Das menschliche Lebewesen: eine philosophische Betrachtung

Imago Hominis (2013); 20(2): 121-131
Johannes Rosado

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag hat das Wesen des Lebendigen und das Spezifische des menschlichen Lebens zum Gegenstand. Lebewesen haben im Gegensatz zu den Dingen der anorganischen Natur eine aktive Wirkkraft, die ihren Sitz im Inneren des Lebewesens hat. Weiters hat das Lebewesen die Fähigkeit zur Integration des Äußeren in das Innere, was Reflexivität genannt wird. Diese Seinsdynamik des Lebewesens begründet auch seine Identität durch die Zeit. D. h. die ontologische Struktur des Lebendigen bringt ansatzweise die Überwindung der raum-zeitlichen Grenzen des Materiellen mit sich. Der Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass diese Aufhebung der raum-zeitlichen Grenzen effektiv vollzogen wird. Dieses Strukturmoment des Menschen kommt am deutlichsten in der sittlichen Dimension der menschlichen Tat zum Ausdruck, was letztlich die Bedeutung und die Würde des Menschen ausmacht.

Schlüsselwörter: Innerlichkeit, Seele, Ganzheit, Leben, Lebewesen

Abstract

This article deals with the essence of the living being and what is intrinsic to human life. Contrary to anorganic matter, the living being has an active potential based on the inward of the creature. Beyond that, it is competent to integrate the outward into the inward, called reflexivity, the basis of lasting identity of living beings: Their ontologic structure implicates to some extent the triumph over matter, which is confined to the limits of space and time. The human being stands out by the fact that this suspension of limits of space and time is already effectively consummated. This aspect of human structure is most clearly expressed in the moral dimension of human deeds, which constitute human dignity.

Keywords: Inner Dimension, Soul, Wholeness, Life, Living Being


Das Wort „Leben“ weist eine große semantische Bandbreite auf, d. h. es handelt sich um einen Begriff, der mehrere Bedeutungen kennt, die im Vergleich zu einander gewisse Gemeinsamkeiten – aber auch Unterschiede – aufweisen. Die Welt des Lebendigen kennt verschiedene Arten, verschiedene Kristallisationsformen des Phänomens „Leben“: die Pflanze lebt, das Tier lebt, der Mensch lebt. Die Bedeutung von „Leben“ ist für verschiedene Lebewesen jeweils eine andere.

Noch erstaunlicher ist es, dass selbst die anorganische Natur – die leblose Materie – an der Seinsweise des Lebendigen partizipiert, wie vor allem die Beobachtung von Vorgängen auf mikrokosmischer Ebene deutlich zeigt. Diese Beobachtung führt zu dem Schluss, dass nicht alles, was an der Natur des Lebendigen Anteil hat, selbst ein Lebewesen – ein Subjekt oder Träger des Lebens – ist.

Auch diese Feststellung hängt mit der mannigfaltigen Bedeutung von „Leben“, d. h. mit dem Thema der Analogie des Lebens zusammen. Die Betrachtung der Analogie des Lebendigen und ihrer verschiedenartigen Aspekte stellt nun aber kein Hindernis dar, das allen Lebewesen Gemeinsame zu untersuchen und zu erkennen. Im Gegenteil: Dank der Bedeutungsvielfalt, welche der allgemeine Begriff „Leben“ bietet, lassen sich die verschiedenen Formen der Ausprägung von Leben bei den einzelnen Lebewesen einander zuordnen und als unterschiedliche Äußerungen des einen Phänomens „Leben“ deuten.

Der vorliegende Beitrag hat nicht so sehr das allen Lebewesen Gemeinsame, sondern das Spezifische des menschlichen Lebens zum Gegenstand. Die Unterscheidungsmerkmale des menschlichen Lebens werden in ontologischer, d. h. in grundlegender, auf die Seinsstruktur bezogener Hinsicht untersucht. Aus methodischen Gründen werden die ontologischen Merkmale des Lebendigen (zuerst allgemein) beleuchtet, um im Anschluss daran das Spezifische des menschlichen Lebens deutlicher herausarbeiten zu können.

I. Das organische Leben

1. Die spontane Aktivität des Lebendigen und die innere Dimensionierung

Lebewesen zeichnen sich durch ihre Aktivität aus, und zwar in einem zweifachen Sinne: einmal, weil sie mehr Aktivität aufweisen als die leblose Materie; und darüber hinaus, weil die „Aktivität“ der leblosen Materie (im weiteren Sinn) qualitativ gesehen nicht an das heranreicht, was die Lebewesen an eigentlicher Aktivität (im Sinn von spontaner Eigentätigkeit) entfalten.

Die Seinsweise der Lebewesen ist dadurch gekennzeichnet, dass „sich in ihnen etwas tut“. Das gilt zwar im weiteren Sinn für jedes materielle Ding, zumindest mit Rücksicht auf die molekularen bzw. atomaren Bewegungen auf der Ebene des Mikrokosmos, wo die entsprechenden Prozesse beobachtet werden; aber auch die leblose Materie hat, wie schon angemerkt, Anteil an der Seinsweise des Lebendigen. Dennoch ist es offenkundig, dass hier ein deutlicher Unterschied besteht.

Lebewesen haben eine aktive Wirkkraft, aus der heraus sie selbstständig agieren können. Die Dinge der anorganischen Natur hingegen besitzen nicht diese Form innerer Wirkkraft. Ihre Aktivität ist darauf beschränkt, von äußeren Faktoren – sei es von organischen oder von anorganischen – beeinflusst zu werden und den empfangenen Einfluss eventuell auf eine chemisch-physikalisch festgelegte, sozusagen mechanische Weise weiterzugeben. In den Dingen der anorganischen Natur ist kein Raum für Spontanität. Deshalb weisen diese Dinge keine Selbstbewegung auf, auch wenn manche Prozesse der leblosen Materie bisweilen den Anschein von Selbstständigkeit erwecken mögen.

