Menschlichkeit und Wirtschaftlichkeit in der Medizin

Zusammenfassung

Kostensteigerung darf im Gesundheitswesen nicht ins Unendliche gehen. Gleichzeitig ist es ein soziales Gebot, die für das Gesundheitswesen verfügbaren Mittel gerecht zu verteilen. Der Politik kommt zu, das Budget auf die verschiedenen Verwendungszwecke gerecht aufzuteilen. Aufgabe des Managements ist es, dem Ärzteteam einen ausreichenden Spielraum zu verschaffen, um der geforderten sparsamen Effizienz gerecht werden zu können. Hier ist ökonomisches Denken auch bei Ärzten notwendig, die ein hohes Maß an Klugheit fordert. Natürlich darf man auch vom Patienten ein gewisses Maß an sozialer Gerechtigkeit einfordern. Dies wird uns umso leichter gelingen, je gefestigter das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ist. Menschlichkeit und Wirtschaftlichkeit widersprechen in der Medizin einander nicht, sondern bedingen sich gegenseitig.

Schlüsselwörter: Ärztliche Verantwortung, Manager, Patienten, soziale Gerechtigkeit, Klugheit

Abstract

A major issue in modern health care systems is cost containment. This requires a just resource allocation for the limited funds each society is able to dispose. A responsible health care policy distributes these limited funds according to the various demands of our society in order to reach a maximum of societal benefit. Health care management on the other hand should define the most efficient use of these funds in order to give physicians sufficient possibilities to treat their patients. In addition, patients should also attribute their share for a socially balanced usage of the resources.
The achievement of a just health care system is facilitated by an atmosphere of trust and mutual understanding between patients and physicians. In conclusion, compassion and economic principles do not contradict, but rather imply each other.

Keywords: Medical Responsability, Manager, Patients, Social Justice, Prudence


Die Ausgaben für die medizinische Versorgung sind in den meisten westeuropäischen Ländern im Vergleich zum Wirtschaftswachstum in den letzten Jahrzehnten überproportional angestiegen. Die Gründe dafür liegen vor allem in der erhöhten Lebenserwartung der Bevölkerung, die mit einer vermehrten Morbidität insbesondere der chronischen Krankheiten einhergeht. Parallel dazu sind die technischen Möglichkeiten und deren Kosten für Diagnose und Therapie exponentiell angestiegen. Daraus resultiert auf der einen Seite die Illusion der unbegrenzten Möglichkeiten, die alle für jedermann zugänglich sein sollen, und auf der anderen Seite eine Mentalität, nach der im Gesundheitswesen Kosten keine Rolle spielen dürfen.

Tatsache ist aber, dass die benötigten Ressourcen für das Gesundheitswesen jedoch nicht bis ins Unendliche gesteigert werden können. Österreich gibt rund 10 Prozent seines Bruttonationalprodukts für Gesundheit aus. Damit ist klar, dass die Kostensteigerung eingedämmt werden muss, woraus der ökonomische Zwang zur Kostendämpfung bzw. das Gebot der Wirtschaftlichkeit auch im Gesundheitswesen resultiert.

Doch Wirtschaftlichkeit ist kein Selbstzweck. Sie hat „Dienerin der Menschlichkeit“1 zu sein. Wirtschaftlichkeit im Sinne einer freien Marktwirtschaft reicht nämlich nicht aus, wenn die medizinische Versorgung unserer Bevölkerung ein menschliches Antlitz haben und allen Bürgern zugute kommen soll. Hier treffen Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit im Gesundheitswesen aufeinander, die sich zunächst einmal in sozialer Gerechtigkeit zeigen muss. Das heißt nicht, dass es im Gesundheitswesen keine wirtschaftliche Freiheit geben darf. Aber diese ist nicht grenzenlos. Und solche Grenzen werden von der Menschenwürde und dem Gemeinwohl markiert,2 wobei die Gleichheit aller Menschen vor Gott und dem Staat Ausgangspunkt und Maßstab der Leitidee von Gerechtigkeit ist.3 Es geht demnach in erster Linie um die gerechte Verteilung der knappen Ressourcen.

