Editorial

In die sog. „Personalisierte Medizin“ werden große Hoffnungen gesetzt. In Zukunft sollen dadurch präzise, individuell maßgeschneidert, über die rein akademisch, funktionelle Krankheitsentität hinaus, die individuellen, physiologischen, genetischen und geschlechtsspezifischen Eigenschaften jedes einzelnen Patienten in Diagnose und Therapie weitgehend berücksichtigt werden. Bis zu einem gewissen Grad wird dieses Konzept auch jetzt schon im medizinischen Alltag zunehmend verfolgt, etwa in der Erstellung von Algorithmen, Gendiagnostik, dem Instrumentarium der Künstlichen Intelligenz (KI) und der Digitalisierung im Allgemeinen, Big Data, Molekularbiologie usw. Freilich stehen wir noch am Anfang. Das revolutionäre Potential dieser Technologien für das Gesundheitswesen aufzudecken und für die breite Masse zu entwickeln, wird die Zukunft der Medizin nachhaltig verändern. Im Band I zur „Personalisierten Medizin“ (Imago Hominis 3/2019) wurden dazu schon einige Möglichkeiten der Individualisierung auf verschiedenen Feldern der Medizin vorgestellt und einer ethischen Reflexion unterzogen.

Insbesondere durch die Anwendung der KI erwarten wir uns eine Fülle von Informationen über den einzelnen Patienten, von denen wir noch vor wenigen Jahren nicht träumen hat lassen. Man erhofft sich davon eine bessere Entscheidungsfindung, das Vermeiden von Fehldiagnosen, die Heilung von bisher unheilbaren Erkrankungen, sichere Verlaufsprognosen, individuell zugeschnittene Therapieansätze und die Reduktion von unerwünschten Nebenwirkungen. Wird der Arzt in Zukunft überhaupt eine untergeordnete Rolle spielen, ja vielleicht überhaupt verzichtbar sein angesichts der technisch gesteuerten „Präzisionsmedizin“?

Ohne Zweifel kündet sich ein tiefgreifender Wandel im medizinischen Alltag und speziell im Umgang mit den Patienten an. Freilich, schon Hippokrates hat bereits vor über 2000 Jahren festgestellt: „Es ist wichtiger zu wissen, welche Person eine Krankheit hat, als zu wissen, welche Krankheit eine Person hat“.

Es ist unbestritten, dass eine noch so ausgefeilte Technologie den Menschen zwar bis in die feinsten Molekularstrukturen hinein in seine Bestandteile zerlegen kann, allerdings: Als ganzheitliche Person kann sie ihn nicht erfassen. Denn die Maschine ist blind für den Menschen, der leidet. Die Information und Deutung seiner Gedanken, seiner Seele und seiner Gefühle ist ihr prinzipiell nicht möglich. Personale Erkenntnis erfordert Personen, Menschen, die nicht nur Daten sammeln und berechnen, sondern die da sind, zuhören, hineinspüren, beobachten, klären, einordnen. Insofern ist die sog. personalistische Medizin eine große Herausforderung an Ärzte, Pflegende und alle im Gesundheitsbereich Tätige.

Denn wenn wir die Botschaft des Herzens unserer Patienten, ihre Ängste und Sorgen nicht mehr wahrnehmen können, verarmt die Medizin zu einem rein technischen Akt. Die Herausforderung besteht also darin, bei der Handhabung der Errungenschaften der personalisierten Medizin im Sinne einer „Präzisionsmedizin“, Fürsorge und Zuwendung nicht verkümmern zu lassen, sondern im Gegenteil bewusst zu pflegen. Andernfalls würde die sog. personalisierte Medizin genau das Gegenteil ihres Namens bewirken, nämlich die Depersonalisierung der Patienten.

Christian Noe (Universität Wien) plädiert für einen ganzheitlichen Ansatz der personalisierten Medizin. Eine individualisierte Therapie könnte dazu verleiten, die eigentliche personale Herausforderung der Arzt-Patient-Beziehung zu vernachlässigen. Auf der einen Seite steht eine Vielzahl persönlicher Daten bis hin zu Genvarianten mit möglicherwiese schicksalhaften Folgen, auf der anderen Seite steht die Befindlichkeit eines Menschen, die einen ebenso wichtigen Teil des ärztlichen Gespräches darstellt. Wenn man das Beste für die Patienten will, so darf daraus kein Entweder-Oder resultieren. Da der Erstkontakt mit dem Kranken zumeist beim Allgemeinmediziner erfolgt, stellen sich insbesondere an den Hausarzt besondere Anforderungen.

Der Internist Johannes Bonelli (IMABE, Wien) zeigt auf, was die Rede von der „Ärztlichen Kunst“ bedeutet, die ja mehr ist als rein fachspezifisches medizinisches Können. Kunst bedeutet gerade das intuitive Erfassen des Individuellen und damit des ganzen Menschen in seiner personalen Einzigartigkeit. Ärztliche Kunst reicht daher über das rein empirisch-technische „Können“ und „Wissen“ weit hinaus.

In den vergangenen zehn Jahren hat die Diagnostik in Form der Gendiagnostik eine rasante Ausweitung erfahren, die zum einen auf revolutionär neuen Erkenntnisse, zum anderen auf einem faszinierend neuen Methodenspektrum beruht. Der Molekularbiologe Theo Dingermann (Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main) beschäftigt sich mit den positiven Errungenschaften der Gendiagnostik, mit der sich nicht nur Krankheitsursachen viel genauer definieren lassen, sondern auch Risikogruppen besser erfasst werden können. Da sog. Prädiktive Tests aber immer nur eine bestimmte Wahrscheinlichkeit vorhersagen können, sollte im Vorfeld der Testung nach der klinischen Nützlichkeit eines genetischen Tests gefragt werden.

Orphan-Drugs gelten als Paradebeispiel für die personalisierte Medizin. Der Mediziner Andreas van Egmond-Fröhlich (Preyer’sches Kinderspital SMZ-Süd, Wien) beschäftigt sich in seiner Analyse in erster Linie mit der Problematik überhöhter Preise und schlägt Lösungsmöglichkeiten zur Finanzierung der Behandlung seltener Erkrankungen vor.

Außerdem in dieser Ausgabe von Imago Hominis: Die Juristin Stephanie Merckens (IEF) analysiert das umstrittene Urteil zur Beihilfe zum Suizid des Deutschen Bundesverfassungsgerichtshofes vom 26. Februar 2020.

Und die Corona-Krise verlangt danach, dass ethische Grundfragen gestellt werden – denn die nächste Pandemie kommt bestimmt. 15 ethische Fragezeichen zur Corona-Pandemie hat daher der Ökonom und Ethiker Enrique Prat (IMABE, Wien) formuliert – zum Weiter- und Nachdenken.

J. Bonelli

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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