Die Selbstbewegung oder Eigentätigkeit der Lebewesen geht auf Faktoren zurück, die den Lebewesen selbst eigen sind, sie entspringt einer Wirkkraft, die ihren Sitz im Inneren der Lebewesen hat. Dieses Wirken aus innerem Antrieb heraus findet bei Prozessen statt, die teilweise – das ist zum Beispiel beim Ernährungsprozess der Fall – auch von außen beeinflusst werden. Auch Tätigkeiten dieser Art haben ihren Ursprung im Inneren des Lebewesens. Die den Lebewesen eigene Fähigkeit zur Entfaltung von Tätigkeiten, die durch innere Faktoren verursacht werden, schafft ihnen den Zugang zu einer Vielfalt von Möglichkeiten, das eigene Dasein im Zusammenspiel mit anderen Seienden zu vollziehen. Lebewesen können zum Beispiel auf ihre Umgebung einwirken und sie beeinflussen, aber sie vermögen es auch, sie auf sich wirken zu lassen (im aktiven Sinn!) oder auch sich ihrem Einfluss zu widersetzen, ihm Widerstand zu leisten. Die Dinge der anorganischen Natur hingegen können sich nicht mehr als passiv – nach einem Aktion-Reaktion-Schema – verhalten.

Aktivität, die durch innere Faktoren verursacht wird, Selbstbewegung, spontane Eigentätigkeit aus einer inneren Wirkkraft heraus – das alles unterscheidet das Lebendige von der leblosen Materie in einer noch näher zu erläuternden Weise. Bereits jetzt wird aber klar, dass das Lebendige wohl mehr als bloß eine Anhäufung oder Zusammensetzung materieller Teilstücke darstellt. Aristoteles definierte das Lebendige als das Beseelte, d. h. als dasjenige, das eine Seele hat.1 Ein Wesen, das zu spontaner Eigentätigkeit bzw. echter Selbstbewegung fähig ist, ist in gewisser Hinsicht über die rein materielle Komponente des Wirklichen erhaben. Im Lebendigen ist mehr drinnen als in der anorganischen Natur, das Lebendige hat eine Seinsweise, die intensiver ist als jene der toten Materie.

Aus diesem Grund haben manche Autoren von der inneren Dimension oder auch von der Innerlichkeit des Lebendigen gesprochen, womit sie die begrifflich schwer zu fassende Daseinsstruktur der Lebewesen zum Ausdruck bringen wollten.2 Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass dem Lebendigen die Möglichkeit gegeben ist, aus einer inneren Wirkkraft heraus tätig zu sein.

Die innere Dimensionierung, die das Lebendige auszeichnet, soll bei der Erörterung weiterer Merkmale des Lebens deutlich gemacht werden. Vorerst sei nur angemerkt, dass diese Struktur (des Lebendigen) ein besonderes Verhältnis zwischen dem Lebewesen und seiner Außenwelt ermöglicht. Sie ist inniger als dasjenige, das ein Ding der anorganischen Materie zu einem weiteren Ding haben kann. Alle „Aktivität“ der Dinge der anorganischen Materie (nach außen) gestaltet sich derart, dass sie zur Gänze in bloß äußeren Prozessen aufgeht. Daher hat die anorganische Materie kein richtiges Verhältnis zu ihrer Außenwelt. Lebewesen hingegen vermögen es, sich zu ihrer Außenwelt zu verhalten. Sie vermögen es, weil sie selbst ein Inneres haben, weil sie die Dimension des Inneren – sozusagen eine Innenwelt – besitzen, auf deren Grundlage sie das Verhältnis zu Gegenständen ihrer Außenwelt aufbauen können.

2. Das besondere Verhältnis von Körper-Einheit und Organ-Vielheit im Lebendigen

Ein weiteres Kennzeichen des Lebendigen hängt mit dem Umstand zusammen, dass in ihm ein besonderes Begründungsverhältnis zwischen dem Ganzen des Organismus einerseits und seinen Organen (als Teilen) andererseits herrscht. Dieses Begründungsverhältnis gestaltet sich nach folgendem Schema:

(a)    Die Organe ermöglichen die Ganzheit und Einheit des Körpers.
(b)    Umgekehrt ermöglicht der Körper als Ganzes die Funktionstüchtigkeit der Organe.3

Das Ganze begründet die Funktionstüchtigkeit der Teile, die wiederum die Grundlage für das Ganze bilden. Es handelt sich hier um ein wechselseitiges, nicht einseitig auflösbares Begründungsverhältnis vom Ganzen und der Vielheit seiner Teile. Das Ganze verdankt seine Wirksamkeit den Teilen und die Teile verdanken ihr Teilsein der Einheit des Ganzen.

Bei irreversiblem Funktionsausfall der Organe zerfällt die Einheit des Körpers. Die Organe können ihrerseits nicht ohne die Einheit des Ganzen bestehen: Das Auge zum Beispiel wäre ohne das Ganze des Körpers kein Auge mehr, zumindest kein wirkliches Auge mehr, kein Sehorgan, weil es niemanden gäbe, der damit sehen könnte. Ähnliches gilt für jedes andere Organ. Übrigens sind alle Organe am Aufbau der Einheit des Körpers, der sie trägt, selbst beteiligt, wenngleich dies in unterschiedlicher Weise der Fall ist.

Der Aufbau der Körper-Einheit durch die Organe und die entsprechende Ermöglichung der Funktionstüchtigkeit der Organe durch den Körper als ein Ganzes lassen sich nicht rein materiell erklären; beide Aspekte des Begründungsverhältnisses bringen vielmehr zum Ausdruck, dass die ontologische Struktur des Lebendigen, d. h. die Daseinsstruktur, die jedes Lebewesen trägt und begründet, in gewisser Hinsicht auf ein Überwinden der Grenzen des Materiellen angelegt ist.

