Überlegungen zur sozialen Gerechtigkeit im Gesundheitswesen

Imago Hominis (2013); 20(1): 31-42
Christian Erk

Zusammenfassung

(Soziale) Gerechtigkeit wird gemeinhin als Prinzip betrachtet, das beim Management und insbesondere der Verteilung der knappen Ressourcen des Gesundheitswesens berücksichtigt werden sollte. Der vorliegende Artikel setzt an dieser Beobachtung an und fragt, was es bedeutet, (soziale) Gerechtigkeit auf Makroebene zum Maßstab der Rationierung bzw. Priorisierung im Gesundheitswesen zu machen. Aus Sicht der hierbei vertretenen aristotelisch-thomistischen Position hat (soziale) Gerechtigkeit nicht primär mit Gleichheit, sondern vor allem mit der Berücksichtigung der zwischen einer Gemeinschaft und ihren Gliedern bestehenden und sich am Maßstab des „bonum commune“ bemessenden (Anspruchs-)Rechten und Pflichten zu tun. Der Artikel möchte darüberhinaus dafür sensibilisieren, dass eine wesentliche Weichenstellung für eine gesunde Zukunft unserer Gesundheitswesen darin besteht, die Konzepte des „bonum commune“ und der „caritas socialis“ in das Zentrum der Reformüberlegungen zu stellen.

Schlüsselwörter: (Soziale) Gerechtigkeit, Gesundheit, Management, bonum commune, Rechte, Pflichten

Abstract

(Social) justice is commonly taken to be a principle that is to be respected when thinking about the management and especially the allocation of the scarce resources of our health care systems. Based on this observation, this article asks what it means to make (social) justice the yardstick of the macro-level rationing respectively priorisation in our health care systems. From an aristotelian-thomistic perspective (social) justice is not primarily concerned with equality but rather with respecting the (claim-)rights and duties that exist between a community and its members and that are derived from the concept “bonum commune”. Furthermore, the article at hand wants to sensitise its readers to the insight that setting the course for a healthy future of our health care systems requires us to make the concepts of the “common good” and the “caritas socialis” the centre of our reform considerations.

Keywords: (Social) Justice, Health, Rights, Duties, Social Charity (caritas socialis)


1. Heilkunst, Ökonomie/Management und Gerechtigkeit

Wie Aristoteles im ersten Buch seiner Nikomachischen Ethik erwähnt,1 haben Heilkunst und Ökonomie unterschiedliche Ziele und Zwecke: Erstere besteht um des Gutes der Gesundheit willen, zweitere ist die Kunst der guten Verwaltung des Vermögens (bzw. des guten Managements) eines Haushalts unter der Voraussetzung von Knappheit.2 Unter Vermögen im eigentlichen Sinn („ἀληθινὸς πλοῦτος“) versteht Aristoteles aber nicht ziel- und zügellos akkumulierten Reichtum, sondern den Besitz der zu einem guten Leben einer Gemeinschaft nötigen und nützlichen – und damit hinsichtlich ihrer Quantität begrenzten – Mittel.3 Ziel von Ökonomie bzw. Management ist also nicht die Maximierung von Besitz, sondern die Verwirklichung des guten Lebens resp. des „bonum commune“ einer Gemeinschaft durch einen den Bedingungen der Knappheit angepassten Umgang mit den hierfür nötigen und nützlichen sowie unterschiedlichen Nutzungen zuführbaren Mitteln.

Nun gehört zu einem guten Leben – neben einer Reihe von anderen Gütern – zweifellos der Besitz des Gutes Gesundheit.4 Da wir – aus gesamtgesellschaftlicher Makroperspektive betrachtet – aber nur begrenzte Mittel und Ressourcen besitzen, müssen wir entscheiden, wie viele der uns gesamthaft zur Verfügung stehenden Mittel und Ressourcen wir auf dieser Makroebene der Aufgabe der Wiederherstellung und Erhaltung der Gesundheit widmen und welche Mittel wir zur Verwirklichung anderer Güter aufwenden können bzw. wollen. Ist dieser Allokationsentscheid über die Ressourcenausstattung unserer Gesundheitswesen gefallen, ist auf weiteren Ebenen (Meso- und Mikroebene) zu entscheiden, wie die allozierten Mittel innerhalb des Gesundheitswesens auf Teilaufgaben und einzelne Personen aufgeteilt werden sollen.

Heilkunst und Ökonomie geraten nun immer dann in Konflikt zueinander, wenn das aus Sicht der Heilkunst Notwendige die durch die vorhandene Ressourcenausstattung bestimmten Grenzen des ökonomisch Möglichen überschreitet, d. h. wenn die Summe der benötigten Mittel (Aufwand) die Summe der vorhandenen Mittel (Ertrag) übersteigt – egal ob auf einer Makro-, Meso- oder Mikroebene. Wenn wir den gegenwärtig auf der Makroebene unserer Gesundheitswesen schwelenden Konflikt zwischen benötigten und vorhandenen Mitteln betrachten, so stellt die Lösung dieses Konflikts eine nicht unwesentliche Managementherausforderung dar, zu deren Bewältigung grundsätzlich drei Instrumente zur Verfügung stehen:5

  • Erhöhung des Ertrags:
    • 1. Erhöhung der dem Gesundheitssystem zur Verfügung stehenden Mittel und Ressourcen (z. B. durch Erhöhung von Versicherungsprämien, Steuern und/oder Franchise/ Selbstbehalt)
  • Senkung des Aufwands:
    • 2. Rationalisierung: Ausschöpfen von Wirtschaftlichkeitsreserven durch Effizienzsteigerungen
    • 3. Begrenzung des Leistungsumfangs (Leistungsbegrenzung resp. Rationierung bzw. Priorisierung)

