großer Opfer der Beteiligten – wirken antiquiert. Die Jüngeren werden nun, da sie in der Produktivität ihres eigenen Lebens aufgehen, von eigenen Lebensaufgaben in Anspruch genommen.

Der Appell „Wirf uns nicht hinweg zur Zeit des Alters!“ gilt aber nicht nur in Bezug auf Lebensleistungen. Er ist existentieller und verzweifelter! Aus ihm spricht die Furcht, als „Person“ missachtet und entfernt zu werden, also die Würde und jegliche Bedeutung zu verlieren.

In der Begründung – „Denn dann geht der Geschmack verloren.“ – wird angezeigt, dass dann, wenn die Person verworfen wird, die Möglichkeit versiegt, „Geschmack“ zu finden. Hier wird nicht die Vorstellung vermittelt, dass im Altern kontinuierlich Lebensqualität eingebüßt würde. Wenn ich als alter Mensch von anderen „weggeworfen“ werde, verliere ich vielmehr meine Freude am Leben, ja am Dasein überhaupt.

Die Bitte ist so radikal, dass sie im Gebet an Gott gerichtet wird: Gott soll den gebrechlich werdenden Menschen (weiter) als Person gelten lassen. Der Bezug zu Gott wird als die Gemeinschaft angesprochen, in der der Dialog nicht versiegen soll, um den Lebenssinn nicht zu verlieren. Ein Weggeworfenwerden durch Gott wäre die letzte und vernichtende Absage an den Menschen, eine Verneinung seiner Möglichkeit, die das Weggeworfenwerden durch Mitmenschen ultimativ übertreffen würde.

II. „Weggeworfenwerden“ als Aberkennung der Personhaftigkeit

Die Geste des Wegwerfens ist aktiver Ausdruck von Verachtung. „Weggeworfenwerden“ steht für das Erleben, in die Bedeutungslosigkeit gestoßen zu werden. Beide – das Wegwerfen und das Weggeworfenwerden – nehmen den „Geschmack“, den Sinn, weil Beziehung aufgekündigt wird.

Beziehung aufzukündigen, bedeutet nach Bubers Menschenverständnis gleichsam, dem Einzelnen den Boden unter den Füßen wegzuziehen und ihn ins Leere fallen zu lassen: „Die fundamentale Tatsache der menschlichen Existenz ist der Mensch mit dem Menschen. “.2 Nach Buber kann der Mensch zwei „Grundworte“ sprechen: „Ich-Du“ und „Ich-Es“ (bzw. „Ich-Er“, „Ich-Sie“). „Ich-Du stiftet die Welt der Beziehung“, „Ich-Es“ gehört zur „Welt der Erfahrung“.3 Das „Es“ wird durch Beobachtung oder Betrachtung erfasst;4 dem „Du“ wird begegnet. Das „Ich“ kann es als Einzelnes nicht geben,5 sondern nur in der Hinwendung zu einem „Du“. Die Welt der Beziehung ist die wesentliche, während die „Es-Welt“ zwar Leben erhält6 und Mitteilungen ermöglicht, aber kein „Innewerden“ und keine „Antwort“.

Der leibseelische Mensch kann nach Buber ausschließlich als kontextueller in einer Situation und als Sozialwesen gedacht werden. Erst der Dialog bringt Personhaftigkeit hervor – Identität ist immer eine soziale. Als solche kann sie niemals von einem Ich erzwungen oder verstärkt werden, sondern nur im „Zwischen“ des Dialogs – als direkte, wechselseitige Interaktion mit einem Gegenüber in einer Begegnung – geschehen: „Das Du begegnet mir von Gnaden – durch Suchen wird es nicht gefunden.“7 Das, was der einzelne Mensch tun kann (und soll), ist, sich hinzuwenden, zu antworten: „dass ich zu ihm das Grundwort spreche, ist Tat meines Wesens, meine Wesenstat. Das Du begegnet mir. Aber ich trete in die unmittelbare Beziehung zu ihm. So ist die Beziehung Erwähltwerden und Erwählen, Passion und Aktion in einem.“8

In diesem Menschenverständnis bedeutet „Wegwerfen“ die härteste Aufkündigung der Dialogbereitschaft, das schroffste Abwenden. Es ist die Aufkündigung des „Ich-Du“ Grundworts. Es ist die Geste der Vergegenständlichung eines „Ich“, das keine Chance mehr hat, Antwort zu erhalten und zu antworten, zum „Es“.