So wie der Leib nicht die Summe seiner Organe ist, weil diese von allem Anfang an im Dienst der Leib-Einheit stehen und auf sie hingeordnet sind, so sind die Organe für sich allein – ohne den Leib – nicht die eigentlichen Träger des Lebens. Ein lebender Organismus lässt sich nur durch den Hinweis auf eine in gewisser Hinsicht die Grenzen des Materiellen überwindende Dimension seiner Daseinsstruktur erklären.

3. Die Synchronisation im Organismus: Von der Zeit-Vielheit zur Zeit-Einheit

Im Organismus sind alle Teile, d. h. alle Organe, in ihrem Wirken aufeinander abgestimmt, in der Vielheit von Prozessen herrscht Einheit. Eines der Kennzeichen des Lebendigen ist die Ordnung, welche die Summe von organischen Prozessen als ein koordiniertes Ganzes erscheinen lässt.

Die Ordnungsstruktur des Lebendigen ermöglicht Phänomene wie etwa die Adaptation.4 „Adaptation“ (Anpassungsfähigkeit) kann nicht auf der Ebene der anorganischen Materie gefunden werden. Dort finden zwar zeitabhängige Prozesse statt (chemische Vorgänge, energetische Prozesse usw.), dabei handelt es sich aber immer um unkoordinierte Prozesse, die kein Abgestimmt-Sein von Teilen (Organen) untereinander kennen. Die Adaptation hingegen besteht in der sinnvollen Veränderung eines Rhythmus, durch die sich ein Organismus neuen Lebensbedingungen anpasst. Dieses Phänomen hängt so sehr mit dem organischen Leben zusammen und ist für Lebensvorgänge dermaßen charakteristisch, dass selbst der Tod des Organismus im Hinblick auf den Verlust seiner Adaptationsfähigkeit begrifflich gemacht werden kann.

Die unkoordinierten Prozesse, die bereits auf der Ebene der anorganischen Materie anzutreffen sind, werden im lebendigen Organismus in ein koordiniertes Ganzes aufgenommen und integriert. Gerade darin besteht die Synchronisation des Lebendigen, dass der Organismus die vielfältigen Prozesse seiner Organe in sich aufnimmt, durchdringt, steuert und koordiniert, d. h. zeitlich aufeinander abstimmt.5

Das zeitliche Abstimmen von Prozessen während der Synchronisation erfordert, dass eine Zeit-Vielheit – die mannigfaltige Zeit der organischen Prozesse – in eine Zeit-Einheit – nämlich die Zeit des Organismus – umgewandelt und dadurch zusammengefasst wird. Die Synchronisation stellt daher die ansatzweise Überwindung der Ausdehnung in der Zeit dar, die sonst für die materiellen Dinge charakteristisch ist. Sie überbrückt die mannigfaltige Zeit der organischen Prozesse durch die Herstellung einer Einheit. Alles im Organismus richtet sich nach der einen, durch die Synchronisation bedingten Zeit.

4. Leben als Synthese von „Innerem“ und „Äußerem“

Lebewesen haben ein „Inneres“, da sie imstande sind, auf spontane Weise Eigentätigkeiten zu entwickeln, welche stets auf innere Wirkkräfte zurückzuführen sind. Darüber hinaus sind im Lebendigen – wie bereits dargelegt wurde – Ansätze zur Überwindung der räumlich-zeitlichen Grenzen der Materie festzustellen. Die innere Struktur des Lebewesens lässt sich weder mit Kriterien, die die räumliche Ausdehnung betreffen, fassen und erklären, noch richtet sich die Zeit des gesamten Organismus nach der zeitlichen Ausdehnung, welche den einzelnen organischen Prozessen unabhängig vom Ganzen eigen ist.

Wird das „Innere“ des Lebewesens als eine Dimension aufgefasst, die über die räumlich-zeitlichen Grenzen des Materiellen in gewisser Hinsicht erhaben ist, dann stellt dieses „Innere“ einen Gegensatz zur Dimension des „Äußeren“ dar, das zweifellos ebenfalls im Lebewesen vorkommt.

Unter „Innerem“ ist hier eine unverzichtbare Dimension des Lebendigen zu verstehen, durch die sich dieses vom Nichtlebendigen unterscheidet. Das „Äußere“ hingegen stellt jene Dimension dar, die dem Lebewesen und der anorganischen Natur gemeinsam ist. Dazu gehört zum Beispiel die räumlich-zeitliche Ausdehnung jedes Naturdinges.6

Der Unterschied zwischen „Innerem“ und „Äußerem“ bezieht sich also nicht auf zwei materielle Seiten des Seienden, sondern dient der Erläuterung einer Differenz, die in der Daseinsstruktur des Lebewesens Bedeutung erlangt. Bei den Lebewesen finden wir nämlich ein Zusammenspiel von Innerem und Äußerem, und dieses Zusammenspiel nimmt in ihnen die Form einer Synthese an: Das Lebewesen verfügt über die Fähigkeit zur Integration des Äußeren in das Innere, d. h. über die Fähigkeit, das Äußere zu verinnerlichen.

Die genannte Fähigkeit ist für Lebewesen charakteristisch und wird auch als „Reflexivität“ bezeichnet.7

„Verinnerlichen“ bedeutet in diesem Zusammenhang: am Leben des betreffenden Seienden teilhaben zu lassen. Der Prozess der Verinnerlichung von Äußerem besteht darin, dass das Äußere beginnt, ein Bestandteil des Lebewesens zu werden. Es wird anderen Bestandteilen desselben gleichgestellt und fängt an, an dessen Lebensvollzug teilzuhaben.