Da eine Erhöhung der Mittel zur Sicherstellung des Gutes Gesundheit auf Kosten anderer Güter und die Rationalisierung keine nachhaltigen Lösungsansätze darstellen,6 möchte der vorliegende Artikel sich Gedanken zum Managementinstrument der Rationierung bzw. Priorisierung machen. Bei diesem Instrument geht es im Kern um die Frage, wie eine begrenzte Menge an Mitteln auf verschiedene Verwendungsoptionen verteilt werden soll, wenn mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht alle Optionen verwirklicht werden können. Der Artikel möchte hierbei jedoch nicht die Debatte über die Möglichkeiten der Rationierung (Rationierung auf Makro-, Meso-, Mikroebene; horizontale, vertikale Rationierung; explizite, implizite Rationierung; etc.) und/oder deren ethische Beurteilung aufrollen. Er fokussiert sich vielmehr auf die überinstitutionelle Makroebene des Gesundheitswesens und geht von der Beobachtung aus, dass gemeinhin die Position vertreten wird, dass das Management und vor allem die Verteilung der begrenzten Ressourcen im Gesundheitswesen (sozial) gerecht erfolgen sollen.7 Was bedeutet es aber, (soziale) Gerechtigkeit zum Verteilungsmaßstab für die Rationierung bzw. Priorisierung im Gesundheitswesen zu machen? Dieser Frage nach dem Zusammenhang zwischen Rationierung als Mittel des Managements des Gesundheitswesens auf Makroebene und – im Sinne der aristotelisch-thomistischen Philosophie verstandener – (sozialer) Gerechtigkeit soll im folgenden nachgegangen werden.

2. Die Tugend der Gerechtigkeit

Auf der Suche nach einer Antwort auf die eben gestellte Frage müssen wir uns mit einer vorgelagerten Frage befassen, nämlich der Frage danach, worüber wir eigentlich reden, wenn wir von (sozialer) Gerechtigkeit reden. Aus Sicht der aristotelisch-thomistischen Philosophie ist Gerechtigkeit kein eine bestimmte Verteilung bezeichnender Zustand des sozialen Miteinanders, sondern eine Tugend, d. h. eine nur schwer zu ändernde, tiefsitzende und stabile Gewohnheit, die eine Person in den Stand versetzt, bestimmte Vermögen ihrer menschlichen Seele nach Belieben und ohne große Willensanstrengung in vollkommener Weise auszuüben.8 Gerechtigkeit ist diejenige Tugend, die den menschlichen Willen als ihr Subjekt perfektionieren, diesen damit das Gerechte bzw. das, was gerecht ist, wünschen und tun lassen9 und so den Menschen in seinen Beziehungen zu anderen Personen ordnen soll.10 Diese Beschreibung führt uns jedoch nur vom Regen in die Traufe, da damit nicht gesagt ist, was denn das Gerechte im Umgang mit anderen Personen ist. Glücklicherweise helfen uns Aristoteles und der Hl. Thomas hier weiter, indem sie das Gerechte als das Gesetzmäßige und das Gleiche bezeichnen.11 Wie es aussieht, hat Gerechtigkeit also etwas mit in Gesetzen festgeschriebenem Recht12 und damit (Anspruchs-)Rechten und deren korrespondierenden Pflichten sowie Gleichheit zu tun. Aber was?

Die aristotelisch-thomistische Antwort lautet: Gerechtigkeit hat insofern etwas mit (Anspruchs-) Rechten und deren korrespondierenden Pflichten sowie Gleichheit zu tun, als eine gerechte Person alle Personen unterschiedslos gemäß der ihnen aufgrund des Rechts/eines Gesetzes zukommenden Anspruchsrechte und damit gleich behandelt bzw. allen gegenüber anderen Personen als Gegenstück zu einem Anspruchsrecht bestehenden Pflichten gleichermaßen nachkommt. Die sich aus dem bisher Gesagten – und von Thomas von Aquin explizit als vollständig („completa“) bezeichnete – abgeleitete Definition von Gerechtigkeit lautet dementsprechend: Die Tugend der Gerechtigkeit ist die Haltung, gemäß der eine Person mit beständigem und fortgesetztem Willen jedem sein Recht werden lässt.13 Gerechtigkeit besteht somit letzten Endes in Gesetzeskonformität im Verhalten gegenüber und damit der Gleichbehandlung von anderen Personen.14 Gerechtigkeit ohne Berücksichtigung des Aspekts der so verstandenen Gesetzmäßigkeit auf Gleichheit zu reduzieren, wie es heute vor allem von seiten des Egalitarismus propagiert wird, würde also bedeuten, Gerechtigkeit in verkürzter und verzerrter Form darzustellen. Gerechtigkeit impliziert vielmehr eine spezielle Form von Gleichheit, nämlich die unterschiedslose, d. h. gleiche Anerkennung der Anspruchsrechte aller Personen.

Eine Person P (oder im übertragenen Sinn auch eine Institution, Gesellschaft etc.) handelt also gerecht, wenn sie das präpositive und positive Recht (d. h. die Sammlung aller präpositiven und positiven Gesetze) und damit die sich aus diesem ergebenden Anspruchsrechte aller anderen Personen an sie unterschiedslos achtet und ihren mit diesen Anspruchsrechten korrespondieren Pflichten unterschiedslos nachkommt. Eine Person P handelt ungerecht, wenn sie durch ihre Handlung ein aus dem präpositiven und positiven Recht ausfließendes Anspruchsrecht einer anderen Person nicht achtet resp. gegen ihre mit diesem Anspruchsrecht korrespondierende Pflicht verstößt.

So verstanden ist es nicht die Gerechtigkeit, die darüber bestimmt, welche Anspruchsrechte und/oder Pflichten eine Person P hat; diese Festlegung ist der Gerechtigkeit vorgelagert.15 Die Tugend der Gerechtigkeit fordert uns „nur“ auf, uns entsprechend der sich aus dem präpositiven und positiven Recht ergebenden Anspruchsrechte anderer Personen an uns und unserer korrespondierenden Pflichten gegenüber anderen Personen zu verhalten.

3. Arten der Gerechtigkeit

Wie erwähnt, ordnet die Gerechtigkeit die Beziehungen einer Person zu anderen Personen oder Gruppen von Personen. Anhand der grundsätzlich möglichen Arten der Beziehungen, in denen eine Person mit anderen Personen oder Gruppen von Personen stehen kann, lassen sich diverse Formen von Gerechtigkeit unterscheiden (vgl. Abbildung 1).