III. Gefahren des „Wegwerfens“ in der beruflichen Altenpflege

Die Betreuung älterer Menschen mit Pflegebedarf erfolgt im stationären und teilstationären sowie im ambulanten Bereich meist über mehrere Monate oder sogar Jahre. Während im Krankenhausbereich die medizinische und pflegerische Versorgung in einer Ausnahmesituation notwendig wird, die oft die Bedrohlichkeit einer existentiellen Krise erreicht, finden die Einsätze in der Langzeitpflege im Alltag der zu Pflegenden statt; und diese werden selbst zu einem Teil des Alltags der älteren Menschen.

Den Pflegenden mag es auffallen, dass die zu pflegenden Älteren sich mit den immer gleichen Daseinsthemen befassen, dass sie häufig besondere Ereignisse aus ihrer Lebensgeschichte hervorheben und die Bedeutung unterstreichen, die diese für ihr weiteres Leben hatten.

Häufig spielen Verluste für die jetzt älteren Menschen eine große Rolle:

  • Vertreibung aus der Heimat
  • Verlust von Ehemännern, Söhnen und Vätern,
      die im Krieg fielen oder vermisst blieben
  • Verlust vertrauter Personen durch Krankheit
  • Verlust von Selbständigkeit und Einfluss
  • Verlust der Gesundheit und Schaffenskraft
  • Verlust körperlicher Attraktivität
  • Verlust der eigenen Wohnung nach Heimüber-
      siedlung

Zunehmende Verlusterfahrungen und vielfältige Normenkonflikte können auf Seiten der zu Pflegenden Aggressivität bis zur Suizidalität, Regressivität bis zur Apathie bewirken. Auf der Seite der Pflegenden sind Überforderungsreaktionen wie Burnout oder Coolout9 und sogar Akte der Gewalt von strukturellen bis zu körperlich-direkten Formen wie der mechanischen Fixierung zu befürchten. Diese Konflikte können sich vor allem mit den nun in die Pflegeheime eintretenden „Kriegskindern“10 entfalten. Die Menschen dieser Kohorten waren im Krieg noch Kinder, die zu früh Erwachsenenrollen übernehmen mussten. Sie mussten Eltern und Geschwister ersetzen oder waren ganz auf sich allein gestellt. Sie waren schonungslos den grausamen Auswirkungen des Krieges ausgesetzt und mussten nach Kriegsende Tote begraben und Trümmer wegräumen. Sie haben gelernt, eigene Bedürfnisse nicht zu beachten. Etwa ein Drittel dieser Kohorten hat schwere traumatische Schädigungen erlitten, ein weiteres knappes Drittel traumatische Erfahrungen gemacht, und nur 30 bis 40% haben keine traumatisierend schädigenden Erlebnisse gehabt.11

Jüngeren werden ihre Andeutungen der Kriegs- und Nachkriegsentbehrungen leicht grotesk vorkommen. Manche Reaktionen des Erschreckens, des Rückzugs und der Abwehr werden sie kaum aus dem Kontext der frühen Lebenserfahrungen heraus verstehen und einordnen, geschweige denn handhaben können.

Pflegekonzepte zum Umgang mit Menschen mit posttraumatischem Psychosyndrom sind noch nicht ausgearbeitet. Pflegende stehen oft hilflos der Zurückgezogenheit eines Folteropfers, der Berührungsangst eines Vergewaltigungsopfers, dem Sammeln und Horten von Lebensmitteln bei einem Menschen, der jahrelangen Hunger überlebt hat, aber auch den Vorwürfen der Undankbarkeit für die Leistungen der Älteren und der mangelnden Einsatzbereitschaft der Jungen gegenüber. Diese können Wert- und Normenkonflikte als unlösbar erleben, wenn ihre eigenen Überzeugungen denjenigen der von ihnen gepflegten Menschen widersprechen, wenn sie nicht verstehen, wie nun hilfebedürftig Gewordene schuldig werden konnten am Tod oder dem Schaden von Mitmenschen. Sie können leiden an den ausdrücklichen und verdeckten Vorwürfen von Angehörigen, die ihre PartnerInnen oder Eltern ins Heim begleitet haben und nun überzogene Erwartungen an die institutionelle Pflege richten.