Das gilt bereits für die untersten Stufen des organischen Lebens. Auf der Ebene des vegetativen Lebens kommt es im Prozess der Nahrungsaufnahme und des Stoffwechsels zum ersten Mal zur Synthese von „Äußerem“ und „Innerem“. Die Einnahme von Nahrungsstoff durch das sich ernährende Lebewesen hat zur Folge, dass der von außen stammende Stoff gleichsam verlebendigt wird: Er wird nicht nur „äußerlich“ einverleibt, er wird geradezu „innerlich“ aufgenommen, d. h. derart integriert, dass er von nun an am Leben des organischen Ganzen teilnimmt.8

Die Fähigkeit, das Äußere zu verinnerlichen, beruht auf der Reflexivität des Lebewesens, d. h. auf der Tatsache, dass sein Verhalten grundsätzlich „rückbezüglich“ ist. Was immer das Lebewesen nach außen tut, es ist in seinem innersten Kern als Ursprung des Verhaltens selbst miteinbezogen und daher von den Auswirkungen seines Tuns betroffen. In dem angeführten Beispiel vollzieht das sich ernährende Lebewesen sein eigenes Leben, indem es durch die Ernährung und den Stoffwechsel Äußeres verinnerlicht.

Die Reflexivität, die hier in der Synthese von Innerem und Äußerem zum Ausdruck kommt, stellt eine Formel dar, nach welcher der Daseinsvollzug von Lebewesen allgemein beschrieben werden kann. Das organische Leben selbst kann als fortlaufender Vollzug der genannten Synthese (von Innerem und Äußerem) aufgefasst werden.

5. Die ontologische Struktur des organischen Lebens. Innere Dimensionierung („Innerlichkeit“) und Reflexivität

Die Untersuchung der grundlegenden Merkmale des Lebendigen macht die innere Dimensionierung und die Reflexivität als wesentliche Aspekte seiner ontologischen Struktur deutlich. Die innere Dimensionierung ist hier durch die Analyse der spontanen Aktivität des Lebendigen, des besonderen Verhältnisses von Körpereinheit und Organvielheit, der Synchronisation und der Integrationsfähigkeit des Organismus zum Vorschein gekommen. Die innere Dimensionierung eines jeden Lebewesens kann auch „Innerlichkeit“ genannt werden, wenngleich einiges dafür spricht, diese Bezeichnung der inneren Dimensionierung des Menschen vorzubehalten.

Die innere Dimensionierung stellt bei den Lebewesen die Bedingung für die Möglichkeit dar, auf spontane Weise Aktivitäten entfalten zu können. Spontanität und Eigentätigkeit können nämlich nur auf innere Kräfte zurückgeführt werden. Die Bezeichnung „innere Dimensionierung“ steht also für die ontologische Grundlage jenes Mehr an Tätigkeit, durch welches sich das Lebewesen auszeichnet. Dieses Mehr ist nicht in erster Linie ein quantitatives, sondern ein Mehr in der Ordnung des Tätigseins, und daher auch des Seins – also in erster Linie ein seinsmäßiges, ontologisches Mehr.

Das Feststellen dieses Mehr in der ontologischen Struktur des Lebewesens verleitet dazu, von der inneren Vertiefung des Seins des Lebendigen zu sprechen. Da dieses Mehr von der quantitativ-materiellen Ausdehnung unabhängig ist, wird es als innere Dimension begriffen und daher als seinsmäßige Vertiefung des Lebewesens nach innen aufgefasst.

Der Aufweis der inneren Dimensionierung des Lebewesens erfolgt hier in Zusammenhang mit der Untersuchung jener Merkmale und Strukturen des Lebendigen, die – wie etwa das besondere Verhältnis zwischen Körper und Organen oder die Synchronisation des Organismus zeigt – die ansatzweise Überwindung der räumlich-zeitlichen Bedingungen des Materiellen im Lebewesen deutlich macht. Die Überwindung von materiellen Grenzen im Lebendigen wird als „Ansatz“ angesehen, weil sie nicht etwa schon die vollkommene Aufhebung der räumlich-zeitlichen Ausdehnung darstellt. Lebewesen sind Körper, und für die Stufen des vegetativen und des sensitiven Lebens gilt, dass alles, was im Lebewesen ist, das Siegel des Materiellen trägt. Dennoch bleibt das, was bezüglich der Seinsweise des Lebendigen bereits beobachtet und festgestellt worden ist, bestehen, und selbst für die niedrigsten Stufen des Lebens gilt zugleich, dass nicht alles, was das Lebewesen ausmacht, auf materielle Prinzipien zurückgeführt werden kann. So enthält jede Stufe des Lebens – dank der ansatzweisen Überwindung der Grenzen des Materiellen – einen Hinweis auf die innere Dimensionierung des Lebewesens: Es gibt im Lebendigen über die materiellen Bedingtheiten hinaus noch etwas anderes, und dieses „andere“ kommt in den oben genannten Strukturen deutlich zum Ausdruck.

Die innere Dimensionierung des Lebendigen besagt also, dass das Lebewesen dem Sein nach innerlich vertieft ist und im Vergleich mit dem Nichtlebendigen vollkommener erscheint. Das Sein des Lebewesens ist intensiver als das der Dinge der anorganischen Welt.

Der zweite Aspekt der Struktur des Lebendigen, der anhand der Untersuchung der grundlegenden Merkmale der Lebewesen deutlich geworden ist, ist die Reflexivität. Sie ist durch die Analyse der Integrationsfähigkeit des Organismus in den Vordergrund getreten.

Das Verhalten eines Seienden, also eines Lebewesens, ist stets „rückbezüglich“, reflexiv. Was immer ein Lebewesen nach außen tut, es ist – in seinem innersten Kern als Ursprung des Verhaltens – in diesem Tun selbst miteinbezogen, es ist selbst von den Auswirkungen seines selbst betroffen. Im Verhalten eines Lebewesens und in seinem Tätigsein wird die Reflexivität seines Daseins sichtbar.

