Hirntod: Konzepte, Kriterien, Kontroversen

Imago Hominis (2013); 20(2): 93-109
Eugen Trinka

Zusammenfassung

Seit dem Harvard-Bericht aus dem Jahre 1968 wird das „Hirntod-Konzept“ weltweit anerkannt. Die meisten entwickelten Länder akzeptieren die Definition des Hirntodes als den irreversiblen Funktionsverlust des Gehirns und setzen ihn mit dem Tod des Individuums gleich. Dadurch können aus dem toten Organismus bei „schlagendem Herzen“ Organe zur lebensrettenden Maßnahme für Andere entnommen werden. Dem Harvard-Bericht folgend haben zunächst die USA, später aber auch die meisten anderen Länder das Konzept des Hirntodes als irreversiblen Funktionsausfall des Großhirn und des Hirnstammes anerkannt. Lediglich Großbritannien verwendet das Konzept des „Hirnstammtodes“. In dieser Überblicksarbeit wird die Entwicklung der Hirntodkonzepte vor und nach dem Harvard-Report sowie die philosophischen und religiösen Hintergründe und die diagnostischen Kriterien kritisch beleuchtet.

Schlüsselwörter: Hirntod, Tod, Organspende, Hirntoddiagnostik, Ethik

Abstract

The concept of brain death has been accepted throughout the world, since the Harvard report in 1968. Most countries have equalled the individual death with brain death and allow organ donation in these cases to save the life of others. According to the Harvard Report in the US and most countries worldwide the whole brain concept has been accepted, in which the definition is based on irreversible loss of function in the brain stem and cerebral hemispheres. Current criteria, their conceptual and philosophical background as well as controversies about the concepts are reviewed in this article.

Keywords: Brain Death, Death, Organ Donation, Diagnosis of Brain Death, Ethics


1. Einführung

Die Feststellung des Todes war immer bedeutungsschwer und mit Unsicherheiten behaftet. In den vergangenen Jahrhunderten wurden zum Teil seltsam anmutende, ja sogar bizarre Methoden angewandt, um den Tod eines Individuums festzustellen.1 So hat man beispielsweise dem Toten eine Nadel in die Oberarmmuskulatur gesteckt und das langsame Rosten beobachtet. Andernorts wurden mit kleinen Fähnchen versehene Nadeln in den Thoraxraum bis ins Herz getrieben. Hatten sich die kleinen Fähnchen bewegt, so war der Patient zumindest bis zu diesem Zeitpunkt noch am Leben. Das Konzept fehlender Organbewegungen als Feststellung des Todes wurde noch im 20. Jahrhundert mittels Röntgenstrahlung in der Durchleuchtung verfolgt. Die Furcht vor dem frühzeitigen Begräbnis nach einem scheinbar festgestellten Tod (Scheintod) ist tief in der Menschheit, insbesondere im Volksglauben, verwurzelt. Gewiefte Geschäftemacher stellten Särge her, die mit einer Glocke verbunden waren, was eine gewisse Rückversicherung bei fehlerhaft festgestelltem Tod und frühzeitiger Beerdigung dargestellt hat.

Die Entwicklungen der modernen Notfallmedizin, insbesondere der Intensivmedizin in den 1950er und 1960er Jahren, brachten aber neue grundlegende Probleme der Todesfeststellungen. Patienten mit schwersten und permanenten Hirnschädigungen, die zuvor durch ein respiratorisches Versagen verstorben wären, konnten nun mit der künstlichen Beatmung für längere Zeit am Leben gehalten werden. In den schwersten Fällen war die Hirnschädigung mit einem permanenten Bewusstseinsverlust und dem Fehlen der Hirnstammreflexe sowie des Atemantriebes verbunden. Diese Konstellation bezeichnet man als „Hirntod“ oder „Hirntod-Syndrom“. Die häufigsten Ursachen dafür sind Schädel-Hirn-Trauma oder spontane intrakranielle Blutungen bzw. ischämische Schlaganfälle, die durch eine Hirnschwellung zu einer rostrokaudalen Herniation des Gehirnes und des Hirnstammes in das Foramen magnum hervorgerufen werden. Eine weitere wichtige Ursache des Hirntodes ist die schwere hypoxisch ischämische Hirnschädigung, die z. B. nach prolongierter oder inadäquater kardiopulmonären Wiederbelebung stattfindet. Schlaganfälle im Bereich des Hirnstammes (Basilaristhrombosen) können zu einer primären Schädigung des Hirnstammes und der dort befindlichen vitalen Zentren führen. Dabei kann aber die Hirnaktivität in höheren Integrationszentren wie Thalamus und Hirnrinde noch relativ lange erhalten bleiben.

Seit den späten 1960ern haben die meisten entwickelten Länder der Welt das Hirntod-Konzept anerkannt und es juridisch mit dem kardiorespiratorischen Tod gleichgestellt. Immer wieder tauchen jedoch vor allem in der nicht-medizinischen Presse Zweifel über die Richtigkeit des Hirntod-Konzepts auf, die verschiedenste Ursachen haben. Trotz all dieser zum Teil verbittert in der Öffentlichkeit geführten Diskussionen ist das Hirntod-Konzept weltweit anerkannt, führt uns aber dennoch an die Grenzen der Medizin, nicht nur in der therapeutischen Rolle des Arztes oder der Ärztin, sondern auch in konzeptioneller und philosophischer Hinsicht. Eine Bewusstmachung des ethischen und philosophischen Hintergrundes des Hirntodes, die konzeptionelle Definition sowie die technische Feststellung des Hirntodes sind eine unabdingbare Voraussetzung, um authentisch in der direkten Begegnung mit den Angehörigen eines sterbenden oder verstorbenen Menschen in Beziehung zu treten zu können.

In diesem Artikel werden die historische Entwicklung des Hirntod-Konzeptes, dessen philosophischer und religiöser Hintergrund sowie die diagnostischen Kriterien und die angewandten Tests einer kritischen Würdigung unterzogen.

2. Geschichte des Hirntod-Konzeptes

2.1. Frühe Konzepte des Hirntodes bis 1968

Über Jahrhunderte wurde der Individualtod durch den Herzstillstand sowie das Sistieren der Atmung definiert. Dies war konsequenterweise auch mit einem innerhalb von kürzester Zeit eintretenden Gesamttod des Menschen verbunden. Die Erfindung des mechanischen Beamtungsgerätes durch Björn Ipsen in den 1950ern und die Anwendung bei schwer hirnerkrankten Patienten, wie z. B. nach einem Schädel-Hirn-Trauma, hat eine grundlegend andere Situation hervorgerufen. Die drastische Maßnahme, die Atmung bei Patienten aufrecht zu erhalten, deren Hirnfunktion erloschen war, erforderte eine gänzliche Neuorientierung der Definition des Todes. Bereits in den frühen Berichten über diese Patienten zeigt sich die Betrachtungsweise, dass der Tod des Gesamtindividuums mit dem irreversiblen Funktionsausfall des Gehirns gleichzusetzen ist. In diesem Sinne versteht man die Tatsache, dass wir ohne unsere Gehirnaktivität nicht nur unser Bewusstsein verlieren, sondern auch unsere Existenz als persönliche Identität erlischt. Diese fundamentale Neuorientierung, die erst durch die medizinisch-technische Entwicklung notwendig geworden ist, wird in den meisten entwickelten Nationen dieser Welt auch juridisch akzeptiert.