Aus der Sicht der Wirtschaftsethik ist die Gesundheit ein Wert, von dessen Obsorge niemand ausgeschlossen werden darf. Gesundheit ist zwar nicht das höchste Gut – und es gibt auch kein Recht auf Gesundheit –, aber es gibt ein Recht auf medizinische Betreuung ohne Rücksicht auf den sozialökonomischen Status des Patienten. Es ist also ein soziales Gebot, die für das Gesundheitswesen verfügbaren Mittel gerecht zu verteilen. Dies bedeutet, dass der Einsatz und die Verteilung der Mittel reguliert werden müssen.4

Ebenen der Regulierung

Unser Gesundheitssystem ist ein Mischsystem aus freier Marktwirtschaft und zentraler gelenkter Wirtschaft. Nach Gäfgen und Prat lassen sich zwei Ebenen unterscheiden, auf denen der Einsatz und die Verteilung der Mittel geregelt wird: die Makroebene (Staat, Region, soziale Krankenversicherung) und die Mikroebene (Krankenhaus, Ambulatorien, Ordinationen).5

Makroebene

Auf der Makroebene fallen im Wesentlichen zwei Entscheidungen, die primär der Politik zukommen: erstens die Aufteilung des Budgets auf die verschiedenen Verwendungszwecke - in Österreich fallen ca. 10 Prozent davon auf das Gesundheitswesen. Zweitens kommt der Politik die Aufgabe zu, diese Güter auf die Regionen nach dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit aufzuteilen, wobei dies nicht nur die Geldmittel betrifft, sondern auch die regionale Platzierung von Krankenhäusern und deren Fachgruppen (Krankenanstaltenplan), von Rehabilitationszentren, Ambulatorien bis hin zu Krankenkassenstellen. Bereits an dieser Stelle müssen die Entscheidungsträger jene ökonomischen Regeln einhalten, die erforderlich sind, damit im Gesundheitssystem wirklich Gerechtigkeit waltet, d. h. es muss dafür gesorgt werden, dass alle Regionen flächendeckend und ausreichend versorgt sind. Diese Regeln können unter den Begriff der sparsamen Effizienz6 subsumiert werden und stellen hohe ethische Anforderungen an die Entscheidungsträger. Denn die Vergeudung von Mitteln will einerseits keine Gesellschaft zulassen. Andererseits klaffen gerade im Gesundheitswesen das vernünftigerweise Notwendige und das politisch Durchsetzbare oft weit auseinander. Das erleben wir heute in unserem Land hautnah bei der Debatte über die Schließung und Standortbestimmung von Krankenhäusern und Fachabteilungen. Dieses Thema ist durch ein regionales Anspruchdenken emotional stark besetzt, sodass eine gerechte Grundausstattung, die alle Bürger eines Staates erfasst, bei gleichzeitiger Sparsamkeit (sparsame Effizienz) kaum durchsetzbar ist. Hier kann Wirtschaftlichkeit nur dann erreicht werden, wenn in der Bevölkerung auch ein Verständnis für die Solidargemeinschaft aufgebracht wird. Man kann also sagen, dass bereits auf der Makroebene Wirtschaftlichkeit nicht ohne Menschlichkeit und Menschlichkeit nicht ohne Wirtschaftlichkeit erreicht werden kann. Mit anderen Worten: Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit sind keine Gegensätze, sondern bedingen einander.7

Mikroebene

Die Mikroebene kann in zwei Bereiche geteilt werden: einerseits in das Management in Krankenhäusern und Ambulatorien, andererseits in die direkte Tätigkeit des Arztes am Krankenbett.

Auch auf der Mikroebene sind Menschlichkeit und Wirtschaftlichkeit aufeinander bezogen. Sowohl für das Management als auch für den Arzt gilt das Prinzip der sparsamen Effizienz, wenn die zu treffenden Entscheidungen sozial gerecht sein sollen. Dabei geht es um den rationalen Umgang mit knappen Ressourcen, indem man ein möglichst günstiges Verhältnis zwischen Zielerreichung und Mitteleinsatz anstrebt. Man unterscheidet das Maximalprinzip, das versucht mit vorgegebenen Ressourcen ein maximales Ergebnis zu erreichen, vom Minimalprinzip. Dieses strebt mit minimalem Ressourcenaufwand an, das vorgegebene Ziel zu erreichen. In beiden Fällen muss das rechte Verhältnis zwischen Kostenaufwand und Ziel hergestellt werden.