3.1 Allgemeine Gerechtigkeit

Eine erste Art der Gerechtigkeit wird gemeinhin als „allgemeine Gerechtigkeit“ bezeichnet. Die allgemeine Gerechtigkeit ist die Tugend, durch die eine Person die von Seiten der Gemeinschaft16 an sie bestehenden Anspruchsrechte achtet und so ihren korrespondierenden Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, deren Teil sie ist, mit beständigem und fortgesetztem Willen nachkommt.17 Die allgemeine Gerechtigkeit bezieht sich also auf die folgende Rechtsbeziehung:

Gemeinschaft (Ganzes) → Individuelle Person (Teil)

Den Maßstab dafür, welche Anspruchsrechte die Gemeinschaft an ihre einzelnen Mitglieder und welche korrespondierenden Pflichten letztere Personen gegenüber der Gemeinschaft haben, bildet das sog. „bonum commune“ bzw. (All)Gemeinwohl. Denn das in Form von Gesetzen bzw. Anspruchsrechten und korrespondierenden Pflichten ausgedrückte Recht hat seinen Sinn und seine Begründung letzten Endes nur in der Beförderung und Verwirklichung des bonum commune.18

Auch wenn sich in der Literatur verschiedene Gemeinwohlvorstellungen ausmachen lassen,19 so ist unter bonum commune gemäß der aristotelisch-thomistischen Philosophie allgemein „etwas Gemeinsames, das mehrere erstreben“20 zu verstehen, insofern es nur durch die kollaborative Anstrengung (synchron oder diachron) von eine Gemeinschaft bildenden Personen verwirklicht werden kann; es umfasst das Gut bzw. die Güter, um deren Verwirklichung willen eine Gemeinschaft gebildet worden ist und besteht.21

Das bonum commune in diesem generellen Sinn kann weiter differenziert werden in das bonum commune als äußeres Gut und das bonum commune als immanentes Gut der Gemeinschaftsglieder. Ersteres liegt außerhalb der die Gemeinschaft bildenden Personen und umfasst „äußere Güter oder Werte, sofern sie Ziel von Handlungen vieler sind, innerhalb deren der Einzelne mit seiner Handlung Teilfunktion ausübt“.22 Immer wenn Personen kooperieren, um äußere Güter oder Werte hervorzubringen, deren Produktion der Beteiligung von mehr als einer Person bedarf (z. B. der Bau eines Hauses, ein Konzert, ein Fußballspiel), liegt ein äußeres bonum commune vor. Das immanente bonum commune kann zwar auch nur durch die Anstrengungen einer Vielzahl von bzw. durch die Kooperation aller die Gemeinschaft bildenden Personen verwirklicht werden, jedoch liegt es im Gegensatz zum äußeren bonum commune in den jeweiligen Personen; es ist „das personale Wohl vieler Einzelmenschen, sofern es nur mit gemeinsam angewandten Mitteln erstrebt werden kann“.23 Auch wenn das immanente bonum commune (wie das äußere bonum commune übrigens auch) in eine Vielzahl von partikularen Gütern untergliedert sein kann (z. B. Kultur), so sind diese letzten Endes auf ein einziges immanentes bonum commune hingeordnet, nämlich „die menschliche Vollkommenheit als gemeinsames, die einzelmenschlichen Vollkommenheiten als Teile umfassendes Ziel einer Vielheit von Menschen“.24 Es ist deswegen eine wesentliche Eigenschaft des immanenten bonum commune, dass es nur aktualisiert werden kann, wenn alle Glieder einer Gemeinschaft danach streben.

Im Rahmen dieser Arbeit kann nicht ausgearbeitet werden, welche Anspruchsrechte der Gemeinschaft an ihre individuellen Mitglieder sich aus dem bonum commune ergeben und welche korrespondierenden Pflichten die Glieder einer Gemeinschaft gegenüber der Gemeinschaft haben. Es reicht für unsere Zwecke festzustellen, dass die einzelne Person die präpositiv-moralische Pflicht hat, durch Einhaltung des Rechts an der Verwirklichung des bonum commune der Gemeinschaft mitzuwirken, und dass die Gemeinschaft das korrespondierende Anspruchsrecht auf entsprechende Mitwirkung seiner Glieder am Allgemeinwohl hat.25

3.2 Besondere Gerechtigkeit: Distributive und Kommutative Gerechtigkeit

Von der Gemeinwohlgerechtigkeit wird die besondere Gerechtigkeit (iustitia particularis) unterschieden. Im Gegensatz zu ersterer, die den Willen einer Person dahingehend perfektioniert, dass sie dauerhaft entsprechend ihrer sich aus dem bonum commune ergebenden Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, deren Teil sie ist, handelt, stehen im Fokus der besonderen Gerechtigkeit, die sich wiederum in die distributive und die kommutative Gerechtigkeit untergliedert,26 folgende sozialen Rechtsbeziehungen:

Distributive Gerechtigkeit: Gemeinschaft (Ganzes) → Individuelle Person (Teil)

Kommutative Gerechtigkeit: Individuelle Person (Teil) ↔ Individuelle Person (Teil)

Die distributive Gerechtigkeit hat mit den Anspruchsrechten der Teile gegenüber dem Ganzen und damit mit den korrespondierenden Pflichten, die eine Gemeinschaft gegenüber ihren Gliedern hat, zu tun; sie ist also im Grunde das Gegenstück zur Gemeinwohlgerechtigkeit. Die kommutative Gerechtigkeit findet auf alle (freiwilligen und nicht-freiwilligen) Beziehungen zwischen Personen, d. h. zwischen Gliedern eines Ganzen, Anwendung und fordert die Achtung der Anspruchsrechte des Gegenübers in diesen Beziehungen.27 Im Gegensatz zur distributiven Gerechtigkeit, die durch ein gewisses Unterordnungsverhältnis des Teils unter das Ganze gekennzeichnet ist, sind die von der kommutativen Gerechtigkeit geordneten Beziehungen Beziehungen zwischen Gleichen, d. h. zwischen Personen (oder im übertragenen Sinn auch Institutionen, Gesellschaften etc.), die in keinem solchen Unterordnungsverhältnis zueinander stehen. Wonach bestimmen sich aber die Anspruchsrechte und Pflichten, die in den sozialen Beziehungen, die der besonderen Gerechtigkeit unterliegen, zu berücksichtigen sind? Gemäß dem Dafürhalten von Aristoteles und Thomas von Aquin ergeben sich diese grundlegend aus dem Maßstab der Gleichheit des Verhältnisses,28 wobei die Verhältnisgleichheit der distributiven sich von der im Bereich der kommutativen Gerechtigkeit zu berücksichtigenden Verhältnisgleichheit unterscheidet.