Aus der Untersuchung der inneren Dimensionierung von Organismen ist bereits hervorgegangen, dass das Lebewesen seinsmäßig vertieft ist, dass es also im Vergleich mit dem Nichtlebendigen einen höheren Grad an Seinsintensität besitzt. Die „Seinsintensivierung“, die für das Lebendige charakteristisch ist, impliziert ein Mehr an Seinsdynamik – anders kann ja Seinsintensität nicht verstanden werden. Wie aus der bisherigen Untersuchung hervorgeht, ist die Intensivierung der Seinsdynamik aber nicht – oder zumindest nicht unmittelbar – auf die materielle Ausdehnung des betreffenden Lebewesens bezogen. Sie steht vielmehr mit der oben behandelten Frage der ansatzweisen Aufhebung bzw. Überwindung der räumlich-zeitlichen Grenzen des Materiellen in Zusammenhang.

Eine solche Seinsintensivierung löscht die Identität des betreffenden Lebewesens nicht aus, sondern fördert bzw. begründet sie vielmehr, da nämlich das tätige Lebewesen durch die Entfaltung von Tätigkeiten seine Identität bewahrt. Gerade deshalb kann aber auch die Seinsintensivierung, die das Lebewesen auszeichnet, als reflexiv – rückbezüglich – bezeichnet werden: Sie ist Seinsdynamik, also Entfaltung von Tätigkeiten, durch welche hindurch das aktive Lebewesen in seiner Identität zu verharren vermag, sodass es stets einerseits als Ursprung des Tätigseins in sein Tun miteinbezogen und andererseits von dessen Auswirkungen selbst betroffen ist.

Die innere Dimensionierung bzw. die Seinsintensität, auf welcher das Tätigsein des Lebewesens beruht, wird durch den Rückgriff auf den reflexiven Charakter der ontologischen Struktur des Lebendigen begreiflich. Erst die Reflexivität ermöglicht eine Seinsintensivierung, die nicht – oder zumindest nicht primär – auf die quantitative Ausdehnung bezogen ist. All das bringt die Überwindung der räumlich-zeitlichen Grenzen des Materiellen mit sich, welche aber noch unvollkommen ist und daher nur einen Ansatz darstellt. Die vollkommene Überwindung der materiellen Grenzen wird, wie noch zu zeigen sein wird, erst beim Menschen vollzogen.

Innere Dimensionierung und Reflexivität, die zwei oben beschriebenen Aspekte der ontologischen Struktur des Lebendigen, bilden gleichsam die zwei Seiten der einen ontologischen Verfassung des Lebendigen. Der Begriff der inneren Dimensionierung („Innerlichkeit“) bringt die ontologische Struktur des Lebendigen unter dem Aspekt des Ursprungs des Tätigseins zum Ausdruck. Er unterstreicht nämlich, dass dieser Ursprung im Lebewesen selbst angesiedelt ist: Das Lebewesen entfaltet seine Wirksamkeit aus inneren Kräften heraus. Der Begriff der Reflexivität bringt hingegen die ontologische Struktur des Lebendigen unter dem Aspekt des Zieles des Tätigseins zum Ausdruck: Er legt die Betonung auf den Umstand, dass das Lebewesen stets durch die Auswirkungen seiner eigenen Aktivität selbst betroffen ist, dass es als Ursprung seines Tätigseins zugleich in dessen Auswirkungen miteinbezogen ist. Ursprung und Ziel des Tätigseins des Lebewesens ist stets das Lebewesen selbst.

Die innere Dimensionierung und die Reflexivität dienen also zur Beschreibung der ontologischen Struktur des Lebendigen. Sie sind aber in den verschiedenen Lebewesen und in den diversen Stufen des Lebens unterschiedlich verwirklicht, entsprechend der Analogie des Lebendigen. Wie nun die Überwindung der räumlich-zeitlichen Grenzen des Materiellen, die mit den Strukturen der inneren Dimensionierung und der Reflexivität des Lebendigen eng zusammenhängt, im vegetativen und im sensitiven Stadium nur ansatzweise verwirklicht und daher unvollendet ist, so haben wir es beim Menschen, bei dem es zum Vollzug der genannten Überwindung kommt, mit einer eigenen Art von innerer Dimensionierung bzw. von Reflexivität zu tun.

II. Das Spezifische des menschlichen Lebens

1. Charakteristika  der inneren Dimensionierung („Innerlichkeit“) und Reflexivität beim Menschen

Die Strukturmomente der inneren Dimensionierung und der Reflexivität sind – in irgendeiner Form – jedem Lebewesen eigen und dienen dazu, das Spezifische des Lebens begrifflich zu fassen und es von der leblosen Materie zu unterscheiden. Dennoch ist der Bedeutungsgehalt, den diese Strukturmomente bei den Lebewesen aus dem Pflanzen- und dem Tierreich besitzen, wesentlich von dem unterschieden, den er beim Menschen einnimmt.

Der Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass es in ihm zur eigentlichen Überwindung und daher zum Vollzug der Aufhebung der räumlich-zeitlichen Grenzen des Materiellen kommt. Dieser Sachverhalt beeinflusst und bestimmt die spezifische Art von innerer Dimensionierung und Reflexivität, die dem Menschen eigen ist und ihn von anderen Lebewesen unterscheidet in entscheidender Weise.

Die für den Menschen charakteristische spezifische Art der Verwirklichung der Strukturmomente „Innerlichkeit“ und „Reflexivität“, lässt sich sowohl im kognitiven als auch im affektiven Bereich der menschlichen Subjektivität aufweisen, kommt aber am deutlichsten in der menschlichen Tat bzw. der menschlichen Handlung zum Ausdruck.

a) Innerlichkeit und Reflexivität im kognitiven Bereich

Der Mensch ist dasjenige Wesen, das erkenntnismäßig für das Ganze des Seins offensteht. Er vermag seinen erkennenden Blick auf jeden Gegenstand zu richten, bei der Betrachtung eines Gegenstandes – auch in der Überwindung der räumlich-zeitlichen Grenzen des Materiellen – zu verweilen sowie im nachhinein auf diesen Erkenntnisakt zurückzukommen. Denn wie der Mensch für die Erkenntnis eines jeden Gegenstandes offen ist, so hat er auch immer die prinzipielle Möglichkeit, auf seine vergangenen bzw. aktuellen Erkenntnisakte zurückzukommen.