Die Aufgabe des Managements

Die Aufgabe des Managements ist es, dem Ärzteteam einen ausreichenden Spielraum zu verschaffen, damit es dieser Forderung gerecht werden kann. Der Krankenhausmanager ist im Sinne der sparsamen Effizienz aufgerufen, die organisatorischen Abläufe so zu optimieren, dass mit einem Minimum von Aufwand die bestmöglichste Versorgung des Patienten erreicht wird. Die Ökonomie, wenn sie human (menschlich) sein will, darf in einem sozialen Umfeld niemals zum Selbstzweck werden, sondern muss immer Diener der Medizin bleiben, d. h. das Wohl des Patienten hat Vorrang vor dem möglichen finanziellen Gewinn. Dabei geht es darum, durch ein vernünftiges Wirtschaften Freiräume für eine optimale Versorgung aller Patienten zu schaffen. Hier zeigt sich auf der Ebene des Managements, wie sehr Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit aufeinander bezogen sind. Denn Menschlichkeit ohne Wirtschaftlichkeit führt eo ipso zu einer Einschränkung der medizinischen Möglichkeiten für alle. Wirtschaftlichkeit ohne Menschlichkeit wiederum kann dem sozialen Auftrag des Gesundheitswesens nicht gerecht werden. Wenn nämlich die Rentabilität der führende Leitgedanke einer Krankenanstalt wird, dann wird man dazu verleitet, möglichst wenig Personal zu beschäftigten, teure Diagnostik und therapeutische Möglichkeiten nicht durchzuführen, Patienten möglichst kurzfristig zu entlassen und letztlich Patienten mit aufwendigen Krankheiten möglichst zu meiden.

Vielfach wird das Diktat des Marktes zu einem Diktat der Zeitökonomie.8 Dabei wird nicht nur Personal reduziert, sondern es werden die Abläufe in den Kliniken dermaßen beschleunigt, dass die Möglichkeit zu einem ärztlichen Gespräch und überhaupt der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient wegrationalisiert werden. Menschlichkeit in der Medizin meint aber gerade auch diese persönliche Zuwendung und Sorge von Arzt und Pflegepersonen um das Wohl der hilfsbedürftigen Kranken. Es ist Aufgabe des Managements, wenn es sich der Humanität verpflichtet weiß, diese Möglichkeit auch dem angestellten Personal zu gewähren. Dahinein fällt auch die zunehmende Bürokratisierung der ärztlichen Tätigkeit, welche zu einer weiteren Reduktion ihrer patientenbezogenen Arbeit führt.

Nehmen wir nun ein konkretes Beispiel: Wie definiert das Krankenhaus Haus der Barmherzigkeit einen humanen Umgang? Da das Haus der Barmherzigkeit eine kirchliche Einrichtung ist, nimmt es natürlich Bezug auf christliche und alttestamentarische Stellen, wobei es klar feststellt, dass dies die Wurzeln sind. Den Weg zu einem menschlichen Miteinander können aber alle Menschen, ungeachtet ihres Glaubens und ihrer Herkunft gehen.

Die Definition der Menschlichkeit hat im Haus der Barmherzigkeit drei Säulen:

  • Erstens muss das Leid als solches wahrgenommen werden. Dies bedeutet, es nicht zu verdrängen oder zu verharmlosen, aber auch nicht zu dramatisieren; es bedeutet vielmehr, Leid – und die betroffenen Menschen – so zu sehen, wie sie sind, und zu akzeptieren, dass das Leid zum menschlichen Leben gehört.
  • Zweitens wird den Menschen, die sich dem Haus anvertrauen, auf gleicher Augenhöhe begegnet. Alle Menschen sind gleichwertig, unabhängig von Glauben, Herkunft oder Einkommen; unabhängig von Krankheit und Behinderungen.
  • Drittens, muss den Bewohnern tatkräftig und effizient geholfen werden. Das bedeutet, maximale Qualität im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten und der jeweiligen Rahmenbedingungen, und zwar treffsicher und sachkundig.

Für die Mitarbeiter bedeutet der Auftrag zur Barmherzigkeit, Verantwortung für den Nächsten so zu übernehmen, dass ihm ein Leben in Würde möglich ist: sich in seine Situation hineinzuversetzen und sich um ihn zu sorgen – ohne dabei selbst zu Grunde zu gehen.