Pflegende können aber auch von der Tiefe und Eindringlichkeit der erzählten Erlebnisse älterer Menschen, mit denen sie in deren biografisch geprägtem Verhalten konfrontiert werden, überwältigt sein, sodass sie sich überidentifizieren. Aber die Lebenswerte und Erlebensinhalte können ihnen auch so fremd und unvorstellbar vorkommen, dass sie sich überdistanzieren.

Die geschilderten Reaktionen und Konflikte können durchaus dazu führen, dass beruflich Helfende sich den alten Menschen nicht mehr zuwenden, sich nicht mehr auf ihre Erlebensinhalte, die ihre Identität und Biografie ausmachen, einlassen und sie sich stattdessen auf ein sachlich distanziertes Verhältnis im Rahmen eines verrichtungsorientierten Arbeitsauftrags zurückziehen.

IV. Die Bedeutung dialogischer Personhaftigkeit in der Altenpflege

Die Dialogische Philosophie beinhaltet einen Lösungsansatz: Nach Martin Buber ist der Mensch in der Lage, sich durch „Distanzierung und Verselbständigung“ in ein Verhältnis zu seiner Mitwelt zu setzen.12 Erst aufgrund dieser Fähigkeit kann er überhaupt „In-Beziehung-Treten“,13 denn diese beruht ja elementar darauf, dass die Eigenständigkeit des Anderen gewahrt bleibt. Erst die „Individuation“ lässt die „Verschiedenen“ einander erkennen, und zugleich begrenzt sie die Erkennbarkeit der „Verschiedenen“.14

In der Pflegebeziehung ist demnach zunächst die Eigenständigkeit des zu pflegenden Menschen zu akzeptieren: Das „Anreden gründet sich auf die Setzung und Anerkennung der selbständigen Andersheit des Andern“.15

Diese Anerkennung beugt einer Überidentifikation mit den Lebensthemen und Bedürfnissen des Menschen mit Pflegebedarf vor und mündet dennoch nicht in eine bloß sachliche Distanz zu den zu pflegenden Menschen, die in der Gefahr stünde, das Machtgefälle zwischen dem pflegebedürftigen und dem die Pflege leistenden Menschen zu zementieren. Martin Bubers Begriff der „Beziehung“ integriert die beiden „Grundworte“: Die Ich-Es-Relation ist dem Wissen und Können der Pflege in seinen formalen Bedingungen zuzuordnen. Da in einem Beruf zielgerichtet und strukturiert vorzugehen ist, ist dieses Grundwort unverzichtbar. Da aber die Pflegeperson das Medium ist, mit dem das Wissen und Können zum Nutzen einer Person mit Pflegebedarf eingesetzt wird, ist das „Ich-Du“-Grundwort elementar. Intentionale, erfolgsorientierte Pflege kann im Rahmen der professionellen Pflegebeziehung die Begegnung „aktual“ verwirklichen oder diese „latent“ ruhen lassen,16 aber sie bleibt das Wesentliche der menschlichen Bezogenheit, also auch der Pflege. Der „Primat des Dialogischen“ realisiert sich also nicht darin, dass Menschen in ununterbrochener Begegnung stehen sollen: „Jede wirkliche Beziehung in der Welt vollzieht sich im Wechsel von Aktualität und Latenz, jedes geeinzelte Du muss sich zum Es verpuppen, um wieder neu sich zu beflügeln.“17