Die Verhältnisgleichheit der kommutativen Gerechtigkeit besteht in einer arithmetischen Gleichheit.29 Worauf die in einer der kommutativen Gerechtigkeit unterliegenden sozialen Austauschbeziehung (z. B. einer Vertragsbeziehung) stehenden Personen gegenüber ihrem Gegenüber ein Anspruchsrecht haben, ist quantitative Gleichbehandlung: Person A hat gegenüber Person B das Anspruchsrecht, von Person B genauso viel zu erhalten (ausgedrückt in einem geeigneten Vergleichsmaßstab, z. B. Geld), wie sie Person B gegeben hat; Person B hat gegenüber Person A das gleiche Anspruchsrecht. Eine Handlung ist kommutativ gerecht, wenn sie diesen Anspruchsrechten bzw. Pflichten Rechnung trägt.

Die Verhältnisgleichheit der distributiven Gerechtigkeit besteht demgegenüber in einer geometrischen Gleichheit.30 Wie die Bezeichnung „distributiv“ zeigt, bezieht sich diese Art der Gerechtigkeit auf Handlungen, durch die etwas verteilt wird.31 Dieses etwas, um dessen Verteilung es bei der distributiven Gerechtigkeit im eigentlichen Sinne geht, ist das bonum commune.32 Die Glieder einer Gemeinschaft haben also ein Anspruchsrecht auf einen der geometrischen Gleichheit entsprechenden Anteil am bonum commune. Grundlegend gesprochen, ist hiermit gemeint, dass ein größerer Anteil am bonum commune denjenigen Personen zu geben ist, die einen größeren verdienen, und ein kleinerer denen, die einen kleineren verdienen. Wer verdient aber wieviel? Thomas von Aquin antwortet, dass die Antwort auf diese Frage sich nach der „principalitas“,33 d. h. der Vorzüglichkeit bzw. Vorrangstellung der jeweiligen Person innerhalb des sozialen Ganzen, richtet. Das Zuteilungsmaß der distributiven Gerechtigkeit ist also nicht von der (Hilfs-) Bedürftigkeit bzw. einem im Vergleich zu anderen Personen auszumachenden Mangel an etwas abhängig, sondern von der Vorzüglichkeit und damit der Herausgehobenheit der Person. Ein Mehr an Vorzüglichkeit resultiert somit auch in einem proportionalen Mehr vom zu verteilenden Gut. Naheliegenderwiese ist diese Herausgehobenheit einer Person in ihrer Bedeutung für das soziale Ganze zu sehen und damit grundsätzlich in ihrem Beitrag zum bonum commune. Die geometrische Gleichheit verlangt somit die Berücksichtigung des Beitrags, den die einzelnen Personen, auf die der Nutzen am bonum commune verteilt werden soll, zum Entstehen bzw. zur Verwirklichung des bonum commune geleistet haben. Dem Anspruch der geometrischen Gleichheit ist somit Genüge getan, wenn das Gemeinwohl so auf die Glieder einer Gemeinschaft aufgeteilt wird, dass das Verhältnis zwischen dem, was die einzelnen Glieder vom bonum commune zugeteilt erhalten, und dem, was sie zu diesem beigetragen haben, für alle Glieder gleich ist. Es muss also gelten:

Das Anspruchsrecht einer Person auf einen Anteil am bonum commune der Gemeinschaft hängt also davon ab, in welchem Ausmaß die Person ihrer Pflicht zur Verwirklichung des bonum commune nachgekommen ist, d. h. inwiefern sie gemeinwohlgerecht gehandelt hat. Wer mehr beigetragen hat, verdient mehr, jedoch nicht überproportional mehr als die, die weniger beigetragen haben. Welchen Wert das sich aus der obigen Division ergebende Verhältnis zwischen Zähler und Nenner haben soll, kann allerdings nicht pauschal beantwortet werden; er hängt aber sicher wesentlich von der Größe des aufzuteilenden bonum commune ab.

3.3 Soziale Gerechtigkeit: Die Kombination aus allgemeiner und distributiver Gerechtigkeit

Wie aus dem bisher Gesagten deutlich geworden sein sollte, handelt es sich bei der allgemeinen und der distributiven Gerechtigkeit nicht um zwei kategorisch unterschiedliche Arten der Gerechtigkeit. Sie sind vielmehr durch das Konzept des bonum commune verbunden und können als zwei Seiten einer Medaille betrachtet werden. Während erstere mit dem Anspruchsrecht des Ganzen an seine Teile auf Mitwirkung bei der Aktualisierung des bonum commune des Ganzen befasst ist, geht es zweiterer um das Anspruchsrecht der Teile an das Ganze auf eine dem Verhältnis zwischen Beitrag zum und Anteil am bonum commune für alle Teile gleichen Teilhabe am bonum commune. Entsprechend können diese beiden Arten der Gerechtigkeit unter dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit zusammengefasst werden. Die soziale Gerechtigkeit bezieht sich also auf folgende Rechtsbeziehungen (vgl. Abbildung 2).

Wenn von sozialer Gerechtigkeit die Rede ist, ist damit per definitionem immer auch vom bonum commune zu sprechen und zu berücksichtigen, dass diese Art von Gerechtigkeit mehr als nur distributiver Natur ist, d. h. dass dem Anspruchsrecht auf Teilhabe am bonum commune immer auch die Pflicht zum Beitrag zum Entstehen des bonum commune gegenübersteht.

4. Die Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit für das Management des Gesundheitswesens

Was bedeuten diese Erkenntnisse nun für die uns hier interessierende Fragestellung, nämlich was es bedeutet, ein Gesundheitswesen am Maßstab der sozialen Gerechtigkeit orientiert zu managen bzw. die knappen Mittel des Gesundheitswesens sozial gerecht zu allozieren? Wenn auf einem Makrolevel nicht alle aus Sicht der Heilkunst notwendigen Leistungen bezahlt werden können: Wie sollen aus der Perspektive der sozialen Gerechtigkeit die zur Verfügung stehenden Ressourcen und Mittel auf die Personen aufgeteilt werden, denen diese Leistungen zugute kommen sollten?