Hier tut sich ein weites Betätigungsfeld für ein verantwortungsbewusstes Management zum Wohl der Patienten auf, das sicher nur dann zum Erfolg führen kann, wenn sich Ärzte und Manager in einem dialektischen Prozess auf eine gemeinsame Sprache mit einem gemeinsamen Ziel einigen können. Man wird nämlich in diesem ewigen Streit zwischen Medizin und Management nie eine Lösung finden, solange jede Seite nur gebetsmühlenartig ihren Standpunkt wiederholt. Hier gilt der bekannte Grundsatz, dass alles ja auch ganz anders sein könnte und dass auch die Gegenseite Recht haben könnte. Die wichtige Frage ist, in welchem Punkt man Unrecht hat – und weniger, worin man Recht hat. Dies zu tun, verlangt aber gegenseitiges Vertrauen, das sich nur entwickeln kann, wenn man ein klares Bekenntnis zu einem gemeinsamen Ziel hat.

Die Anforderungen an Arzt und Patient

Es stellt sich die Frage, inwieweit auch der Arzt verpflichtet ist, ökonomisch zu denken, d. h. inwieweit auch er an eine sparsame Effizienz gebunden ist. Viele Ärzte behaupten, der Arzt sei Anwalt seiner Patienten, habe ausschließlich dessen Wohl im Auge zu behalten, und lehnen daher ein ökonomisches Denken grundsätzlich ab (ausgenommen freilich, wenn es um Rentabilität der eigenen Ordination geht). Wahrscheinlich haben Ärzte eine zu vage Vorstellung über die wirklichen ökonomischen Zusammenhänge,9 denn ohne Zweifel ist ein ökonomisches Denken auch bei Ärzten notwendig. Andernfalls würden viele kostbare Ressourcen verschwendet werden. Die Frage ist nur, welchen Stellenwert die Ökonomie bei der Entscheidungsfindung der Ärzte haben darf. Wenngleich letztlich für den Arzt das Wohl der Patienten Priorität hat, darf er dennoch das Gemeinwohl nicht aus den Augen verlieren. Denn: Was er an einem seiner Patienten verschwendet, wird in letzter Konsequenz anderen vorenthalten. In diesem Sinne kann der Arzt nicht sozial gerecht sein, wenn er nicht auch ökonomisch denkt und sein Handeln am Prinzip der sparsamen Effizienz orientiert. Wenn z. B. ein Arzt sich weigert, medizinisch nicht-indizierten Forderungen einer Person, die sich parasitär der Solidargemeinschaft bedienen will, nachzugeben, handelt er im Sinne des Gemeinwohls und zudem sparsam. Die Entscheidung darüber, wo die Grenzen liegen, ist sicher schwierig. Hier können vorgegebene Standards durchaus hilfreich sein.10 Abgesehen davon spielen die Erfahrung des Arztes, sein Gewissen und seine Empathie eine entscheidende Rolle. Auch deshalb muss dem Arzt neben Standards, ökonomischen und sonstigen behördlichen Vorschriften auch ein angemessener Entscheidungsspielraum eingeräumt werden.11 Es geht vor allem darum, das Notwendige vom Sinnlosen zu unterscheiden, um auf diese Weise Verschwendung zu vermeiden.

Kosten durch die Medikalisierung

Wir können heute eine zunehmende Medikalisierung fast aller Lebensbereiche beobachten, die zu einer Polypharmakopragmasie ungeahnten Ausmaßes geführt hat und die hauptverantwortlich ist für die steigenden Gesundheitskosten.

Unnötige Kosten können durch eine sinnvolle Entscheidungsfindung zum Wohle des Patienten vermieden werden. Als sinnvoll kann eine Therapie nur dann bezeichnet werden, wenn sie den prinzipiellen Zweck ärztlichen Handels erfüllt, d. h. wenn wenigstens eines der drei klassischen hippokratischen Kriterien – nämlich Heilung, Lebensverlängerung oder Leidenslinderung – erreicht wird.