Es ergibt sich, dass erst der Wechsel von Aktualität und Latenz die Kontinuität von Verantwortung ermöglicht: In der Latenz der Pflegebeziehung besteht die (Ur)Distanz, aus der heraus sowohl Pflegebedarf als auch Potentiale und Ressourcen systematisch erfasst und Gesundheitsprobleme in den Gesundheitsprozess und in die Lebenssituation des Menschen mit Pflegebedarf, orientiert an seinen Lebenswerten, eingeordnet werden können. Validiert werden diese Ergebnisse jedoch in der Begegnung; hier erfolgt die Priorisierung. Entscheidungen über Ziele und Maßnahmen bewähren sich in dialogischer Sorge.18

Laut Buber vollzieht sich gelingendes Leben im „Lebensrhythmus“ des „Wechsel(s) von Aktualität und … Latenz“.19 Ebenso gelingt die Pflege von Menschen mit Pflegebedarf in diesem Rhythmus: Die besten verfügbaren allgemeinen Erkenntnisse aus der Literatur, aber auch die individuumsbezogenen Erkenntnisse aus der Beobachtung und Betrachtung der gegenwärtigen Situation müssen abrufbar sein mit dem Ziel, dem zu pflegenden Menschen ein dialogisches Leben zu ermöglichen, das ihm persönlich entspricht. Dann erst kann gewährleistet sein, dass die eingesetzten Kompetenzen der Person tatsächlich gerecht werden und sie in ihrem individuellen Lebensvollzug unterstützen.

Ein älterer Mensch mit Pflegebedarf ist gerade aufgrund seiner Bedürftigkeit besonders verletzlich und gefährdet, „weggeworfen“ zu werden. Im Verständnisrahmen der dialogischen Philosophie schützt das „Apriori der Beziehung“20 vor dem Weggeworfenwerden und dem Wegwerfen, weil das Gegenüber als ein „Du“ nicht zur Verfügung steht. Die „Antwort“ in der Begegnung kann nicht erzwungen werden. Eine Person mit Pflegebedarf entspricht als Individuum weder standardisierten Bedarfsbeschreibungen noch kann die Situation an standardisiertes Wissen angepasst werden. Seine Eigenheit besteht als prinzipieller Respektappell unabhängig von Außenerwartungen an sein Erleben und Verhalten. Das Primat des Dialogs lässt Fremdbestimmung nicht zu, sondern verlangt, dass die Autonomie des aufgrund seiner Hilfebedürftigkeit verletzlichen Menschen im Rahmen dialogischer Sorge gefördert wird.

Dialogische Sorge wird stets von einem Widerspruch zwischen Theorie und Praxis der Versorgung ausgehen, weil die Theorie des Wissens und Könnens immer nur im Latenzbereich der Pflegebeziehung besteht. Professionelle Ziele, die nicht im Dialog mit dem pflegebedürftigen Menschen validiert sind, müssen notwendig in Konflikt mit der Praxis geraten, weil der konkrete Mensch mit Pflegebedarf als „Gegenüber“ den Widerstand der Autonomie bietet und bieten soll, die ein Dialog als wechselseitige konstituiert. Zugleich ist genau an dieser Stelle die pflegerische Verantwortung der Pflegenden begrenzt: Sie können Angebote von Pflegeleistungen auf Basis ihrer fachlichen Expertise machen – doch in Anspruch genommen werden sie durch den Menschen mit Pflegebedarf. Die Verantwortung der Pflege ist also immer schon geteilt.

Berufliche Pflege wird als professionelle also den Dialog in den Fokus rücken. Das beste verfügbare Wissen schafft das Handlungsrepertoire, das die Pflegeperson virtuos einsetzen kann. Zugleich ist ihre Dialogbereitschaft die Grundbedingung für die Unterstützung des pflegebedürftigen Menschen als Person. Ein Primat des fachlichen Wissens und Könnens könnte den Anspruch von Professionalität nicht allein erfüllen, denn es würde das Grundwort „Ich-Es/Er/Sie“ isolieren. Ebenso wenig kann eine elementare Dialogbereitschaft allein – ohne die Basis der Fachlichkeit – professionelle Qualität erwirken, denn es würde das Grundwort „Ich-Du“ überbetonen. Übersteigerte empathische Betroffenheit würde die Handlungsfähigkeit nehmen.