Ein Charakteristikum der menschlichen Erkenntniskraft ist ihre Reflexivität. Jeder Erkenntnisakt im Menschen ist von einem „Mit-Erkennen“ des eigenen Erkenntnisaktes begleitet: Wer etwas erkennt, weiß zugleich um sein „Erkennen“, erkennt also implizit, dass er erkennt. Dieses ,,Miterkennen“ bringt zwar zunächst keinen Fortschritt mit sich, was das Erfassen des Gegenstandes anbelangt, eröffnet aber für den Menschen die Möglichkeit, erkenntnismäßig auf die eigenen Erkenntnisakte „zurückzukommen“ („Reflexion“). Der Mensch vermag grundsätzlich sein eigenes Erkennen zu erkennen.9

Die Fähigkeit des Menschen, das eigene Erkennen zu erkennen, also die Reflexivität seiner Erkenntniskraft, hat den perfekten Vollzug der Aufhebung bzw. der Überwindung der räumlich-zeitlichen Bedingungen des Materiellen zur Voraussetzung. Ohne eine gänzliche Überwindung der materiellen Grenzen wäre es nicht möglich, dieses Erkennen des aktuellen eigenen Erkennens begreiflich zu machen.

Oben wurde auf die Zusammengehörigkeit der inneren Dimensionierung und der Reflexivität in der ontologischen Struktur eines Lebewesens hingewiesen. Auch hier ist die Reflexivität der menschlichen Erkenntniskraft in Verbindung mit der inneren Dimensionierung zu sehen. Diese muss als Bestandteil der ontologischen Struktur des menschlichen Lebens stets hinzugedacht werden.

b) Innerlichkeit und Reflexivität im affektiven Bereich

Der Offenheit des Menschen für das Ganze des Seins im kognitiven Bereich, d. h. der universellen Aufnahmefähigkeit der menschlichen Erkenntniskraft, entspricht im affektiven Bereich seine Fähigkeit, sich zum Ganzen des Seins zu verhalten, d. h. sich kraft seines affektiven Vermögens allen Dingen zuzuwenden. Der Mensch, der sich im Streben einem jeden Gegenstand, den er erkennt, zuwenden kann, ist auch imstande, auf die eigenen Akte des affektiven Bereichs – etwa auf die eigenen Willensakte oder auf die Akte des eigenen sinnlichen Begehrens – zurückzukommen, um zu ihnen Stellung zu nehmen, d. h. sie zu bejahen bzw. zu verwerfen. Die Fähigkeit des Menschen, das eigene Streben zu billigen bzw. abzulehnen, die Möglichkeit der Stellungnahme zu der aktuellen Ausrichtung seines Strebens, macht die Reflexivität des affektiven Bereichs im Menschen aus.10 In dieser Form von Reflexivität, die wiederum eine vollkommene Aufhebung der räumlich-zeitlichen Bedingungen des Materiellen zur Voraussetzung hat, liegt die Fähigkeit zur Entfaltung der menschlichen Freiheit begründet.11

Die Reflexivität und – mit ihr jeweils verbunden – die innere Dimensionierung, also die Innerlichkeit, kommen der menschlichen Subjektivität sowohl auf kognitiver wie auch auf affektiver Ebene zu. Sie zeichnen den Menschen sogar aus, da sie in ihm in einer Form verwirklicht sind, die unter allen Lebewesen etwas Einzigartiges darstellt. Der Unterschied zu anderen Lebewesen liegt darin, dass im Menschen ganz und gar erreicht wird, was bei anderen Lebewesen nur ansatzweise – d. h. nicht eigentlich – verwirklicht ist, nämlich die Aufhebung bzw. eigentliche Überwindung der räumlich-zeitlichen Grenzen des Materiellen. Die Überwindung der Grenzen des Materiellen ermöglicht die spezifische Art von Innerlichkeit und Reflexivität, die dem Menschen eigen ist.

c) Innerlichkeit und Reflexivität im menschlichen Handeln

Die Strukturmomente der Innerlichkeit und der Reflexivität, die eng mit der geistigen Beschaffenheit des menschlichen Daseins verbunden sind, kommen am deutlichsten in der menschlichen Tat bzw. im menschlichen Handeln zum Ausdruck. Die menschliche Tat resultiert aus dem Zusammenwirken der beiden Bereiche des Kognitiven und des Affektiven und stellt die für den Menschen eigentümliche Form der Entfaltung von Aktivität dar.

In seinem Handeln erweist sich der Mensch als freies Wesen. Dies bedeutet, dass er die Fähigkeit hat, sich durch seine Willensakte und durch seine Entscheidungen auf das Gute auszurichten, das er mit seinem Verstand erkennt.12

Als eines der Merkmale des Lebendigen wurde oben die Fähigkeit eines Lebewesens genannt, spontane Aktivitäten zu entfalten, also aus eigenem Antrieb tätig zu sein. Nun ist der Mensch nicht nur fähig, aus inneren Kräften heraus zu handeln, er ist auch imstande, die Ausrichtung seines Handelns selbst zu bestimmen. Darin besteht ein wesentlicher Aspekt seiner Freiheit, dass der Mensch nämlich Herr seiner eigenen Handlungen ist und die Fähigkeit hat, sein eigenes Leben tatsächlich zu führen, d. h. ihm eine bestimmte Ausrichtung zu geben.