Diese Zielsetzung ist wichtig. Denn in der Behandlungspraxis werden eine Reihe von Behandlungsstrategien verfolgt, deren unmittelbares Ziel nur die Beeinflussung von sog. „Surrogatparametern“ ist, ohne dass der Behandlungserfolg auch in Bezug auf die oben angeführten Endpunkte (Lebensverlängerung, Lebensqualität, Heilung) gesichert wäre. Ein klassisches historisches Beispiel wäre die seinerzeitige Behandlung von Herzrhythmusstörungen mit bestimmten Antiarrhythmika, deren Wirksamkeit man anhand von EKG-Kurven beurteilt hat, ohne dass dadurch die Lebensqualität oder Lebenserwartung der Patienten verbessert werden konnte. Im Gegenteil: Die Lebenserwartung dieser Patienten wurde sogar durch die medikamentöse Therapie verkürzt.12 Ein aktuelles Beispiel wäre die Verabreichung einer teuren Chemotherapie zur Tumorreduktion, ohne dass es dadurch zu einer Verbesserung der Lebensqualität oder zu einer Lebensverlängerung kommt. Der Verzicht auf eine Therapie in solchen Fällen berücksichtigt einerseits das Wohl des betroffenen Patienten und entspricht gleichzeitig einem vernünftigen ökonomischen Denken.

Effektivität eines Präparats richtig einschätzen

Die Rückführung des ärztlichen Behandlungsauftrags auf Leidenslinderung und Lebensverlängerung reicht allerdings nicht aus, um einer „sparsamen Effizienz“ umfassend Rechnung zu tragen. Dazu ist es notwendig, auch deren Effektivität zu ermitteln, d.h. deren quantitative Wirksamkeit zu erfassen. Hier darf man sich von der Art und Weise, wie Studiendaten mitunter präsentiert werden, um die Verkaufszahlen bzw. Verschreibungsbereitschaft der Ärzte zu steigern, nicht blenden lassen. Es ist heute üblich, Behandlungserfolge durch die relative Risikoreduktion anzugeben. So wird z. B. bei der Osteoporosebehandlung von einer Reduktion der Frakturrate um minus 20% bis minus 50% gesprochen oder in der Kardiologie von der Risikoreduktion eines tödlichen Herzinfarkts um -37%.13 Diese Art der Präsentation von Studienergebnissen ist irreführend, weil sie das absolute Risiko und damit das wahre Ausmaß des therapeutischen Effekts verschleiert. Es ist bekannt und durch Studien belegt, dass Ärzte viel eher geneigt sind, ein neues Medikament zu verschreiben, wenn nur relative Risikozahlen angegeben werden, als wenn dasselbe Ergebnis auch in absoluten Zahlen präsentiert wird.14 Die Reduktion eines Risikos für eine Schenkelhalsfraktur von 12,5% auf 8,75% (relative Reduktion -30%) bei Hochrisikopatientinnen ist wohl anders zu bewerten als eine Reduktion von absolut 0,004 auf 0,0028 (relative Reduktion -30%) bei einer gesunden Frau. Während im ersten Fall immerhin jede 26. Frau von einer Therapie profitiert, ist eine Therapie im letzten Fall kaum relevant, weil davon nur jede 83.000 Frau profitiert. Wer hier auf eine Therapie (z. B. mit Bisphosphonaten) verzichtet, begeht sicher keinen Fehler. Im Gegenteil: Er bewahrt 83.000 Frauen vor einer sinnlosen lebenslänglichen Therapie, die ja auch Nebenwirkungen hat, und spart für jede nicht behandelte Frau 15.000 Euro ein.15 Hier tut sich ein riesiges Einsparungspotential zum Wohle der Patienten auf, das sicher noch nicht ausreichend genützt wird. Es ist daran zu erinnern, dass bei jeder Therapieentscheidung eine seriöse Schaden/Nutzenanalyse angestellt werden sollte, bei der die Wirksamkeit einer Behandlung gegen deren Nebenwirkungen und Risiken abgewogen werden muss. Dies umso mehr, wenn der Erfolg gering, die Nebenwirkungen erheblich und die Kosten eines Therapieverfahrens hoch sind.