Wie aus dem vorherigen Kapitel hervorgegangen sein sollte, fordert uns die soziale Gerechtigkeit dazu auf, allen Beteiligten ihre Anspruchsrechte zu gewähren und von allen Beteiligten ihre Pflichten einzufordern. Bevor das Problem des Umgangs mit den knappen Ressourcen des Gesundheitswesens sozial gerecht gelöst werden kann, muss das Problem also als Anspruchsrechts-/Pflicht-Problem reformuliert werden. Wenn wir nach dem sozial gerechten Umgang mit den knappen Ressourcen des Gesundheitssystems fragen, dann müssen wir zuerst danach fragen, wer welche Anspruchsrechte auf welche Gesundheitssystemressourcen hat und welche Pflichten diesen gegenüberstehen. Und da mit diesen Ressourcen die Gesundheit gefördert oder wiederhergestellt werden soll, bedeutet dies letzten Endes nichts anderes als danach zu fragen, welche Anspruchsrechte die Mitglieder einer Gemeinschaft auf Gesundheit als Teil des bonum commune haben bzw. welche Pflicht zur Partizipation am Gut Gesundheit die Gemeinschaft gegenüber ihren Mitgliedern hat.

Um diese Frage beantworten zu können, muss in einem vorgelagerten Schritt geklärt werden, ob Gesundheit überhaupt ein Gut darstellt, das der sozialen Gerechtigkeit unterliegt; dies tut sie jedoch nur, wenn sie ein äußeres oder immanentes bonum commune darstellt. Ist Gesundheit also ein äußeres oder immanentes bonum commune?

Dies ist relativ schnell zu beantworten: Unser aller Gesundheit wird durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst, die sich unserer individuellen Kontrolle komplett oder zu einem gewissen Teil entziehen.34 Aus diesem Grund stellt Gesundheit insofern ein (immanentes) bonum commune dar, als es in den eine Gemeinschaft bildenden Personen besteht und in vollkommener Weise nur verwirklicht sowie erhalten werden kann, wenn alle Personen gemeinsam danach streben. Als (immanentes) bonum commune ist die Gesundheit also ein für die soziale Gerechtigkeit relevantes Gut.

Im Hinblick auf Gesundheit als Aspekt des bonum commune lassen sich aus dem bisher über die soziale Gerechtigkeit als Kombination von distributiver und allgemeiner Gerechtigkeit Gesagten somit folgende Prämissen ableiten:

  • (P1) Eine Gemeinschaft hat ein Anspruchsrecht darauf, dass die die Gemeinschaft bildenden Personen zur Verwirklichung des bonum commune beitragen. Die die Gemeinschaft bildenden Personen haben die korrespondierende Pflicht gegenüber der Gemeinschaft, bei der Verwirklichung des bonum commune mitzuwirken.
  • (P2) Die eine Gemeinschaft bildenden Personen haben ein Anspruchsrecht gegenüber der Gemeinschaft, dass das bonum commune so auf die Glieder der Gemeinschaft aufgeteilt wird, dass das Verhältnis zwischen dem, was die einzelnen Glieder vom bonum commune zugeteilt erhalten, und dem, was sie zu diesem beigetragen haben, für alle Glieder gleich ist. Die Gemeinschaft hat die korrespondierende Pflicht, die Zuteilung in diesem Sinne vorzunehmen.
  • (P3) Gesundheit ist ein Teilaspekt des (immanenten) bonum commune.
  • (P4) Die Zuteilung von Gesundheit als Teilaspekt des (immanenten) bonum commune auf die Glieder einer Gemeinschaft kann durch die Zuteilung der zur Förderung bzw. Wiederherstellung dieses Gutes vorgesehenen knappen Ressourcen geschehen.

Aus diesen Prämissen können nun folgende Konklusionen gezogen werden:

  • (C1) Eine Gemeinschaft hat ein Anspruchsrecht darauf, dass die die Gemeinschaft bildenden Personen zur Verwirklichung des Gutes Gesundheit beitragen, da es ein Teilaspekt des (immanenten) bonum commune ist.35
  • (C2) Die eine Gemeinschaft bildenden Personen haben ein Anspruchsrecht gegenüber der Gemeinschaft, dass das Gut Gesundheit als Teilaspekt des (immanenten) bonum commune so auf die Glieder der Gemeinschaft aufgeteilt wird, dass das Verhältnis zwischen dem, was die einzelnen Glieder vom Gut Gesundheit bzw. den zur Förderung bzw. Wiederherstellung dieses Gutes vorgesehenen knappen Ressourcen zugeteilt erhalten, und dem, was sie zu diesem beigetragen haben, für alle Glieder gleich ist.

Wenn wir also vor der Entscheidung stehen, das bonum commune Gesundheit über die Verteilung der Ressourcen des Gesundheitswesens in sozial gerechter Weise aufzuteilen, dann verlangt die soziale Gerechtigkeit von uns, diese Verteilung danach auszurichten, inwieweit die Empfänger ihrer Pflicht zur Verwirklichung des immanenten bonum commune Gesundheit nachgekommen sind, indem sie z. B. im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf ihre und die Gesundheit anderer geachtet haben. Der den einzelnen Personen zuzuteilende Anteil sollte dabei so ausfallen, dass das Verhältnis zwischen dem, was die einzelnen Personen vom bonum commune Gesundheit zugeteilt erhalten, und dem, was sie zu diesem beigetragen haben, für alle Personen gleich ausfällt.

5. Schlussgedanken

Dieses Ergebnis mag auf den ersten Blick ernüchternd wirken. Im Grunde sagt es uns nämlich: Wenn eine kranke Person nicht zum bonum commune Gesundheit beigetragen hat, dann hat sie auch keinen Anspruch auf einen Anteil an den gesellschaftlichen Gesundheitsressourcen. Auch wenn uns diese Konsequenz – besonders, wenn wir uns vor Augen führen, dass von dieser z. B. auch kranke oder behinderte Neugeborene betroffen sein können – als abstoßend erscheint, sollten wir das Ergebnis aber nicht dadurch verfälschen, dass wir den Begriff der (sozialen) Gerechtigkeit uminterpretieren und ihn seines eigentlichen Gehalts entleeren. Wir sollten (soziale) Gerechtigkeit vielmehr als das akzeptieren, was sie ist: die unseren Willen perfektionierende Tugend, die uns jedem sein Recht zukommen lässt. Wenn unser Gegenüber uns gegenüber jedoch kein Recht besitzt, dann können wir ihm ein solches aber auch nicht zukommen lassen.