Die Ausrichtung seiner eigenen Handlungen bestimmen zu können, bedeutet implizit, auch die Ausrichtung seiner selbst bestimmen zu können. Durch seine Entscheidungen bestimmt der handelnde Mensch in erster Linie sich selbst, nicht nur in dem Sinn, dass er über sein eigenes Schicksal entscheiden kann, sondern vor allem dadurch, dass er durch die menschliche Handlung sein eigenes Dasein aktuell vollzieht und sich als Mensch vervollkommnet.

In der menschlichen Handlung kommt die Reflexivität des Menschen gerade wegen ihrer sittlichen Dimension deutlich zum Vorschein. Menschliche Handlungen sind ihrem Wesen nach sittliche Handlungen: Sie entscheiden über das Gutsein oder die Schlechtigkeit des handelnden Menschen und sind gleichsam dessen Ausdruck oder ihre Austragung. Als Ausdruck der willentlichen Hinordnung des Menschen auf das Gute beeinflussen und bestimmen die menschlichen Handlungen in erster Linie den handelnden Menschen selbst.

Menschliche Handlungen sind also wegen der sittlichen Dimension, die ihnen eigen ist, rückbezüglich, d. h. reflexiv. Durch sie kommt es zur Selbstbestimmung des Menschen, der sich in ihnen wiederum als legitimer Herrscher über seine eigenen Handlungen erweist, als Eigentümer und Besitzer seiner selbst. Das sind weitere Aspekte der Reflexivität, die dem menschlichen Leben eigen sind und in der menschlichen Handlung deutlich werden.

Aber auch das Strukturmoment der Innerlichkeit, die das menschliche Leben charakterisiert, kommt durch die menschliche Handlung zum Vorschein. Der handelnde Mensch weiß sich der Wahrheit über das Gute, das er erkennt und verwirklichen kann, verpflichtet. Jede menschliche Handlung geht aus einer Entscheidung hervor, die eine Art inneren Dialog darstellt, in welchem es zur Austragung der Auseinandersetzung des Menschen mit der Wahrheit kommt, d. h. zur Auseinandersetzung mit der von ihm erkannten Wahrheit über das Gutsein seiner Handlungen.

So wie die innere Dimensionierung die Erklärung für die Fähigkeit von Lebewesen, aus inneren Faktoren heraus tätig zu sein, geliefert hat, so ist auch hier die Innerlichkeit des Menschen die Erklärung für die spezifische Handlungsweise, die ihm allein eigen ist. Menschliche Handlungen gehen aus Entscheidungen, d. h. aus freien Willensakten hervor, und diese gründen in der spezifischen Form von Innerlichkeit, die für das menschliche Leben charakteristisch ist.

2. Das Unterscheidungsmerkmal „Immaterialität“

a) Zwischenstand: Was macht menschliches Leben menschlich?

Die Ergebnisse der bisherigen Untersuchung können in folgenden zwei Punkten zusammengefasst werden:

  1. Die innere Dimensionierung und die Reflexivität bilden zwei wesentliche Aspekte der ontologischen Struktur des Lebendigen. Mit ihrer Hilfe kann das Spezifische des Lebens begrifflich gefasst und von der leblosen Materie unterschieden werden, und
  2. Die konkrete Verwirklichung der Strukturmomente der inneren Dimensionierung und der Reflexivität bei den einzelnen Arten von Lebewesen weist unterschiedliche Kristallisationsformen auf, deren Vielfalt durch die Analogie des Lebens ermöglicht wird. Beim Menschen haben wir es mit einer Form von innerer Dimensionierung bzw. Reflexivität zu tun, welche im Vergleich mit den entsprechenden Strukturmomenten anderer Lebewesen erhabener und vollkommener erscheint. Sie sind bei ihm nämlich mit der Möglichkeit des Vollzugs der Aufhebung materieller Bedingungen verbunden. Deshalb stellen die Innerlichkeit und die Reflexivität des Menschen etwas Besonderes dar und sind für ihn charakteristisch.

Die Strukturmomente der inneren Dimensionierung und der Reflexivität dienen also einerseits zur Charakterisierung des Lebendigen, das durch sie vom Nichtlebendigen unterschieden wird, sind aber andererseits dadurch gekennzeichnet, dass sie beim Menschen eine eigene, besondere Erscheinungsform aufweisen, die für ihn eigentümlich ist und ihn gegen andere Lebewesen abhebt.

b) Das Problem eines evolutionistischen Menschenbildes

Innere Dimensionierung und Reflexivität liegen als ontologische Strukturmomente jedem Lebewesen zugrunde, weisen beim Menschen aber einen eigenen, ihn auszeichnenden Bedeutungsgehalt auf. Nach dem bisher Gesagten bleibt noch die Frage offen, inwiefern nicht die hier herausgearbeitete ontologische Struktur des Lebendigen mit einem vom Evolutionismus getragenen Menschenbild Hand in Hand geht. Mancher Leser wird sich nämlich fragen, ob nicht das Aufgreifen von ontologischen Strukturmomenten, die zwar beim Menschen in erhabener, in gewisser Hinsicht vollkommener Weise verwirklicht sind, im Grunde aber jedem Lebewesen zukommen, einer Interpretation des menschlichen Lebens das Wort rede, nach welcher sich der Mensch dank einer Reihe von Mutations- und Selektionsprozessen zu einer immer höheren Lebensform entwickelt habe.