Die Entwicklung und Umsetzung dieses Konzeptes beruht auf der genauen Beobachtung und Beschreibung von Patienten mit schwerster Gehirnerkrankung, die künstlich beatmet wurden. Lofstedt und Von Reis berichteten 1956 über sechs mechanisch beatmete Patienten mit Apnoe, Hypotonie, Hypothermie und Polyurie, deren Reflexe vollständig fehlten.2 Eine durchgeführte Angiographie zeigte einen fehlenden zerebralen Blutfluss. Der Tod wurde nach Herzstillstand, der innerhalb von 2 bis 26 Tagen aufgetreten ist, festgestellt. In dem Obduktionsbefund zeigten alle Patienten eine Hirnnekrose. 1959 berichteten Wertheimer, Jouvet und Descotes erstmals über Kriterien, um bei diesen Patienten den Tod feststellen zu können („A propos due diagnostic de la mort du système nerveux dans les comas avec arrêt respiratoire traités par respiration artificielle.“) Die Arbeit konzentrierte sich wesentlich auf die Aussagekraft des isoelektrischen EEGs (Abbildung 1), hat aber auch die prolongierte Apnoe dokumentiert, die entsteht, wenn der Respirator abgeschaltet wird. Die fehlende Funktion der respiratorischen Zentren in der Medulla oblongata wurde auch durch eine fehlende Reaktion der Herzfrequenz nach Karotiskompression, okulärer Kompression und intravenöser Injektion von Atropin und Amphetamin demonstriert.

Diesen bahnbrechenden Berichten folgte die Meilensteinarbeit von Mollaret und Goulon 1959, die diesem Zustand den Namen Coma dépassé („über das Koma hinaus“) gegeben haben. Neben der Bewusstlosigkeit zeigten alle 23 Patienten des Claude Bernard Hospitals in Paris eine Apnoe, den Verlust der Hirnstammreflexe, verbunden mit Hypotonie, Polyurie und einer Störung der Temperaturregulation. Dieser Zustand war weit über das tiefste Koma hinausgegangen. Goulon wollte den Terminus le coma dépassé in erster Linie als „irreversibles“ oder „unwiderrufbares“ Koma verstanden wissen. Die Entwicklung der Herz-Kreislauf-Reanimation, des kardiopulmonales Bypass und der später durchgeführten Herztransplantation machten deutlich, dass der Stillstand des Herzens, auch wenn er permanent ist, nicht ausreichend ist, um den Tod eines Individuums hervorzurufen. Der britische Pathologe Simpson schlug 1964 vor: „there is still life so long as a circulation of oxygenated blood is being maintained to live vital (brainstem) centers”.3 Dadurch waren die bisher im Mittelpunkt stehenden kardiorespiratorischen Todeskriterien nur noch insofern relevant, als sie indirekt den irreversiblen Funktionsverlust des Gehirnes zeigen. Die erste Beschreibung und Definition der Hirntodkriterien wird oft dem Harvard-Report aus dem Jahre 1968 (siehe unten) zugeschrieben. Einige Jahre zuvor wurden jedoch neurologische Definitionen des Todes vorgeschlagen4 und Organentnahmen zur Transplantation bei diesen Patienten durchgeführt.5 Das „Hirntodkonzept“ wurde durch Mediziner Kraft des Faktischen bereits vor 1968 anerkannt, obwohl der Terminus des „Hirntodes“ noch nicht in Gebrauch war und dessen diagnostische Kriterien in Entwicklung standen. Ebenso bestand auch ein fehlender Konsens, ob die Definition des Todes überhaupt elaboriert werden sollte. Für eine Neudefinition des Todes müssten auch alle ethischen und juridischen Konsequenzen getragen werden.

Die im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehende Herztransplantation wurde erstmals in Südafrika 1967 unter Beifall der Weltpresse durchgeführt. 1967 wurde ein Patient an das Cape Town Groote Schuur Hospital aufgenommen, an dem Professor Christiaan Barnard und sein Transplantationsteam auf einen passenden Organspender für Doktor Philip Blaiberg, dem Patienten, der für den zweiten Versuch einer Herztransplantation ausgewählt wurde, warteten. Zur großen Enttäuschung des Transplantationsteams stellte der Arzt im Dienst Professor Sir Raymond Hoffenberg, nach gründlicher Untersuchung fest, dass der für die Organspende ausgewählte Patient zwar durch eine Subarachnoidalblutung schwerst neurologisch geschädigt, aber noch am Leben war. Später schreibt er: „I stood at the bedside of the patient, wondering what on earth to do ...”.6 Nach einer gründlichen Untersuchung, in der er noch immer neurologische Reflexe auslösen konnte, hat sich Hoffenberg geweigert, diesen Patienten für tot zu erklären. Erst nach einer weiteren Untersuchung des bewusstlosen Patienten am nächsten Morgen erlaubte Hoffenberg die Fortsetzung der Prozedur, nachdem alle neurologischen Reflexe verschwunden waren. Im weiteren Verlauf wurde die Beatmung ausgesetzt und eine Organentnahme erst nach Herzstillstand durchgeführt.7 Eine Entnahme des schlagenden Herzens nach Feststellung des Todes erschien dem Team vermutlich ein zu radikaler Schritt.8 Die unter dem Licht der Öffentlichkeit präsentierten Errungenschaften wurden erwartungsgemäß auch von einer breiten ethischen Kontroverse begleitet. Die Entwicklung klarer Kriterien zur Feststellung des Todes, insbesondere auch des Todeszeitpunktes, wurde daher zu einer dringlichen Notwendigkeit.

2.2. Die Harvard-Kriterien

1968 wurde von einem Ad Hoc Komitee der Harvard Medical School eine Definition des irreversiblen Komas publiziert: „A definition of irreversible coma“.9 In diesem Bericht wurde auch erstmals der Begriff des Hirntodes geprägt. Die Feststellung des Hirntodes beruht auf 3 Säulen:

  1. konzeptionelle Definition des Hirntodes als irreversibler Funktionsverlust des Gehirns (permanently non-functioning brain);
  2. Festlegung von diagnostischen Kriterien, die den Hirntod charakterisieren;
  3. Redefinition des Todes, die diesen Zustand miteinschließt.

Bahnbrechend dabei war, dass der Hirntod als juridisches Äquivalent des bisherigen kardiorespiratorischen Todes vorgeschlagen wurde, obwohl dabei noch die kontinuierliche Funktion des Herzens und anderer Organe möglich waren. Patienten konnten daraufhin für tot erklärt werden, bevor der Respirator abgeschaltet wurde, um eine größere Sicherheit für diejenigen Ärzte zu erreichen, die solche Patienten behandelten. In dem Eröffnungssatz des Harvard-Reports wird klar festgelegt: „Der primäre Zweck (dieser Arbeit) ist das irreversible Koma mit dem neuen Kriterium des Todes gleichzusetzen“ („our primary purpose is to define irreversible coma as a new criterion for death“).10

Die spezifischen Kriterien waren:

  1. vollständige Areagibilität auf externe Reize
  2. das Fehlen von Hirnstammreflexen
  3. Abwesenheit von Sehnenreflexen
  4. Atemstillstand (Apnoe)

Der Atemstillstand musste durch Abschalten des Ventilators für die Dauer von drei Minuten nachgewiesen werden. Das isoelektrische EEG (Abbildung 1) wurde als Bestätigung der klinischen Diagnostik verstanden und sollte immer dort eingesetzt werden, wo es verfügbar war. Hypothermie und der Effekt von sedierenden Medikamenten mussten vor der Durchführung der Testung ausgeschlossen werden. Die Untersuchung musste 24 Stunden später wiederholt werden, um etwaige Veränderungen über diesen Zeitraum auszuschließen. Die Feststellung der Ursache des Hirntodes war nicht notwendig.