Ärztliche Klugheit gefordert

Letztlich müssen auch noch die persönlichen Umstände und Wünsche des jeweiligen Patienten in die Entscheidungsfindung mit einbezogen werden, um die Verhältnismäßigkeit einer Therapie richtig einschätzen zu können. Hier wird vom Arzt ein hohes Maß von Klugheit gefordert, die in der klassischen Tugendlehre als Kardinaltugend bezeichnet wird. Die Klugheit legt im konkreten Einzelfall jene goldene Mitte fest, die ein ausgewogenes Handeln zwischen Sinnhaftigkeit und Verschwendung, Sparsamkeit und Nutzlosigkeit erlaubt. Diese Entscheidung ergibt sich aus der Gesamtheit der Umstände, dem Wissen und Können des Arztes, den Vorschriften der ärztlichen Kunst (lege artis), der Achtung der Würde des Patienten und dessen legitimen Wünschen sowie aus der Verantwortung für das Gemeinwohl. Das Kriterium der Verhältnismäßigkeit als ein Aspekt der Klugheit ist ethischer Natur. Gerade weil die ethische eine alle anderen Kompetenzen (ökonomische, medizinische, wissenschaftliche, lebensweltliche usw.) integrierende Kompetenz ist, wird sie hier besonders gebraucht. Sie ist die vornehmste ärztliche Herausforderung.16

Die Tugend der Klugheit ist jedenfalls die Schnittstelle, an der sich Menschlichkeit und Wirtschaftlichkeit in der Medizin gleichsam berühren, ergänzen und mit deren Hilfe man dem konkreten Patienten in seiner Ganzheit gerecht werden kann. Dazu bedarf es allerdings auch einen hohen Grad von Tapferkeit und Stärke. Denn es ist nicht immer leicht, den Begehrlichkeiten eines Patienten zu widerstehen, wenn sie ungerechtfertigt oder unsinnig sind. Immerhin riskiert der Arzt mit einer Verweigerung häufig, seinen Patienten zu verlieren. In jedem Fall muss der Arzt bereit sein, gegen seine eigenen finanziellen Interessen zu entscheiden, wenn dies zum Wohle des Patienten gereicht. Hier kommt eine weitere Tugend ins Spiel, nämlich die Mäßigung. Sie bewahrt ihn nicht nur vor Geldgier, sondern auch vor dem allseits gefürchteten maßlosen diagnostischen und therapeutischen Übereifer17 mit oft weitreichender, sinnloser Verschleuderung von Ressourcen. Es ist allemal bequemer „alles zu tun, was möglich ist“, als Einschränkungen vorzunehmen. Auf der anderen Seite muss der Arzt auch resistent sein gegen übertriebene und ungerechtfertigte Einsparungsforderungen von Krankenkassen oder Spitalsmanagement und sich gegebenenfalls im Interesse seiner Patienten zur Wehr setzen. Gerade in solchen Situationen sind Starkmut und Mäßigung unverzichtbare Qualitäten eines redlichen Arztes.

Die Rolle des Patienten

Natürlich darf man auch vom Patienten ein gewisses Maß an sozialer Gerechtigkeit einfordern. Dies wird umso leichter gelingen, je gefestigter das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ist. Dieses gegenseitige Vertrauen auf Augenhöhe ist geradezu der Angelpunkt, wo sich Menschlichkeit und Wirtschaftlichkeit von Arzt und Patient gemeinsam verwirklichen lassen. Dazu gehört vor allem, dass der Patient in seinem Leid ernst genommen wird. In der modernen medizinischen Ethik wird dieser Forderung insofern Rechnung getragen, indem die Autonomie und das Selbstbestimmungsrecht der Patienten stark betont werden. Diese Entwicklung ist grundsätzlich zu begrüßen. Doch sie stellt nur eine Seite des Behandlungsvertrages dar, während die damit verbundene größere Verantwortung des Patienten meist vernachlässigt wird. Oft sind Patienten durch ihre eingeschränkte medizinische Kompetenz weitgehend überfordert, ohne den Rat des Arztes richtige Entscheidungen zu treffen. Der kluge Patient ist sich seines eingeschränkten Urteilsvermögens sehr wohl bewusst und daher bereit, sich beraten zu lassen bzw. dem ärztlichen Rat Folge zu leisten, auch wenn er vielleicht für sich primär anders entschieden hätte.