Gute Pflege ereignet sich in der Verselbständigung des Gegenübers, dessen Autonomie gerade aufgrund seiner Bedürftigkeit und Gefährdetheit dialogische Unterstützung braucht. In dem Maße, wie die Pflegeperson hierzu in der Lage ist, die Verselbständigung des Menschen mit Pflegebedarf zu akzeptieren und zu fördern und dabei als selbständiges Gegenüber in der Pflegebeziehung agiert, steigert sich die Professionalität der Pflege.21 Wenn hingegen die Person mit Pflegebedarf als austauschbares Element einer Reihe vergegenständlicht wird oder lediglich eigene Werte und Normen auf den Menschen mit Pflegebedarf projiziert werden, ohne die Lebenswerte, den Lebensentwurf und das Erleben des Gegenübers zu entdecken, der pflegerische Dialog also nicht zustande kommt, gelangt keiner der Beteiligten an der Pflege zur Personhaftigkeit; beide verbleiben im Ich-Es/Er/Sie-Grundwort.

Das Konzept von der Aktualität und Latenz in der Pflegebeziehung kann analog der Formel von der „Kunst der Pflege“, die von Pflegetheoretikerinnen wie z. B. Virginia Henderson22 und Hildegard E. Peplau,23 Dorothea E. Orem24 und Monika Krohwinkel25 zum Wesen der Pflege erklärt werden. Nach Peplau ist das Ziel der Pflege die Mündigkeit, die Selbständigkeit des Menschen mit Pflegebedarf, der als Ergebnis der pflegerischen Interaktion gelernt hat, mit seiner Einschränkung umzugehen und als Mitglied der Gesellschaft zu agieren. Forschungsergebnisse zur Kompetenzentwicklung26 in der Pflege beschreiben den Kompetenzerwerb als einen Prozess, in dem zunächst die sachlich-technisch-handwerkliche Dimension der Pflege angeeignet wird. Dieses Wissen und Können wird an konkreten Situationen einer wachsenden Zahl von Menschen mit Pflegebedarf relativiert und differenziert. Das Entwicklungsziel besteht darin, dass die Pflegeperson die handwerklichen Fähigkeiten und Fertigkeiten ohne Mühe beherrscht und sie souverän in intuitiv erfassten Pflegesituationen in der Interaktion mit Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen einsetzt – sie werden der professionellen Pflegebeziehung einverleibt.

Expertentum schließlich zeichnet sich dadurch aus, dass die einzelne Person des älteren Menschen mit Pflegebedarf empathisch und dialogisch erlebt wird. Das Verstehen wird nicht von abstrakten, allgemeinen Normen abgeleitet, sondern Regelwissen und Fertigkeiten werden in den Dienst der Personbeziehung als „Ort der Pflege“ gestellt.27 Zugleich wird aktuelles Erleben und Verhalten in den biografischen Kontext gestellt, in dem es in „rehistorisierender“ Perspektive28 in die Zuwendung zur Person integriert wird.

V. Authentizität als Prävention des „Alterns“

Der Appell „Wirf uns nicht hinweg zur Zeit des Alters!“ ist eine existentielle Bitte um Verschonung. Überraschend wirkt – nach der Radikalität dieser Bitte – die Umwidmung der Gefahr, weggeworfen zu werden. Fast lapidar wirkt die Überlegung: „Aber zuweilen ist gerade dies das Gute. Denn sehe ich, dass ich nach allem, was ich getan habe, gar nichts bin, so muß ich eben von neuem zu arbeiten beginnen.“

Die Androhung, verstoßen zu werden, wirkt wie ein Stachel, der den Aufbruch beschleunigt. Die Alternative zum Altern ist, sich stets zu verjüngen. Paradoxer Weise erfolgt dieser Appell gerade im Zusammenhang mit der verstärkten Mahnung, sich auf das Alter gut vorzubereiten. Die in dieser Anekdote vermittelte Erkenntnis ist, dass nicht das kalendarische Alter „alt“ macht und den „Geschmack“ schwinden lässt, sondern der Verzicht darauf, sich immer neu zu bemühen. „Alter“ wird zum Bild für „Erstarrung“. Jungbleiben und Verjüngung sind dadurch erreichbar, dass immer neue Werke und Begegnungen angestrebt werden.