Es ist beachtlich, dass dieser bahnbrechende Bericht des „Ad hoc Komitees“ ohne Auftrag eines öffentlichen Organs oder einer Institution entstanden ist. Die selbstorganisatorische Kraft der damals tätigen Mediziner zeigt das hohe ethische und soziale Engagement von herausragenden Ärztinnen und Ärzten. In der Vorrede zum Harvard-Report werden zwei Gründe genannt, die eine Redefinition des Todes notwendig machten: (1) Die Belastung, die das irreversible Koma mit sich bringt, betrifft den Patienten selbst, dessen Angehörige, aber auch die Spitäler, in dem Intensivbetten nicht für andere Patienten freistehen, die sie benötigen („the burden (of irreversible coma) is great on patients who suffer permanent loss of intellect, on their families, on the hospital, and on those in need of hospital beds already occupied by these comatose patients“). (2) Obsolete Kriterien der Todesdefinition könnten zu einer Kontroverse bei der Organentnahme führen. Giacomini (1997) argumentiert jedoch als ehemaliges Mitglied, dass genaugenommen gerade die Organtransplantationen die wesentliche Triebfeder waren, um die neuen Todeskriterien zu erstellen. Auch dabei geht es um die korrekte Durchführung und den Schutz des Individuums bei der Organentnahme. Im Rahmen der Konsensdiskussion wurde jedoch dieser Aspekt aus der Vorrede zu dem Harvard-Bericht wieder gestrichen.11

2.3. Entwicklung des Hirntodkonzeptes nach 1968

Nach dem Harvard-Report folgten bereits sehr früh gleichgeartete Richtlinien zur Hirntoddefinition. Mohandas und Chou (1971) beschrieben die sogenannten Minnesota-Kriterien, die dem irreversiblen Funktionsverlust des Hirnstammes stärkeres Gewicht beimaßen. Der Funktionsausfall des Hirnstammes kann demnach klinisch verlässlich festgestellt werden, und das isoelektrische EEG ist daher nicht notwendigerweise bei allen Patienten nachzuweisen. Während in den Harvard-Kriterien „keine erkennbare Aktivität des zentralen Nervensystems“ („no discernible central nervous system activity“) als Definition für den Hirntod gefordert wurden, ist nach den Minnesota-Kriterien die Feststellung des Todes auch dann noch möglich, wenn die Patienten, die die Kriterien des Hirntodes (irreversibler Funktionsverlust des Hirnstammes und des Großhirns) aufweisen, spinale Reflexe aufweisen.12 1970 wurde im US-Bundesstaat Kansas erstmals das neurologische Konzept des Hirntodes als juridische Grundlage für die Todesdefinition anerkannt.13 1981 wurden die Richtlinien durch eine Präsidalkommission der USA bestätigt.14 Während in den USA die Definition des Todes vor allem durch den irreversiblen Funktionsverlust von Hirnstamm und Großhirn charakterisiert ist, verfolgt man in Großbritannien einen etwas anderen Weg. Durch die Kriterien der Conference of Medical Royal Colleges and their Faculties 1976,15 einem Amendment 197916 und dem später folgenden Code of Practice des Gesundheitsministeriums in Großbritannien (1998)17 ist der Hirntod durch den irreversiblen Funktionsverlust des Hirnstammes konzeptioniert. Dabei ist der Nachweis der Ursache des Hirnstammschadens eine Grundvoraussetzung.

In Europa sind in nahezu allen Ländern legal akzeptierte Hirntodkriterien als Äquivalent des Individualtodes etabliert. Die Unterschiede in den einzelnen Kriterien beziehen sich auf die Anzahl der notwendigen Untersuchungen, der Anzahl der involvierten Ärzte, die die Untersuchungen unabhängig durchführen müssen, sowie Details bei der Durchführung der Tests zur Feststellung des irreversiblen Funktionsausfalls des Großhirns und des Hirnstammes. Die in Europa etablierten Testkriterien wurden mehrfach in Übersichtsarbeiten dargestellt. Dabei kam Eelco Wijdicks zum Schluss, dass das Hirntodkonzept weltweit eine akzeptierte Tatsache ist, aber dass es keinen Konsensus bezüglich der Details in den Testkriterien gibt. Konfirmatorische Tests sind in manchen Ländern obligat, in anderen optional. In Österreich ist die derzeit gültige Fassung der Empfehlungen zur Durchführung der Hirntoddiagnostik bei einer geplanten Organentnahme entsprechend dem Beschluss des obersten Sanitätsrates vom 17.12.200518 durch das österreichische Bundesinstitut für Gesundheitswesen publiziert und wird 2013 von einem Expertengremium überarbeitet. In diesen Richtlinien heißt es: „Der Hirntod wird definiert als Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstammes. Entsprechend dem aktuellen Stand der Wissenschaft ist der Hirntod identisch mit dem Individualtod eines Menschen.“ Wichtig dabei ist, dass es auf die irreversibel erloschene Gesamtfunktion ankommt und nicht auf das Funktionieren einzelner Zellen oder Zellaggregate im Kortex.

3. Hirntoddiagnostik

Die Hirntoddiagnostik darf erst nach Prüfung spezifischer Voraussetzungen durchgeführt werden. In Österreich setzt sich diese Untersuchung aus einer klinisch neurologischen Untersuchung und einer ergänzenden Untersuchung zum Nachweis der klinischen Ausfallssymptome zusammen. Die Hirntoddiagnostik darf ausschließlich bei Vorliegen einer akuten primären oder sekundären Hirnschädigung durchgeführt werden. Vor Beginn der Untersuchungen müssen auf Basis einer genauen Erhebung von Vorgeschichte und Befunden Intoxikationen, die entweder direkt oder indirekt das zentrale oder periphere Nervensystem beeinflussen, ausgeschlossen werden. Die aktuelle Körpertemperatur muss über 35° liegen und eine primäre Hypothermie (unter 32°) ausgeschlossen werden. Ebenso sind der hypovolämische Schock, endokrine oder metabolische Ursachen eines Komas, wie z. B. eine Hypokaliämie unter < 2,5 mmol/l Ausschlussgründe.

Die klinische Überprüfung des Ausfalles der Hirnstammreflexe erfolgt nach einem geordneten Untersuchungsprotokoll, das von einem Facharzt für Neurologie durchgeführt werden muss, der nicht unmittelbar mit der Führung des Patienten betraut ist. Die unabhängige Betrachtungsweise, die in Österreich erforderlich ist, schützt vor etwaigen Interessenskonflikten. Eine Übersicht über die klinischen Tests zur Überprüfung des Fehlens sämtlicher Hirnstammreflexe ist in Tabelle 1 dargestellt. Das Vorhandensein spinaler Reflexe spricht nicht gegen das Vorliegen der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, Kleinhirns und des Hirnstammes.