Der Patient muss sich allerdings sicher sein können, dass er vom Arzt wirklich mit höchster Qualität (lege artis) betreut wird. Er muss sich sicher sein, dass der Arzt, wenn er ihm zu einem aufwendigen Eingriff rät oder von einem bestimmten kostspieligen Diagnoseverfahren abrät, dies mit lauterer Absicht und nicht aus einem ökonomischen Kalkül zum Schaden des Patienten tut. Wenn der Patient nämlich das Gefühl bekommt, dass nicht mehr er und sein Wohl das primäre Ziel ärztlichen Handelns sind, sondern dass dahinter das Diktat eines ökonomischen Systems lauert, das Vorgaben zur eigenen Gewinnmaximierung erstellt, dann wird Medizin unmenschlich. Sie wird aber auch unfinanzierbar, denn Profitgier ist geradezu der Antipode zur sparsamen Effizienz.

Umgekehrt muss auch der Arzt damit rechnen können, dass er, wenn er vernünftigerweise und nach bestem Wissen und Gewissen von einem Verfahren abrät und sich der Krankheitsverlauf nicht nach den Erwartungen des Patienten gestaltet, nicht sofort von ihm oder den Angehörigen geklagt wird, denn aus dieser Mentalität erwächst die heute weit verbreitete und höchst kostspielige Defensivmedizin.

Man darf sich also auch vom sog. mündigen Patienten eine angemessene ethische Kompetenz erwarten, die neben der sozialen Kompetenz durch Verantwortungsbewusstsein, Aufrichtigkeit (Compliance), Mäßigung und Vertrauen geprägt sein muss.18 Überzogene Forderungen nach aufwändigen, medizinisch nicht indizierten Untersuchungen scheinen in der heutigen Zeit der Übertechnisierung ein Gebot der Stunde. Die bloße Verfügbarkeit solcher Techniken in Schwerpunkt- und Universitätskliniken kann zweifellos einer solchen Maßlosigkeit Vorschub leisten.19 Mäßigung ist auch angebracht, wenn sich Patienten oder deren Angehörige von Sensationsmeldungen aus gewissen Medien blenden lassen oder sich eine Überinformation aus dem Internet aneignen. Solche Praktiken sind, wenn sie mit einem ungerechtfertigten Anspruch vorgetragen werden, bestens geeignet, ein gesundes Arzt-Patientenverhältnis zu vergiften.

Ein wichtiger weiterer Bereich, bei dem die Tugend des richtigen Maßes geradezu unverzichtbar ist, ist die Präventivmedizin.20 Mäßigung beim Essen, Gewichtkontrolle, Sport und Verzicht auf schädliches Rauchen und Alkoholgenuss sind von enormer volkswirtschaftlicher Bedeutung. Ein gesunder, menschenwürdiger Lebensstil ist die Basis, auf der Menschlichkeit und Wirtschaftlichkeit aufeinander treffen und sich gegenseitig beeinflussen können. Die Befolgung der Ratschläge durch die Ärzte in diesen und anderen Bereichen ist Grundvoraussetzung einer wirksamen und damit auch auf lange Sicht rentablen medizinischen Versorgung der Bevölkerung. Deshalb rüttelt der zunehmende Vertrauensverlust in die Medizin und in deren Protagonisten, wie zu beobachten ist, an den Grundfesten der Medizin und hat daher katastrophale Auswirkungen auf allen Linien der Gesundheitsversorgung, auch im Hinblick auf eine sinnvolle und sparsame Verwendung der beschränkten Ressourcen.

Abschließend kann mit dem Zukunftsforscher Peter Zellmann gesagt werden: Menschlichkeit und Wirtschaftlichkeit widersprechen einander nicht. Wer Zukunft haben will, muss verstehen: Menschlichkeit und Wirtschaftlichkeit bedingen einander.21 Das ist an sich keine wirkliche neue Erkenntnis, denn von Aristoteles (4. Jh. v. Chr.) bis zu Adam Smith, dem Begründer der modernen Volkswirtschaftslehre (17. Jh.), wurde ein ökonomisches Denken als ein Teil der Ethik angesehen, die den richtigen Umgang mit materiellen Beschränkungen und Knappheiten lehrt.22

Referenzen

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  21. Zellmann P., siehe Ref. 7
  22. Prat E. H., siehe Ref. 4

Anschrift der Autoren:

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