Diese Vorstellung ist unzutreffend. Zumindest bezüglich der hier untersuchten Strukturmomente der inneren Dimensionierung und der Reflexivität des Menschen stellt der Gedanke einer möglichen Ableitung derselben aus anderen, niederen Formen der Verwirklichung dieser Strukturmomente bei anderen Lebewesen keinen adäquaten Lösungsvorschlag dar. Denn der Unterschied zwischen der inneren Dimensionierung bzw. der Reflexivität des Menschen einerseits und den entsprechenden Strukturmomenten anderer Lebewesen andererseits ist ein radikaler, der nicht bloß auf den Grad der Verwirklichung von bestimmten, im Menschen bzw. in den Lebewesen bereits vorhandenen Potentialitäten bezogen ist, sondern den wesentlichen Unterschied zwischen zwei grundsätzlich eigenständigen Formen des Daseinsvollzugs, nämlich der geistigen und der nicht-geistigen Lebensform, bezeichnet.

Es ist nämlich das Geistige, das im eigentlichen Sinn immateriell ist, durch welches sich der Mensch wesentlich von allen anderen Lebewesen unterscheidet, da diese nicht imstande sind, in ihrem Tätigsein – in ihrem Lebensvollzug – die Bedingungen und die Grenzen des Materiellen zu überwinden. Die geistige Dimension des menschlichen Lebens ist in der Geschichte des philosophisch-anthropologischen Denkens immer wieder und auf vielerlei Weise aufgezeigt worden.13

c) Die Eindeutigkeit des Unterschiedes: menschliches und nicht-menschliches Leben

Die Überwindung der räumlich-zeitlichen Grenzen des Materiellen, die den Lebensvollzug des Menschen charakterisiert, prägt seine gesamte ontologische Verfassung und stellt ein grundlegendes Kriterium für den Unterschied zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Leben dar. Dieser Unterschied ist eindeutig, da nur der Mensch ein leiblich-personales, das heißt ein vernunftbegabtes Lebewesen ist. Ihm allein kommt im eigentlichen Sinn Immaterialität als grundlegendes Strukturmoment und Unterscheidungsmerkmal seiner ontologischen Verfassung zu. Der Unterschied, der zwischen der inneren Dimensionierung bzw. der Reflexivität eines nicht menschlichen Lebewesens und den entsprechenden ontologischen Strukturmomenten des Menschen besteht, ist in Wirklichkeit der Unterschied zwischen einer ontologischen Struktur, die ein geistiges Leben ermöglicht bzw. begründet (im Fall des Menschen), und einer solchen, die kein geistiges Leben begründen kann (im Fall von nicht menschlichen Lebewesen).

Es ist nicht verwunderlich, dass der Mensch und die anderen, nicht-menschlichen Lebewesen eine Reihe von Merkmalen der ontologischen Struktur des Lebendigen gemeinsam haben. Denn im Lebendig-Sein kommen sie ja gerade überein. Was sie voneinander unterscheidet, ist nicht ihr Lebendig-Sein, sondern, was für Lebewesen – was für Seiende – sie sind.

Die Immaterialität, die den Menschen in seinem Lebensvollzug auszeichnet, zählt zu den grundlegenden Strukturmomenten seiner ontologischen Verfassung. Die Überwindung der zeitlich-räumlichen Grenzen des Materiellen eröffnet den weiten Horizont des geistigen Lebens, was letztlich die Bedeutung und die Würde des Menschen begründet.

Referenzen

  1. vgl. Aristoteles, De Anima, II, 4, 415 b 12-14; vgl. auch II, 1, 412 a 27-28
  2. vgl. u. a. auch Choza J., Manual de antropología filosoófica, Madrid (1988); siehe auch Portmann A., Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel (1969)
  3. Die wichtigsten Gedanken zu diesem Thema entnehme ich dem Beitrag von Pöltner G., Die theoretische Grundlage der Hirntodthese, in: Schwarz M., Bonelli J. (Hrsg.), Der Status des Hirntoten. Eine interdisziplinäre Analyse der Grenzen des Lebens, Springer-Verlag, Wien/ New York (1995), S. 125-146
  4. vgl. dazu Beitrag von Marktl W., Die Bedeutung des Zentralnervensystems für die optimale Entfaltung der Lebensvorgänge, in: Schwarz M., Bonelli J. (Hrsg.), Der Status des Hirntoten. Eine interdisziplinäre Analyse der Grenzen des Lebens, Springer-Verlag, Wien/ New York (1995), S. 35-52
  5. vgl. Marktl W., siehe Ref. 4
  6. vgl. zu diesem Thema Choza J., siehe Ref. 2, S. 25 ff.
  7. ebd., S. 27
  8. ebd., S. 29 ff.
  9. vgl. Inciarte F., Die Evolutionäre Erkenntnistheorie und der Unterschied Tier/Mensch, in: Acta Philosophica (1992); 1: 26-36
  10. ebd., S. 35 f.
  11. Voraussetzung für die Verwirklichung der menschlichen Freiheit ist, dass das Subjekt zu seinem eigenen Streben Stellung nehmen kann.
  12. vgl. Wojtyla K., Person und Tat, Freiburg im Breisgau (1981), S. 114 ff.; vgl. auch ders., Über die metaphysische und die phänomenologische Grundlage der  moralischen Norm. In Anlehnung an die Konzeption des hl. Thomas von Aquin und Max Schelers, in: Primat des Geistes, Karol Wojtylas Philosophische Schriften, Stuttgart (1980), S. 235 ff.
  13. An einer anderen Stelle habe ich die Radikalität des Unterschiedes zwischen dem Menschen und den anderen Lebewesen erläutert: Die ethische Zulässigkeit und Tierversuchen und der Unterschied Tier/Mensch, in: Bonelli J. (Hrsg.), Der Mensch als Mitte und Maßstab der Medizin, Wien (1992), S. 33-48


Dieser Artikel ist ein Nachdruck in leicht veränderter Form von: Rosado J., Ontologische Unterscheidungsmerkmale des menschlichen Lebens, in: Schwarz M., Bonelli J. (Hrsg.), Der Status des Hirntoten. Eine interdisziplinäre Analyse der Grenzen des Lebens, Springer-Verlag, Wien/ New York (1995)

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Dr. Johannes Rosado
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Anthropologie und Bioethik
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