  1. Keine Pupillenreaktion auf Licht bei mittel- bis maximalweiten Pupillen.
    Die topische Applikation von Medikamenten (z. B. Mydriatica) sowie vorausgehende bilaterale anatomische Abnormalitäten der Iris bzw. Operation an den vorderen Augenabschnitten müssen ausgeschlossen sein.
  2. Keine spontanen oder durch Passivbewegung des Kopfes oder durch kalorische Stimulation bedingten Augenbewegungen.
    Dies inkludiert:
    • Kein okulocephaler Reflex (OCR)
      (nur testbar, wenn keine Halswirbelsäulenverletzung vorhanden ist)
    • Kein vestibulookulärer Reflex (VOR)
      keine Abweichung der Bulbi auf Kaltwasserreizung am Trommelfell. (Durchführung: 1 Minute Beobachtungszeit nach Applikation des Eiswassers ist notwendig, die Zeit zwischen den Untersuchungen rechts/links sollte mindestens 5 Minuten betragen). Cave: otobasale Fraktur mit offenem Trommelfell oder Hämatotympanon.
  3. Fehlen des Ciliospinalreflexes
  4. Fehlen des Masseterreflexes
  5. Fehlen des Kornealreflexes
  6. Fehlen des Pharyngealreflexes (Würgreflex) bei Berühren der Rachenhinterwand mit einem Spatel
  7. Fehlen des Hustenreflexes beim endotrachealen Absaugen
    (= Fehlen des Carinareflexes bei mechanischer Irritation der Carina durch Absaugkatheter)
  8. Kein Grimassieren (bzw. systolischer Blutdruckanstieg > 40mm Hg) auf Druckprovokation an den Bulbi oder Austrittstellen des Nervus trigeminus bzw. bei Schmerzprovokation am Nasenseptum
  9. Schlaffe Tetraplegie
  10. Atropintest zur Überprüfung der Herzreaktion (Applikation von 2 mg Atropin intravenös (Cave: Nachspülen von 5 ml NaCl durch die Kanüle (ZVK) essenziell): Steigerung der Herzausgangsfrequenz um maximal 15%, wobei entsprechend der jeweiligen Kreislaufsituation eine Wartezeit von mindestens 2 bis 3 Minuten notwendig ist.
  11. Apnoe

Tab. 1: Überprüfung des Fehlens sämtlicher Hirnstammreflexe nach den Empfehlungen zur Durchführung der Hirntoddiagnostik19

Als ergänzende Untersuchung hat das EEG eine in allen Belangen vorrangige Stellung, da es die kortikale Aktivität am besten wiedergibt (Abbildung 1). Nicht invasiv ist das EEG auch direkt am Bett des Patienten durchführbar. In einzelnen Fällen kann aufgrund eines besonderen Verletzungsmuster das EEG nicht durchgeführt werden, sodass stattdessen eine transkranielle Doppler-Duplex-Sonographie oder eine Computertomographie-Angiographie (CT-Angiographie) zum Nachweis des Zirkulationsstillstandes durchgeführt werden.

Der Zeitpunkt der Feststellung des Hirntodes ist gleichzeitig auch der juridisch definierte Todeszeitpunkt. Dies erlaubt entweder die kardiorespiratorisch künstlich aufrechterhaltene Herz-Kreislauffunktion zu beenden, oder den Prozess der Organentnahme zu starten. In Österreich ist festgelegt, dass mit dem Zeitpunkt des Todes auch die Existenz des juridischen Individuums eines Menschen endet. Der Patientenwille ist auch nach dem Tod zu respektieren, sodass ein Ausschlussgrund für die Organentnahme lediglich darin besteht, dass entweder eine schriftliche oder eine klar deklarierte Willensäußerung des Patienten zu Lebzeiten nachweisbar ist. In anderen Ländern überlässt man diese Entscheidung den nächsten Angehörigen, was in vielen Situationen zu großen Problemen führt. Die Regelung der individuellen Selbstbestimmung des Individuums über den Verbleib des Körpers nach dem Tod ist sinnvoll und kohärent. Liegt keine Deklaration des Patienten vor, so ist in allen Fällen eine Organentnahme möglich.

4. Spinale Reflexe

Spinalreflexe sind bei Patienten, die die Hirntodkriterien erfüllen, seit vielen Jahren beschrieben.20 Neben einfachen Fluchtreflexen an den Extremitäten oder dem Cremasterreflex können auch komplexe Bewegungen – sowohl auf externe Stimuli als auch beim Apnoe-Test – beobachtet werden.21 Afferente sensorische Stimuli im Rückenmark oder spinale Hypoperfusion werden dafür verantwortlich gemacht. Die komplexen Bewegungsmuster, die den gesamten Körper betreffen, wie z. B. Aufrichtebewegungen oder atemähnliche Bewegungen werden unter dem Begriff „Lazarus-Zeichen“22 zusammengefasst. Dieser etwas unglücklich gewählter Terminus für die komplexen Bewegungen bei Hirntoten bezieht sich auf Lazarus, das aus dem hebräischen el āzār (Gott hat geholfen) kommt.

Dabei handelt es sich keineswegs um das Wunder einer Wiederauferstehung, wie es in der Bibel im Johannes-Evangelium beschrieben wird, sondern um komplexe Bewegungsmuster, die eine Pronation der Arme, Flexionsbewegungen oder Extensionsbewegungen der Ellenbogen, Finger und des Oberkörpers umfassen können.23 Vereinzelt wurden auch undulierende Bewegungsmuster oder Gehmuster der unteren Extremitäten beobachtet.24 Diese reflektorisch ausgelösten, auf spinaler Ebene vermittelten Reflexbewegungen können sowohl beim Pflegepersonal als auch bei den Angehörigen schwere Irritationen verursachen. Zahlreiche, in der Presse oft unglücklich dargestellte Berichte beziehen sich auf spinale Reflexe und komplexe Bewegungsmuster auf spinaler Ebene, die von Angehörigen oder Pflegepersonal beobachtet werden und als Zeichen des Todeskampfes interpretiert werden. Es ist notwendig, die Angehörigen darauf behutsam vorzubereiten, falls sie dem Moment des Todes beiwohnen möchten.

5. Erkrankungen, die den Hirntod vortäuschen können

Wie jede klinische Diagnostik, die von Menschen betrieben wird, unterliegt auch die klinische Feststellung des Hirntodes potenziellen Fehlerquellen. Einerseits müssen die Grundvoraussetzungen, wie z. B. Ausschluss einer primären Hypothermie oder einer Intoxikation vorhanden sein, um mit der klinischen Hirndiagnostik beginnen zu dürfen (siehe Kapitel Hirntoddiagnostik). Darüber hinaus gibt es aber auch Erkrankungsbilder, die durch den Ausfall sämtlicher Hirnstammreflexe gekennzeichnet sind, ohne dass dabei ein irreversibler Funktionsverlust vorliegt. Bei korrekter Durchführung der in Österreich vorliegenden Kriterien zur Feststellung des Hirntodes können diese Krankheitsbilder jedoch verlässlich identifiziert werden, wodurch eine fälschliche Feststellung des Hirntodes ausgeschlossen ist. Bei nicht korrekter Durchführung der Hirntoddiagnostik können jedoch dabei schwerwiegende medizinische Probleme entstehen, die nicht durch die konzeptionellen Rahmenbedingungen der Hirntoddiagnostik, sondern durch ein fehlerhaftes Anwenden der Untersuchungskriterien entstehen.