Wir sollten uns jedoch darüber hinaus bewusst sein, dass die oben entwickelten Gedanken zwar die Antwort auf die Frage darstellen, wie sozial gerecht mit den knappen Gesundheitsressourcen umgegangen werden soll, dass dies jedoch nicht alles ist, was zu unserem Umgang mit kranken und schwachen Personen zu sagen ist. Denn selbst wenn die kranken und schwachen Glieder einer Gemeinschaft kein aus obigen Gerechtigkeitsüberlegungen ableitbares Anspruchsrecht auf Hilfe von Seiten der Gemeinschaft haben, so bedeutet dies nicht auch automatisch, dass eine Gemeinschaft und deren Glieder keine Pflicht haben, den Schwachen und Kranken zu helfen; es bedeutet nur, dass sie keine mit einem Anspruchsrecht korrespondierende Pflicht haben. Der Blick durch die Brille der Gerechtigkeit zwingt uns zwar, soziale Beziehungen als von Anspruchsrechten und korrespondierenden Pflichten geprägte Beziehungen zu verstehen. Jedoch ist damit nicht gesagt, dass diese Brille die einzige ist, die wir aufsetzen können.

Neben der Gerechtigkeit gibt es nämlich eine zweite Tugend, deren Objekt das bonum commune ist: die soziale Liebe („caritas socialis“), d. h. die Liebe zum und um des bonum commune willen, die sich in der „Hingabe ans Ganze und über das Ganze an den Nächsten“36 und in konkreter Form in der Übung der sieben leiblichen und sieben geistigen Werke der Barmherzigkeit37 ausdrückt. Wenn wir über den richtigen Umgang mit den sich gegenwärtig dem Management unserer Gesundheitssysteme stellenden Herausforderungen nachdenken, sollten wir also unterscheiden zwischen dem, was die soziale Gerechtigkeit fordert (d. h. worauf die einzelnen Glieder der Gesellschaft ein Anspruchsrecht haben) und dem, was die soziale Liebe fordert (d. h. worauf kein Anspruchsrecht besteht, was aber trotzdem geschuldet ist). Die ersten Krankenhäuser und auch die ersten Krankenversicherungen waren keine millionenschweren Unternehmen, die errichtet wurden, weil ein Anrecht auf ihre Gründung bestand oder weil sich mit ihnen viel Geld verdienen ließ; sie wurden gegründet als Einrichtungen der (christlichen) Barmherzigkeit und Nächstenliebe.38

Dieses Bewusstsein gilt es wieder zu stärken, um unsere Gesundheitssysteme nachhaltig zukunftsfähig zu machen. Den Boden der Reform sollte das Bemühen bilden, in den Köpfen und Herzen derjenigen Personen, die das Gesundheitssystem bilden, das Anspruchsdenken zu reduzieren und die soziale Liebe zu wecken. Gefragt ist nicht nur eine Strukturreform, sondern eine Haltungsreform: Was sich ändern muss, sind letzten Endes wir.