In diesem Verständnis kann auch ein kalendarisch junger Mensch „alt“ sein, nämlich dann, wenn er erstarrt in seiner Ansprechbarkeit und seine Bereitschaft aufgibt, „Antwort“ zu geben. Nicht Tradition und Bestand, sondern dialogisches Leben ist die Bedingung, Wert zu erleben. Für früher erreichte Meilensteine kann also ein alter Mensch sowenig bleibenden Respekt erwarten wie eine Pflegeperson für erbrachte Leistungen. Identität wird nicht nur als soziale definiert, sondern als unabschließbar prozessuale. Weder das hohe Lebensalter noch das niedrigere hat einen Wertanspruch an sich, sondern nur das Gehen, das „Arbeiten“.

Und nun wird „Geschmack“ selbst als Teil dialogischen Lebens erkennbar: Er stellt sich erst ein, wenn Dialogbereitschaft besteht, und er geht verloren, wenn sie aufgekündigt wird. Dieser Appell richtet sich an die Jüngeren, erschallt doch der Ausruf „Wirf uns nicht hinweg zur Zeit des Alters!“ vorausschauend durch den Betenden, der selbst noch nicht das hohe Alter erreicht hat. Die Bitte ist zwar wörtlich an Gott gerichtet; sie adressiert aber zugleich jeden, der die Geschichte hört.

Das Augenzwinkern bei dem Hinweis auf „das Gute“ lässt sich erahnen. Einen starken Eindruck hinterlässt seine emanzipatorische Kraft: Alte Menschen sollen nicht an die Einsatzbereitschaft von Jüngeren appellieren, sondern sich ihrer Eigenverantwortung für ihr Dasein vergegenwärtigen.

Unter der Bedingung, dass die Bereitschaft zu dieser Verjüngung und der Entschluss, niemals in dieser Bemühung innezuhalten, besteht, kann das Alter nach Buber eine glückliche Lebensphase sein: „Altsein ist ja ein herrliches Ding, wenn man nicht verlernt hat, was anfangen heißt …“.29

VI. Authentizität als Prinzip gesellschaftlicher Solidarität zwischen den Generationen

Aus gesellschaftlicher Perspektive ist berufliche Altenpflege nicht nur Leistungserbringung im Rahmen gesellschaftlicher Solidarität für ältere Mitmenschen, die sich darin ausdrückt, dass finanzielle, qualifikatorische und institutionelle Ressourcen bereitgestellt werden. Im Sinne Bubers besteht sie in der Bereitschaft, ältere Menschen mit und ohne Pflegebedarf als Gegenüber anzusprechen, ihnen zu antworten im Rahmen eines authentischen Dialogs. Eine Gesellschaft, die den Dialog mit älter gewordenen Mitgliedern, die hilfebedürftiger geworden sind, aufkündigt, bringt sich selbst um eine Möglichkeit, dialogisch zu leben. Sie verarmt in ihren Potentialen. Eine Vergegenständlichung von Hilfebedürftigkeit und Hilfeleistung, wie sie z. B. in der Sozialen Pflegeversicherung gestaltet ist, kann nur unter der Voraussetzung zu authentischer Hilfe führen, dass sie in den Rahmen des Lebensvollzugs als gemeinsamen und in den Dialog aller Gemeinschaftsmitglieder als gleichberechtigter eingebettet ist. Dieser Lebensvollzug wird im Gesetzestext als „Kultur des Helfens“ angesprochen.