a) Locked-in Syndrom

Dieses Syndrom ist durch eine völlige Deafferenzierung durch Zerstörung der ventralen Teile der Brücke hervorgerufen. Am häufigsten handelt es sich dabei um Hirnstamminfarkte, Tumor oder Traumata.25 Die Patienten sind bei vollem Bewusstsein und nur noch in der Lage mit vertikalen Blickparesen zu kommunizieren. Schwierigkeiten ergeben sich vor allem dann, wenn ein erweitertes locked-in Syndrom besteht, wobei die Patienten zusätzlich zur völligen Immobilität eine Lähmung aller Augenmuskeln und eine Unfähigkeit zur Öffnung der Augen aufweisen. Diese Formen wurden 1979 von Bauer, Gerstenbrand und Rumpl klassifiziert.26 Wohlgemerkt weisen alle Patienten, selbst in totalem locked-in Syndrom, eine ungestörte kortikale Funktion auf, die unzweifelhaft im EEG nachweisbar ist.27

b) Guillain-Barré-Syndrom

Es gibt einige Berichte von Patienten mit schwerem Guillain-Barré-Syndrom, die dem Hirntodsyndrom ähneln.28 Diese Patienten haben ebenfalls immer eine eindeutig nachweisbare EEG-Aktivität. Auch hier sind die klinische Diagnose und die Durchführung eines EEG’s unerlässlich.

c) „Medulla man“

Eelco Wijdicks hat 2001 einen Fall eines schweren traumatischen Komas mit Verlust fast aller Hirnstammreflexe außer eines schwachen Hustenreflexes bei trachealer Absaugung beschrieben. Bei diesem Patienten ist auch eine spontane Atmungsaktivität bei der Durchführung des Apnoetests aufgetreten. Der „Medulla man“ erfüllt somit weder klinisch noch in den Zusatzuntersuchungen die Kriterien des Hirntodsyndroms.

d) Multiple Sklerose

Ringel hat 1988 einen Patienten mit schwerer multipler Sklerose beschreiben, der durch eine Hirnstammläsion in ein Koma mit Hypotonie gefallen ist.29 Aufgrund der Schluckstörung bei fehlenden Hirnstammreflexen erlitt der Patient eine Hypoxie nach einer Aspiration. Die Hirnstammreflexe waren zwischen dem 1. und 3. Tag vollständig abwesend, obwohl das EEG nach wie vor eine kortikale Aktivität nachweisen konnte. Nach zwei Wochen hat sich der Patient nahezu vollständig erholt. Auch hier ist aufgrund der Durchführung der EEG-Untersuchung nachgewiesen, dass es sich um keinen irreversiblen Funktionsverlust des gesamten Gehirns gehandelt hat, sondern lediglich um passageres Fehlen der Hirnstammreflexe.

e) Hirnstammenzephalitis

Diese seltene Form der Enzephalitis ist durch eine Ophtalmoplegie, Ataxie und Hyporeflexie gekennzeichnet.30 Die im variablen Maß auftretende Lähmung der Hirnnerven und manchmal schwere Bewusstseinsstörung kann auch mit Apnoe, Koma und Fehlen der Hirnstammreflexe einhergehen.31 Die sorgfältige klinische Testung und die Durchführung eines EEG schließen auch hier eine Verwechslung mit dem Hirntod aus.

6. Somatische Desintegrationshypothese

Die somatische Desintegrationshypothese besagt, dass nach dem Eintreten des Hirntodes der kardiorespiratorische Tod nach absehbarer Zeit folgt, da das Gehirn als zentrales Integrationsorgan des Körpers irreversibel geschädigt ist und dessen permanenter Funktionsverlust nicht mit der geordneten körperlichen Funktion vereinbar ist. Die somatische Desintegrationshypothese wird zum Teil kontrovers diskutiert, da vereinzelt Fälle beschrieben wurden, die durch Ausschöpfung aller intensivmedizinischer Maßnahmen länger als erwartet überlebt haben und erst nach Rückzug der Therapie (Vasopressor-Therapie und aktive Aufrechterhaltung der kardiorespiratorischen Funktion) verstorben sind.32 Shewmon hat 1998 175 Fälle aus der Literatur zusammengetragen, bei denen es sich um Patienten handelte, deren Hirntod nach unterschiedlichen Kriterien festgestellt wurde und die mindestens eine Woche nach der Hirntoddiagnose überlebt haben.33 Die Mehrheit dieser Patienten verstarb entsprechend der somatischen Desintegrationshypothese innerhalb von zwei Wochen (entweder spontan oder nach Rückzug der Vasopressoren-Therapie). Vier überlebten ein Jahr und ein Patient über 14 Jahre. Die Validität dieser Berichte ist jedoch zu hinterfragen,34 da der Großteil dieser Patienten nicht ausreichend beschrieben wurde und die Hirntoddiagnostik keinesfalls als erfüllt betrachtet werden kann. Nur 56 der 175 Fälle waren detailliert beschrieben, sodass sie in eine Sekundäranalyse eingeschlossen werden konnten. Keiner dieser Patienten erfüllt die sicheren Kriterien des Hirntodes, die vor allem in einer korrekten klinischen Diagnose des Verlustes der Hirnstammreflexe einschließlich einer korrekten Apnoetestung sowie in Österreich auch einem Nachweis des kortikalen Funktionsausfälles mittels EEG besteht.

Die Probleme sind daher weniger, dass die Hirntodkriterien nicht sicher genug sind, sondern dass es weltweit möglicherweise Patienten gegeben hat, deren Hirntod zu früh oder fälschlicherweise diagnostiziert wurde. Keine der Fälle sollte dazu führen, dass die kardiovaskuläre Funktion solange wie möglich aufrecht erhalten werden soll, sondern sie zeigen vielmehr die hoffnungslose Prognose, dass Erholung in diesen Fällen nicht möglich ist und dass diese Patienten unwiderruflich dem Hirntod und der somatischen Desintegration entgegengehen.

7. Religiöse und kulturelle Aspekte des Hirntodes

Religiöse Überzeugungen und kulturelle Haltungen, Traditionen und persönliche Glaubensaspekte spielen bei dem Patienten zu Lebzeiten eine wichtige Rolle, der dann eine deklarierte Willenserklärung äußert oder sich in anderen Ländern, wie z. B. in Deutschland, einem Organspenderegister anschließt. Am Krankenbett haben sich die Ärztinnen und Ärzte mit den Überzeugungen der Angehörigen auseinanderzusetzen, die in Anbetracht des nahenden Verlustes eines geliebten Menschen in einer emotionalen Ausnahmesituation sind. In den drei großen monotheistischen Religionen Christentum, Islam und Judentum werden Organspenden nach Feststellung des Hirntodes akzeptiert und befürwortet. Regelungen und definierte Aussagen dazu sind im unterschiedlichen Maße vorhanden. Sowohl im Islam als auch im Judentum wurde der Tod über viele Jahre durch die Abwesenheit der Atmung definiert. Eine detaillierte Diskussion über die Theologie des Todes und Bestattungsriten würde die Grenzen des Artikels bei weitem übersteigen. Dennoch sollen hier einige Aspekte genannt sein.