Referenzen

  1. vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094a 8f sowie Thomas von Aquin, Sententia Libri Ethicorum, lib. 1 l. 1 n. 15
  2. Der Begriff „Ökonomie“ leitet sich vom altgriechischen „οἰκονομία“ („oikonomía“) ab. Mit diesem Wort wurde die gute Verwaltung bzw. Führung eines (privaten oder öffentlichen) Haushalts (bzw. einer häuslichen oder über-häuslichen Gemeinschaft) bezeichnet (vgl. hierzu z. B. Xenophon „Oikonomikos“ („Οἰκονομικός“), Kapitel 1; Aristoteles, Politik, 1285b 31ff (Buch 3, Kapitel 14) oder Thomas von Aquin, Sententia Libri Ethicorum, lib. 1 l. 1 n. 15). Die diese Verwaltung ausübende Person wurde als „οἰκόνομος“ („oikónomos“) bezeichnet; im Neuen Testament wird z. B. in Lk 12, 42 und Lk 16, 1-8 das Wort „οἰκόνομος“ zur Bezeichnung eines Verwalters verwendet. Heute ist es aber eher üblich, anstelle von Verwaltung und Verwaltern von Management und Managern zu sprechen.
  3. vgl. Aristoteles, Politik, 1256b 29f. Reichtümer und Vermögen („πλοῦτος“ („plutos“) bzw. „divitiae“) stellen also nur eine Menge an Mitteln für ein gutes Leben dar („ὁ δὲ πλοῦτος ὀργάνων πλῆθός ἐστιν“ (Aristoteles, Politik, 1256b 36; vgl. auch Thomas von Aquin, Sententia Libri Ethicorum, lib. 1 l. 1 n. 15)). Die dem Maximierungsprinzip unterliegende unbegrenzte Akkumulation von Besitz um der Akkumulation willen nennt Aristoteles „χρηματιστική“ („chrematistike“). Für eine Unterscheidung der beiden aristotelischen Begriffe „oikonomia“ und „chrematistike“ vgl. auch: Dierksmeier C., Pirson M., Oikonomia Versus Chrematistike: Learning from Aristotle About the Future Orientation of Business Management, Journal of Business Ethics (2009); 88: 417-430
  4. Auch wenn es zweifellos ein sehr wichtiges Gut ist, ist es nicht das höchste Gut; vgl. hierzu: Lütz M., Gesundheit ist nicht das höchste Gut, Die Tagespost (Feuilleton), 7. Juli 2005, S. 9
  5. vgl. Marckmann G., Marktorientierung und Gerechtigkeit: Prinzipien im Widerspruch?, SGBE Bulletin SSEB (2010); 61: 5-12, www.bioethics.ch/sgbe/publikationen/Bulletin.html (letzter Zugriff am 12. Jänner 2013)
  6. vgl. hierzu Zimmermann-Acklin M., Rationierung im ethischen Disput. Positionen und Argumente, in: Zimmermann-Acklin M., Halter H. (Hrsg.), Rationierung und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. Beiträge zur Debatte in der Schweiz, EMH Schweizerischer Ärzteverlag, Basel (2007), S. 56-66, S. 61
  7. So ist z. B. in der „Physician Charter on Medical Professionalism“ (Charta zur ärztlichen Berufsethik) festgeschrieben, dass die Ärzte eine Verpflichtung (“commitment“) zur gerechten Verteilung begrenzter Mittel im Gesundheitswesen haben. Diese Charta wurde 2002 von der ABIM Foundation, der American College of Physicians Foundation und der European Federation of Internal Medicine gemeinsam ausgearbeitet und z. B. von der Tiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin (TGAM) übernommen. Die englische Version der Charta ist zu finden unter: www.abimfoundation.org/Professionalism/Physician-Charter.aspx (letzter Zugriff am 25. Februar 2013). Eine deutsche Übersetzung der Charta ist erschienen in: Schweizerische Ärztezeitung (2003); 84(45): 2347-2349 oder Medizinische Klinik (2002); 97(11): 697-699
  8. Für eine Darlegung des aristotelisch-thomistischen Verständnisses von Tugend und den durch sie perfektionierten Seelenvermögen vgl. Erk Ch., Health, Rights and Dignity. Philosophical Reflections on an Alleged Human Right, ontos Verlag, Frankfurt/Paris/Lancaster/New Brunswick (2011), S. 99 ff.
  9. vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1129a 5ff sowie Thomas von Aquin, Summa Theologiae (STh), IIª-IIae q. 57 a. 1 s.c. und IIª-IIae q. 58 a.
  10. vgl. STh, siehe Ref. 9, IIª-IIae q. 122 a. 1 s. c.: „iustitia sola videtur esse virtus per quam ordinamur ad alterum” Alle anderen (moralischen) Tugenden betreffen den Umgang des Menschen mit sich selbst.
  11. vgl. Thomas von Aquin, Sententia Libri Ethicorum, lib. 5 l. 3 n. 9: „iustum dicitur [...] legale et aequale“; vgl. auch Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1129a 30 sowie 1130b 5: „διώρισται [...] τὸ δὲ δίκαιον τό τε νόμιμον καὶ τὸ ἴσον.“
  12. Wobei hierunter sowohl das präpositive als auch das positive Recht zu verstehen ist (vgl. IIª-IIae q. 57 a. 2f).
  13. vgl. STh, siehe Ref. 9, IIª-IIae q. 58 a. 1 co.: „iustitia est habitus secundum quem aliquis constanti et perpetua voluntate ius suum unicuique tribuit“ (vgl. auch IIª-IIae q. 57 a. 4 ad 1). Unter Recht verstehen Thomas von Aquin und Aristoteles hierbei vor allem das präpositive, aber auch das positive (d. h. kodifizierte) und sich jeweils in Gesetzen ausdrückende Recht; für eine Unterscheidung des Rechts in positiv/präpositiv vgl. Erk Ch., siehe Ref. 8, S. 165 ff. Thomas von Aquin referenziert in seiner Definition explizit auf den römischen Juristen Ulpian, dessen Gerechtigkeitsdefinition sich im „Corpus Iuris Civilis“ findet, einer auf Befehl des oströmischen Kaisers Justinian I. von 529 bis 534 n. Chr. herausgegebenen Sammlung grundlegender Rechtstexte. Diese lautet: „Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi“ (Corpus Iuris Civilis, Digesta 1.1.10 pr. sowie Institutiones 1, Tit. 1). Da jedem Anspruchsrecht eine korrespondierende Pflicht gegenübersteht, ist Gerechtigkeit also auf das Engste mit den Konzepten von Anspruchsrechten und Pflichten verbunden, ja setzt das Vorliegen einer Pflicht voraus (vgl. Thomas von Aquin, De Veritate, q. 23 a. 6 ad 3: „ratio iustitiae debitum requirit“). Für eine Darlegung der Konzepte „Recht“ bzw. „Anspruchsrecht“ und „Pflicht“ vgl. Erk Ch., siehe Ref. 8, S. 143 ff.
  14. vgl. STh, siehe Ref. 9, IIª-IIae q. 58 a. 1 co.: „iustus dicitur quia ius custodit“
  15. vgl. Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, lib. 2 cap. 28 n. 3: „actum iustitiae praecedit actus quo aliquid alicuius suum efficitur“
  16. Im Rahmen dieser Arbeit wird auf eine Differenzierung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft verzichtet, beide Begriffe werden synonym verwendet.
  17. vgl. STh, siehe Ref. 9, IIª-IIae q. 79 a. 1 co. oder IIª-IIae q. 58 a. 7 arg. 2