Die Altenpflege bietet Jüngeren hervorragende Gelegenheiten, ihre Dialogbereitschaft und -fähigkeit zu erhalten. Sie werden aufgrund der unterschiedlichen Lebensentwürfe und Biografien der Älteren ständig konfrontiert mit der Vielfalt von Lebensmöglichkeiten. Die selbst praktizierte wird fortlaufend als nur eine Option bewusst, inmitten einer Vielzahl möglicher Lebensentscheidungen und -wege. Altenpflegende erhalten – wenn sie den Perspektivenwechsel zur Grundtechnik ihres Handelns erheben30 – stets Anstoß, ihr eigenes Leben authentisch zu gestalten. Sie können zugleich Werke schaffen, indem sie Kenntnisse über erfolgreiche Pflegekonzepte strukturiert sammeln und veröffentlichen, während sie den einzelnen Menschen mit Pflegebedarf dadurch ehren, dass sie ihn als Gegenüber im Dialog ernstnehmen, ihn „aufheben“, wenn er sich „hinweggeworfen“ fühlt, und seine Personhaftigkeit durch Pflege als Dialog erhalten.

Die Chance auf eine gute Pflegequalität erhöht sich mit der Qualität der Kenntnisse und methodischen Kompetenzen, über die Altenpflegende verfügen, denn sie bieten das Konzept- und Methodenrepertoire. Je reicher dieses Repertoire an vielfältigen und differenzierten Optionen für Wissen und Können ist, desto stärker muss die Virtuosität der Pflegefachpersonen ausfallen, mit der sie das jeweils Passende für eine Person und Situation auswählen können. Das Potential und die Virtuosität zu seinem Einsatz sind aber nur so wertvoll wie die Fähigkeit der Pflegenden, sie im Rahmen einer Beziehung einzusetzen, und so erfolgreich wie die Bereitschaft der Personen mit Pflegebedarf, sich auf einen Dialog mit Jüngeren einzulassen, die über Mittel verfügen, ihnen im selbständigen Lebensvollzug Unterstützung zu geben. Denn erst die „Passung“ legitimiert die Prioritätensetzung!

Die Pflege hat so ein „doppeltes Mandat“:31 Einerseits ist die beruflich qualifizierte Pflegeperson gesellschaftlich beauftragt, auf einem definierten Qualitätsniveau Pflegeleistungen zu erbringen. Sie darf dabei die Grenzen der zur Verfügung gestellten Ressourcen nicht überschreiten. Zugleich erhält sie den direkten Pflegeauftrag durch den pflegebedürftigen Menschen, für den sie ihren Einsatz erbringt. Mit besonders hilfebedürftigen und verletzlichen Mitmenschen im Dialog zu stehen, ist ein schützenswertes Gut einer Kultur, die authentisch sein will, da das Weggeworfenwerden genauso wie das Wegwerfen Personhaftigkeit bei beiden Beteiligten – den Werfenden wie den Geworfenen - suspendiert.