Das dominante Thema in der christlichen Religion ist die Wiederauferstehung Jesus Christi und der Glaube an die Auferstehung seiner Jünger. Die Auffassungen, dass die Seele die körperliche Hülle nach dem Tod verlässt, erlaubt nach Meinung führender christlicher Theologen die Organspende, um Anderen das Leben zu ermöglichen. Die römisch-katholische Kirche legitimiert die Organspende auf Basis des Prinzips der Nächstenliebe und der Solidarität in der christlichen Gemeinschaft.35

Im Islam wird die Unterwerfung aller Individuen dem einzigen Gott (Allah) und seinem Willen gefordert. Die islamischen Familien und Gemeinden sind stark miteinander verwoben und rücken umso näher zusammen, wenn eines der Familienmitglieder vom Tod bedroht wird. Niemand hat das Recht zu töten oder Hilfeleistung zu verweigern, die zum Ableben des Menschen führen. Dennoch wurde in der 3. Internationalen Konferenz Islamischer Juristen eine Feststellung des Hirntodes akzeptiert, wenn folgende Zeichen vorhanden sind: 1. vollständiges Sistieren des Herzschlages und der Atmung und das klare Urteil der Ärzte, dass dies irreversibel ist; 2. vollständiges Erlöschen aller vitalen Funktionen des Gehirns, das klare Urteil der Ärzte, dass dies irreversibel ist und der Degenerations- oder Desintegrationsprozess des Gehirnes bereits begonnen hat. Hier zeigt sich offensichtlich, dass der irreversiblen Funktionsausfalles des Gehirnes alleine nicht in dieser Form wie in den anderen monotheistischen Religionen akzeptiert wird. Die überwiegende Mehrheit der jüdischen Glaubensangehörigen unterstützt das Konzept des Hirntodes sowie der Organspende.

Oft ist die Frage nach einem herbeigesehnten Wunder und einer Wunderheilung bei sehr gläubigen Angehörigen am Krankenbett ein Diskussionsthema.36 Etwa 10% der Familien drücken ihre Hoffnung auf eine Wunderheilung auch aus. In der christlichen aber auch in der jüdischen Religion beziehen sich die Wunderheilungen auf biblische Erzählungen, wie z. B. im Elijah-Zyklus die Auferweckung des Sohnes der Witwe37 oder die Auferstehung des Lazarus.38 Wichtig in der Kommunikation mit den Angehörigen ist die kontinuierliche Bestätigung, dass die Situation unverrückbar ist und der Tod bereits eingetreten ist. Die Sicherheit und Erfahrung des Arztes oder der Ärztin in der Feststellung des Hirntodes und die philosophisch ethische Durchdringung des Hirntod-Konzeptes sind hier von grundlegender Bedeutung, um auch den Angehörigen in dieser Situation eine Hilfe zu sein.

8. Philosophische Grundlagen des Hirntodkonzeptes

Der jüdische Arzt und Philosoph Moses Maimonides hat bereits im 12. Jahrhundert bei der Köpfung von Delinquenten beobachtet, dass kurz nach der Dekapitation Zuckungen am Körper aufgetreten sind. Daraus hat er geschlossen, dass dieser Körper aufgrund des Fehlens des Gehirnes und der koordinierenden Funktion des Gehirnes nicht mehr am Leben gehalten werden kann. Konzeptionell stellt dies die Basis für die Gleichsetzung des Hirntodes mit dem Gesamttod des Individuums dar.39 Der Begriff des Hirntodes ist aus mehrerlei Aspekten unglücklich. Zum einen hat er sich vor allem im englischen Sprachraum als abfälliger umgangssprachlicher Ausdruck für von anderen nicht geschätzte Individuen in Verwendung gefunden. Zum anderen suggeriert der Begriff, dass es einerseits einen Hirntod und andererseits einen Tod gibt, der das gesamte Individuum betrifft. Dies ist genau dem Konzept des Hirntodes in seiner stringenten Betrachtungsweise entgegengesetzt.

Seit den 1970ern besteht eine aktive, zum Teil auch leidenschaftlich geführte Diskussion über die Konzepte und die konzeptionelle Validität des Hirntodes. Dabei können drei in ihren Ansätzen etwas unterschiedliche Konzepte formuliert werden: (1) Gesamthirntod, (2) höherer Hirntod und (3) Hirnstammtod. Die Anhänger des Ganzhirntod-Konzeptes vertreten die Ansicht, dass der irreversible Funktionsverlust des Hirnstammes und der Großhirnrinde notwendig für die Definition des Hirntodes ist. Die meisten Hirntodkriterien schließen sich dieser Auffassung an. Das Existieren einzelner Zellverbände oder Regelkreise auf spinaler Ebene schließen den irreversiblen Verlust der Gesamtfunktion des Gehirns und somit den Ganzhirntod nicht aus. Die Anhänger des Konzeptes des höheren Hirntodes fordern lediglich den irreversiblen kortikalen Funktionsausfall, der auch bei erhaltenen Hirnstammreflexen gegeben sein kann.

Keine der heute akzeptierten Hirntodkriterien schließt sich dieser Auffassung an, da diese unweigerlich dazu führen würde, am Leben befindliche Individuen, die atmen, gähnen, kauen und schlucken können, deren Großhirnfunktion aber erloschen ist, als „lebende Organspender“ heranzuziehen. Diese Auffassung ist ethisch nicht zu verteidigen und führt auf eine schiefe Ebene, auf der es keine genaue Definition mehr gibt, wann der höhere kortikale Tod eingetreten ist. Den Minnesota-Kriterien folgend hat sich in Großbritannien das Hirnstammtod-Konzept durchgesetzt; in allen anderen Ländern beruhen die Hirntoddefinitionen auf dem Gesamthirntod-Konzept.

Der medizinische Fortschritt – insbesondere der technologische Fortschritt – hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine heftige Debatte über die Definition des Todes hervorgerufen. Während in früherer Zeit der kardiorespiratorische Tod unweigerlich zum irreversiblen Funktionsverlust des Gehirns geführt hat oder der kardiorespiratorische Tod unweigerlich eine Folge des irreversiblen Funktionsverlust des Gehirns war, so können heute Herz und Lunge vergleichsweise einfach prolongiert funktionsfähig erhalten bleiben, obwohl der irreversible Funktionsverlust des Gehirns bereits eingetreten ist. Ein notwendige stringente Analyse und Konklusion über die Bedingungen des menschlichen Todes in unserem von Technologien geprägten Zeitalter kann am besten durch eine stufenweise Annäherung erfolgen: (1) Grundannahmen, (2) Definition, (3) Kriterien, (4) Diagnostik.

Die Grundannahmen sind die philosophischen Rahmenbedingungen, unter denen der Tod zu verstehen ist. Die konsensuelle Definition des Todes ist eine ebenso philosophische Aufgabe, die die hinreichenden und notwendigen Bedingungen des Todes explizit macht, die implizit in unserer konsensuell bestehenden Auffassung vom Tod vorhanden sind. Das generelle Kriterium, das zu Erfüllung der Definition dient, muss sowohl hinreichend als auch notwendig für den Tod sein. Die Wahl des Kriteriums ist somit philosophisch und medizinisch festgelegt, während die Testkriterien, vor allem der Zusatzdiagnostik, die sich auch im Wandel der Zeit ändern kann, eine rein medizinische Aufgabe darstellt.

8.1. Grundannahmen zum Tod

Jede Analyse des Todes oder Entwicklung eines Konzeptes ist an die Akzeptanz gewisser Grundannahmen (Axiome) über die Natur des Todes gebunden. So ist z. B. das Negieren der Grundannahme, dass der Tod ein biologisches Phänomen ist, inkompatibel mit einer Definition des Todes. In gleichem Maße muss auch die Annahme, dass ein Organismus entweder lebendig oder tot ist, akzeptiert werden: Tertium non datur!

Annahme 1

„Der Tod“ ist ein Begriff, den wir nominalistisch und realistisch richtig verwenden.