  18. vgl. ebd., Iª-IIae q. 90 a. 2 co. sowie IIª-IIae q. 58 a. 5 co. Wenn die allgemeine Gerechtigkeit den Menschen durch die Erfüllung seiner Pflichten gegenüber der Gemeinschaft den korrespondierenden Anspruchsrechten dieser Gemeinschaft gegen ihn nachkommen lässt und diese Anspruchsrechte nur im Hinblick auf die Verwirklichung des bonum commune Bestand haben können, so macht dies auch die Aussage verständlich, dass die allgemeine Gerechtigkeit den Menschen direkt auf das bonum commune ausrichtet (vgl. ebd., IIª-IIae q. 58 a. 7). Denn durch die Einhaltung des Rechts trägt der Mensch direkt zur Verwirklichung des bonum commune bei. Aufgrund der engen Verküpfung der allgemeinen Gerechtigkeit mit dem bonum commune und dem an diesem ausgerichteten Recht wird die allgemeine Gerechtigkeit auch als Gemeinwohlgerechtigkeit oder legale Gerechtigkeit („iustitia legalis“ (IIª-IIae q. 58 a. 5 co.)) bezeichnet.
  19. Für einen Überblick über die unterschiedlichen Gemeinwohltheorien vgl. Sulmasy D. P., Four Basic Notions of the Common Good, St. John‘s Law Review (2012); 75(2): 303-310
  20. Utz A.-F., Sozialethik. Mit internationaler Bibliographie. Teil 1: Die Prinzipien der Gesellschaftslehre, 2. Auflage, F. H. Kerle Verlag, Heidelberg/ Verlag E. Nauwelaerts, Löwen (1964), S. 129
  21. vgl. Aristoteles, Politik, 1252a: „πᾶσαν κοινωνίαν ἀγαθοῦ τινος ἕνεκεν συνεστηκυῖαν“
  22. Utz  A.-F, siehe Ref. 20, S. 132
  23. ebd., S. 136
  24. ebd., S. 136, 145; vgl. auch Katechismus der Katholischen Kirche: Teil 3, Abschnitt 1, Kapitel 2, Artikel 10.II (Nummer 1906)
  25. Diese Pflicht ergibt sich aus der aristotelisch-thomistischen Einsicht, dass alle menschlichen Handlungen („actiones proprie humanae“) um eines Zieles/ Zweckes willen geschehen (vgl. STh, siehe Ref. 9, Iª-IIae q. 1 a. 1 co.) und dass das Gute seinem Wesen nach Ziel/ Zweck ist („bonum habet rationem finis“ (STh, siehe Ref. 9, Iª-IIae q. 94 a. 2 co.). Wenn also das Gute uns als natürliches Ziel/ Zweck vorgegeben ist, ergibt sich daraus das grundlegende Gebot des Naturrechts, nämlich dass „bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum“ (STh, siehe Ref. 9, Iª-IIae q. 94 a. 2 co.; vgl. auch IIª-IIae q. 79 a. 1), d. h. dass das Gute zu tun und zu verfolgen, das Böse jedoch zu meiden ist. Aus der Eigenschaft des bonum commune ein Gut zu sein, zu deren Verwirklichung eine Gemeinschaft gebildet wurde, ergibt sich also das Anspruchsrecht der Gemeinschaft an ihre Mitglieder auf Mitwirkung an der Verwirklichung des bonum commune und daraus die Pflicht der Mitglieder, zu dessen Verwirklichung beizutragen.
  26. vgl. STh, siehe Ref. 9, IIª-IIae q. 61 a. 1 s. c. sowie Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1130b.30
  27. vgl. STh, siehe Ref. 9, IIª-IIae q. 61 a. 1 co.; siehe auch Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1131a 1
  28. vgl. STh, siehe Ref. 9, IIª-IIae q. 58 a. 11 co.: „quod ei secundum proportionis aequalitatem debetur“; siehe auch Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1131a 20
  29. vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1132a 1: „τὴν ἀναλογίαν ἐκείνην ἀλλὰ κατὰ τὴν ἀριθμητικήν“; siehe auch STh, siehe Ref. 9, IIª-IIae q. 61 a. 2 s. c. sowie Thomas von Aquin, Sententia Libri Ethicorum, lib. 5 l. 6 n. 4
  30. vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1131b 10: „ἀναλογίαν γεωμετρικὴν“; siehe auch STh, siehe Ref. 9, IIª-IIae q. 61 a. 2 s. c.
  31. vgl. STh, siehe Ref. 9, IIª-IIae q. 61 a. 2 co.: „in distributiva iustitia datur aliquid alicui privatae personae inquantum id quod est totius est debitum parti“
  32. vgl. STh, siehe Ref. 9, IIª-IIae q. 61 a. 1 ad 4; vgl. auch Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1130b 30
  33. STh, siehe Ref. 9, IIª-IIae q. 61 a. 2 co. An anderer Stelle spricht Thomas von Aquin von der „dignitas“ (IIª-IIae q. 63 a. 1 co.) der Person, worunter aber nicht die moderne Sicht von Würde zu verstehen ist (denn diese ist entweder a) kein Heraushebungsmerkmal, da sie von allen Menschen besessen wird und somit alle gleich vorzüglich sind, oder b) ein gestuftes Konzept, da nur dadurch eine in der Würde begründete Vorzüglichkeit denkbar ist), sondern ein Synonym für die „principalitas“.
  34. vgl. hierzu Erk Ch., siehe Ref. 8, S. 88 ff.
  35. Wie können die Glieder der Gemeinschaft dieser Pflicht nachkommen? Grundlegend gesprochen erlegt diese Pflicht dem Pflichtinhaber (neben der Entrichtung eines entsprechenden monetären Beitrags über Steuern oder Sozialversicherungsbeiträge) die Verhaltensrestriktion auf, nur solche Handlungen zu vollziehen, die ein gesundheitsneutrales oder zumindest nicht gesundheitsschädigendes Resultat zeitigen. Da die nicht nachhaltige demographische Entwicklung unserer Gesellschaften ein Problem für die Sozialsysteme darstellt, wäre es auch zu verargumentieren, dass diese Pflicht sich auch auf Gründung und Erhalt einer Familie mit dem Ziel der Zeugung von Nachwuchs erstreckt. Der Pflichtinhaber ist also verpflichtet, sich zumindest an die allgemein bekannten Klugheitsregeln bzgl. Schlaf, Bewegung/ Training, Ernährung, Gewicht, Suchtmitteln (z. B. Alkohol und Rauchen), Stress und regelmäßiger ärztlicher Kontrolle zu halten, um nicht krank zu werden; falls die betreffende Person krank ist, erfordert die Pflicht, sich im Rahmen der Möglichkeiten um die Gesundung zu bemühen.
  36. vgl. Utz  A.-F., siehe Ref. 20, S. 166
  37. vgl. hierzu Katechismus der Katholischen Kirche: Teil 3, Abschnitt 2, Kapitel 2, Artikel 7.VI (Nummer 2447)
  38. vgl. hierzu Crislip A. T., From Monastery to Hospital: Christian Monasticism and the Transformation of Health Care in Late Antiquity, University of Michigan Press, Ann Arbor (2005) sowie Oberender P. O., Hebborn A., Zerth J., Wachstumsmarkt Gesundheit, Lucius & Lucius, Stuttgart (2002)

Anschrift des Autors:

Ass. Univ.-Prof. Dr. phil. Christian Erk
Assistenzprofessor für Management und Ethik
Institut für Wirtschaftsethik, Universität St. Gallen
Tannenstraße 19, CH-9000 St. Gallen
christian.erk(at)unisg.ch

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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