Referenzen

  1. Buber M., Die Erzählungen der Chassidim, 12. Aufl., Manesse, Zürich (1996), S. 842
  2. Buber M., Das Problem des Menschen, 5., verb. Aufl., Schneider, Heidelberg (1982). S. 164
  3. Buber M., Das dialogische Prinzip, 6., durchges. Aufl., Schneider, Gerlingen (1992), S. 10
  4. ebd., S. 150 f.
  5. vgl. ebd., S. 8
  6. ebd., S. 38
  7. ebd., S. 15
  8. ebd.
  9. Kersting K., „Coolout im Pflegealltag“, Pflege & Gesellschaft (1999); 4 (3): 53-59; Kersting K., Berufsbildung zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Eine Studie zur moralischen Desensibilisierung, Huber, Bern, Göttingen, Toronto, Seattle (2002)
  10. vgl. Radebold H., Kindheiten im II. Weltkrieg und ihre Folgen, erw. u. überarb. Aufl., Psychosozial Verlag, Gießen (2004); vgl. Radebold H., Während des Alterns anzutreffende Folgen: Aktueller Kenntnisstand, in: Radebold H., Heuft G., Fooken I. (Hrsg.), Kindheiten im Zweiten Weltkrieg. Kriegserfahrungen und deren Folgen aus psychohistorischer Perspektive, 2. Aufl., Juventa, Weinheim, München (2009) S. 139-148; vgl. Tagay S., Gunzelmann T., Brähler E., Posttraumatische Belastungsstörungen alter Menschen, Psychotherapie (2009); 14 (2): 234-342, cip-medien.com/media/download_gallery/09-02/10.%20Tagay.pdf  (letzter Zugriff am 5. Januar 2012)
  11. Radebold H. (2009), siehe Ref. 10, S. 144
  12. Buber M., Urdistanz und Beziehung, 4., verb. Aufl., Schneider, Heidelberg (1978), S. 17
  13. ebd., S. 11
  14. Buber M., siehe Ref. 3, S. 101
  15. Buber M., Dialogisches Leben. Gesammelte philosophische und pädagogische Schriften, Müller, Zürich (1947), S. 29
  16. Buber M., siehe Ref. 3, S. 21
  17. ebd., S. 101
  18. vgl. Schwerdt R., Eine Ethik für die Altenpflege. Ein transdisziplinärer Versuch aus der Auseinandersetzung mit Peter Singer, Hans Jonas und Martin Buber, Reihe Pflegewissenschaft der Robert Bosch Stiftung, Huber, Bern, Göttingen, Toronto, Seattle (1998), S. 401 ff.
  19. Buber M., siehe Ref. 3, S. 115
  20. ebd., S. 31, 72
  21. vgl. Schwerdt R., Advanced Nursing Practice: Pflegeethische Implikationen anhand eines Fallbeispiels, in: Monteverde S. (Hrsg.), Handbuch Pflegeethik. Ethisch denken und handeln in den Praxisfeldern der Pflege, Kohlhammer, Stuttgart (2011), S. 42-57; Schwerdt R., „Wirf uns nicht weg zur Zeit des Alters! Denn dann geht der Geschmack verloren.” Altenpflege als tätiger Dialog zwischen Generaktionen, PEP. Pflegekompetenz. Ethik. Persönlichkeit (2000); 28(1): 6-9 (Teil 1), 28(2): 4-6 (Teil 2)
  22. Henderson V., Basic Principles of Nursing Care, American Nurses Association (ANA), Silver Spring, Maryland (1997)
  23. Peplau H. E., Interpersonal Relations in Nursing Interpersonal Relations in Nursing: A Conceptual Frame of Reference for Psychodynamic Nursing, Springer, New York (2000)
  24. Orem D. E., Strukturkonzepte der Pflegepraxis, Ullstein Mosby, Berlin, Wiesbaden (1997)
  25. Krohwinkel M., Rehabilitierende Prozesspflege am Beispiel von Apoplexiekranken. Fördernde Prozesspflege als System, 3. Durchges. Aufl., Huber, Bern, Göttingen, Toronto, Seattle (2007)
  26. Benner P., From Novice to Expert: Excellence and Power in Clinical Nursing Practice, Addison Wesley, München (1984); Benner P., Tanner C. A, Chesla C. A., Expertise in Nursing Practice: Caring, Clinical Judgment & Ethics, Springer, New York (2009)
  27. vgl. Schwerdt R., siehe Ref. 18, S. 300 ff.
  28. Jantzen W., Lanwer-Koppelin W., Diagnostik als Rehistorisierung, Wissenschaftsverlag Spiess, Berlin (1996)
  29. Goes A., Lebendige Legende, in: Licharz W. (Hrsg.), Dialog mit Martin Buber, Haag + Herchen, Frankfurt am Main (1982), S. 425-440, 426
  30. vgl. Schwerdt R., siehe Ref. 21
  31. Haas M., Professionalisierung der Altenpflege. Risiken – Hemmnisse – Chancen, in: Greb U. (Hrsg.), Lernfelder fachdidaktisch interpretieren. Werkstattberichte zur Gestaltung von Gesundheits- und Krankheitsthemen im schulischen Bereich (12-44), Mabuse, Frankfurt am Main (2005)

Anschrift der Autorin:

Prof. Dr. Ruth Schwerdt
Fachhochschule Frankfurt am Main – University of Applied Sciences, 
Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit
Gebäude 2, Raum 229
Nibelungenplatz 1, D-60318 Frankfurt a. Main
schwerdt(at)fb4.fh-frankfurt.de

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