Ziel jeder Analyse von Konzepten über den Tod ist es, die implizite konsensuell akzeptierte Bedeutung (Realismus) explizit zu machen. Es geht nicht um eine Neudefinition zum Zwecke sozialer, politischer, philosophischer oder medizinischer Agenden. Gegenstand ist der Tod eines menschlichen Organismus und nicht der Tod einer einzelnen menschlichen Zelle, eines Gewebes, einzelner Netzwerke oder eines Organs.

Annahme 2

Der Tod ist ein biologisches Phänomen.

Wir alle kennen die Rituale und Verhaltensweisen rund um das Sterben, die Bestimmung des Todes eines Menschen, das Begräbnis und das Trauern als tief verwurzelte soziale, kulturelle, anthropologische, juridische, religiöse und auch historische Handlungen. Die fundamentale Tatsache des Todes ist jedoch wie das Leben ein biologisches Phänomen. Wir verwenden den Begriff in korrekter Bezugnahme auf einen verstorbenen (→ tot) oder eines lebenden Organismus (→ nicht tot). Der Begriff trifft nur auf Organismen oder Gewebe zu, außer er wird metaphorisch oder in einem anderen Kontext als Phrase verwendet (z. B. Tod einer Kultur). Alle lebenden Organismen müssen sterben und nur lebende Organismen können sterben. Als biologisches Phänomen ist der Tod nicht künstlich durch die Gesellschaft erzeugt; er ist eine unabhängige Tatsache. Der Tod tritt auf, wenn das Leben beendet ist.

Annahme 3

Der Tod ist irreversibel.

Es ist nicht möglich den Tod rückgängig zu machen. Die Irreversibilität ist nicht durch die Limitationen der derzeit angewandten Technologien bestimmt. Es ist eine inhärente unausweichliche Eigenschaft des Todes. Patienten, die nach einer Reanimation aus dem Sterben (dem Prozess des Sterbens) wieder zurückgeholt wurden, waren nicht tot, sondern zu diesem Zeitpunkt noch lebendig. In gleichem Maße beschreiben diese Patienten sogenannte Nahtoderlebnisse, bei denen es sich nicht um Berichte handelt, wie es ist, tot zu sein, sondern um Erlebnisse, die beim Prozess des Sterbens auftreten.

Annahme 4

Der Tod ist ein Ereignis und nicht ein Prozess.

Lebendig oder tot sind die einzigen beiden Existenzformen eines Organismus. Alle Organismen sind entweder lebendig oder tot. Sie können niemals beides gleichzeitig sein. Das Sterben ist ein Prozess, der eintritt, wenn der Organismus am Leben ist. Die Desintegration beginnt, nachdem der Organismus tot ist. Der Tod ist das Ereignis, das den Prozess des Sterbens und den Prozess der somatischen Desintegration voneinander trennt. Der Tod ist ein Ereignis, da die Transition des körperlichen Zustandes vom Lebendigen auf das Tote inhärent, diskontinuierlich und plötzlich ist.

Annahme 5

Der Tod ist phänomenologisch erkennbar und kann mit einer hohen Reproduzierbarkeit und Treffsicherheit durch relativ einfache Tests nachgewiesen werden. Die Tests müssen beschrieben und validiert sein, um die Möglichkeit eines falsch positiven Resultates auszuschließen.

8.2. Definition des Todes

Die philosophische Aufgabe die essentiellen gleichsam notwendigen und hinreichenden Charakteristika zu definieren, die den Tod bedingen, fordern eine umfassende Erklärung der biologischen Phänomene des Todes. Der Tod ist kein unitaristisches Ereignis mehr. Wir können uns nicht mehr auf das gleichzeitige Sistieren aller vitalen Organe verlassen. Bestimmte Definitionen sind biologisch nicht plausibel, so z. B. die Todesdefinition als die Beendigung sämtlicher körperlicher zellulärer Funktionen. Nägel und Haare können noch einige Tage nach dem definierten Hirntod wachsen. Ebenso können Zelllinien von einem Toten über Monate und Jahre in Zellkulturen am Leben erhalten werden. Ebenso ist die Definition des Todes als Zeitpunkt, wenn unsere Seele den Körper verlässt, nicht viabel, obschon viele Menschen den Glauben daran teilen, selbst wenn sie nicht religiös sind.

Das Konzept des Gesamtorganismus betont die Interaktion der einzelnen Teile des Organismus, deren Integration und Zusammenarbeit. In der Stratifizierung der Organfunktionen weist das Gehirn die höchste und kritische Funktion auf. Ohne diese Funktion ist der Organismus als Ganzes nicht in der Lage zu existieren. Die kritischen Funktionen des Organismus beinhalten die Vitalfunktionen des Atmens und der Kreislaufzirkulation sowie die integrative regulative und homöostatische Funktion des Bewusstseins und des Gedächtnisses als Leistung unseres Gehirns. Der vollständige und irreversible Verlust dieser kritischen Funktionen führt unweigerlich zum Tod des Organismus. Es ist nicht möglich einzelne Organsubsysteme am Leben zu erhalten, während die integrative Funktion des Gesamtorganismus, die durch das Gehirn substantiiert wird, fehlt.

8.3. Kriterien zur Bestimmung des Todes

Die Kriterien, die sich zur Bestimmung des Todes verwenden lassen, müssen beides – hinreichend und notwendig – sein, um das Ende aller klinischen Funktion des Gesamthirns zu repräsentieren. Die kritischen Zentren, die der Funktion des Gesamthirns zu Grund liegen, sind Hirnstamm, Hypothalamus, Thalamus und der Cortex der zerebralen Hemisphären. Atmung und Blutdruckkontrolle werden vom Hirnstamm unter kortikaler Kontrolle stehend reguliert. Die komplexen Regelkreise zur Aufrechterhaltung der homöostatischen Mechanismen werden im Hirnstamm und Hypothalamus integriert. Das quantitative Bewusstsein ist auf die Funktionsfähigkeit der aszedierenden Formatio reticularis des Hirnstammes, des Thalamus und der zerebralen Hemisphären angewiesen. Das qualitative Bewusstsein hängt von der Integrität der mesolimbischen Strukturen und des frontalen Neocortex sowie des Cingulum und des Praecuneus ab. Daher muss, bevor von einem irreversiblen Funktionsverlust der Gesamthirnfunktion gesprochen werden kann, die klinische Funktionen in den entsprechenden Zentren sistieren. Dieses Konzept bedeutet den Verlust der Gesamtfunktion des Gehirns (Gesamthirntod).

Unter dem Begriff der klinischen Funktionen versteht man diejenigen, die durch den Beobachter und den untersuchenden Arzt oder die Ärztin erkannt werden können. Er bezieht sich jedoch nicht auf das physiologische Funktionieren einzelner Zellen oder kleiner Zellverbände, die mit Labortechniken nachgewiesen werden können. Entscheidend ist, dass die koordinierte klinische Funktion verloren geht. Eine rudimentäre EEG-Aktivität von unter 2 mV, die als mögliche Zeichen vereinzelter zellulärer Aktivitäten interpretiert werden kann, ist daher nicht mit dem Funktionieren des Kortex gleichzusetzen.40 Die einzige kritische Funktion des Organismus, die nicht direkt alleine im Gehirn lokalisiert ist, ist der Herzschlag, der in gewissem Ausmaß durch das unabhängige Schrittmachersystem aufrecht erhalten wird, solange das Blut oxygeniert und andere physiologische Bedingungen erhalten sind. Der Hirnstamm und das zentrale autonome Netzwerk, einschließlich der Kortex, haben einen modulierenden Einfluss auf den Herzrhythmus und einen essentiellen Einfluss auf die integrative Koordination der kardiovaskulären Aktivität.

In den 1970ern vertraten einige Experten die Ansicht, dass Hirnstamm und Hypothalamus nicht essentiell für das Konzept des Hirntodes sind. Lediglich der Verlust des Bewusstseins und der Kognition, die durch Schädigung beider zerebraler Hemisphären und des Thalamus bedingt ist, seien verantwortlich für den Tod.41 Die radikale Ansicht wird als Konzept des „höheren Hirntodes“ bezeichnet. Dabei wird der irreversible Verlust des Bewusstseins, das essentiell für die Existenz als menschliches Wesen angesehen wird, in den Mittelpunkt gerückt.42 Dieses Konzept wirft große Probleme auf, vor allem in der Abgrenzung zu anderen chronischen Störungen des Bewusstseins, wie z. B. dem apallischen Syndrom43 oder schweren Missbildungssyndromen, wie z. B. Anenzephalie.44

Das „höhere Hirntodkonzept“ generiert aber auch eine Anzahl weiterer Probleme, so z. B. ist es im Widerspruch mit der Grundannahme 1, in dem es eine Neudefinition des Todes bedeutet. Demnach wären Patienten, die generell als am Leben befindlich erkannt werden, wie z. B. solche im apallischen Syndrom, definitiv als tot zu bezeichnen. Zweitens würde es nur auf den Menschen zutreffen und nicht ein kohärentes biologisches Konzept darstellen, das auch auf die phylogenetisch verwandten Spezies zutrifft. Es würde auch ein erhebliches ethisches Problem aufwerfen, bei allen neurodegenerativen Erkrankungen, die mit einem vollständigen Verlust des Gedächtnisses und mit einer Reduktion der quantitativen Bewusstseinsaktivität einhergehen. Patienten mit fortgeschrittener Alzheimererkrankung wären nach dieser Definition ebenso tot, was definitiv nicht der Fall ist.

Das Konzept des Hirnstammtodes ist dem des Gesamthirntodes weithin ähnlich. Wie aus Tabelle 1 ersichtlich sind die angewandten Tests zur Hirntoddiagnostik identisch mit denen, die den Hirnstammtod definieren. In der Tat sind alle diagnostischen Maßnahmen zur Feststellung des Gesamthirntodes auch Test zum Nachweis des irreversiblen Verlustes der Hirnstammfunktion. Der kritische Punkt bei diesem Konzept ist, das ein irreversibler Verlust der Hirnstammaktivität durchaus mit einer geordneten Aktivität der zerebralen Hemisphären und des Thalamus einhergehen kann.45 Der zerebrale Blutfluss und die EEG-Aktivität ist in solchen Fällen üblicherweise erhalten. Dennoch erfüllen diese Patienten die Kriterien des Hirntodes in Großbritannien. Im Extremfall könnte sogar ein Patient mit einem erweitertem Locked-in Syndrom mit voll erhaltenem Bewusstsein sämtliche Hirntodkriterien nach der Hirnstammdefinition erfüllen. In Österreich und in den meisten anderen Ländern der Welt ist dies definitiv nicht möglich.

8.4. Kriterien zur Bestimmung des Hirntodes

Die Bestimmung des Hirntodes erfolgt durch die am Krankenbett angewandte Hirntoddiagnostik. Es gibt zwei Gruppen von klinischen Tests, um den Tod eines Patienten zu bestimmen, die unter jeweilig unterschiedlichen Bedingungen angewandt werden:

(1) Bei Patienten, bei denen eine mechanische Beatmung weder geplant noch angewandt wird, ist die Abwesenheit der Atemaktivität und auch später der Herzaktivität entscheidend, da dies unaufhaltsam zur vollständigen hypoxischen ischämischen Zerstörung des Gehirns führt. Nach dem Konzept des irreversiblen Funktionsverlustes des gesamten Gehirns tritt der Tod jedoch erst nach Auftreten des Funktionsverlustes zerebraler Funktionen ein. Die Zeit, die zwischen dem Sistieren des Herzschlages und der Atmung und dem Eintreten des Hirntodes verstreicht, ist nicht bekannt. Nach Untersuchungen des Institute of Medicine der National Academy of Sciences im Rahmen von non-heart-beating organ donors wurde eine 5-Minuten-Grenze empirisch festgelegt.46

(2) Bei den Patienten, die mechanisch beatmet werden, wird eine ganze Reihe von spezifischen Tests zur Erfassung der Hirnstammfunktion und des Atemantriebs angewandt (siehe Tabelle 1). Diese Tests und die in Österreich zusätzlich angewandte Elektroenzephalographie zeigen unzweifelhaft den irreversiblen Funktionsverlust der Gesamthirnfunktion. Die Hirntoddiagnostik ist validiert und in allen entwickelten Ländern anerkannt.

9. Kontroversen

Selbstverständlich kommt es bei einem so emotional beladenen Thema wie der Diagnose des Hirntodes und der damit verbundenen Organentnahme oder der Beendigung einer intensivmedizinischen Therapie zu kontroversiellen Ansichten, wobei die emotionalen Aspekte häufig den Blickwinkel auf vernünftige Argumente verstellen. Interessanterweise gehen die Kriterien der Hirntod-Konzepte in zwei unterschiedliche Richtungen.

Am heftigsten wird das Gesamthirnkonzept von den Verfechtern des „höheren Hirntodes“ kritisiert. Diese theoretisch orientierten Argumente lehnen den Thalamus und den Hirnstamm als zentrales koordinierendes Organ ab. Andere kritisieren, dass der Hirntod als philosophisches Konzept für den menschlichen Tod inkohärent ist, da auch die spinale Aktivität definitiv als Teil des zentralen Nervensystems nicht in die Definition der Hirntodkriterien miteingeschlossen wird. Andere wiederum lehnen das Konzept des Hirntodes als Festlegung des Individualtodes aus religiösen Gründen strikt ab. Die dafür herangezogenen Argumente können nicht mehr auf den Boden einer logisch philosophischen Diskussionsebene behandelt werden. Berichte über „permanent“ hirntote Individuen sind kritisch zu hinterfragen und können bei genauer und korrekter Anwendung der Hirntoddiagnostik nicht aufrecht erhalten werden. Falsch angewandte Diagnostik und nicht valide Tests können nicht als konzeptionelle Argumente herangezogen werden.

10. Konklusion

Der Hirntod als Tod des Gesamtindividuums beruht auf der Erkenntnis, dass der irreversible Verlust der Gesamtfunktion des Gehirns nicht mit dem Leben vereinbar ist. Sowohl die Konzeption als auch die in Österreich angewendeten Testkriterien zur Feststellung des Hirntodes sind valide und konsistent. Die emotionalen und ethischen Herausforderungen, die bei der Feststellung des Hirntodes und bei der geplanten Organentnahme entstehen, können nur durch einen kritischen und offenen Dialog in der Gesellschaft gelöst werden. Präzise Beobachtung, genaue Beschreibung und kritische Überprüfung der medizinischen Aspekte des Hirntods stellen dabei die Grundlage für jede philosophische und gesellschaftliche Diskussion dar.

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Anschrift des Autors:

Univ. Prof. Dr. Mag. Eugen Trinka
Universitätsklinik für Neurologie, Christian Doppler Klinik
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