Religion: Wider die Reduktion auf ein Therapeutikum

Imago Hominis (2014); 21(1): 25-33
Wilhelm Donner

Zusammenfassung

Etliche Studienergebnisse stellen einen Zusammenhang zwischen Spiritualität und erfolgter Genesung her. Auch wenn die Daten stimmig erhoben wurden, wird suggeriert, dass man sich nur für den Glauben entscheiden müsse, dann wären schon einige Lebensjahre dazu gewonnen. Diese Befunde wirken verführerisch. Der Beitrag geht kritisch der Tendenz nach, Spiritualität als Medizin zu betrachten. Es geht um die Rückgewinnung eines substantiellen Religionsverständnisses. Schon der Versuch, die Spiritualität des Patienten medizinisch zu rekonstruieren, ist zum Scheitern verurteilt. Die Medizin muss sich vor einem holistischen Ansatz hüten, da auch sie nur einen Teil der Realität im Blick hat.

Schlüsselwörter: Religion, Spiritualität, Therapie, Krankheit, Schulmedizin

Abstract

Several studies seem to show a causal relationship between spirituality and successful recovery. These studies suggest that by coming to faith, one can add some years to one’s life span. Such findings are tempting as they seem to support the trend of considering spirituality a medicine. We need to recover a useful understanding of religion.The attempt to reconstruct a patient’s spirituality through medicine is doomed to failure. Medicine today is well advised not to engage in such a holistic approach since it only looks at a part of reality.

Keywords: Religion, Spirituality, Therapy, Disease, Traditional Medicine


Man wird niemals mit einer Gläubigkeit glauben, die nützlich ist und man wird dann wirklich glauben, wenn Gott das Herz geneigt gemacht hat.
Blaise Pascal in den Pensées zu Psalm 118,36.

Einführung

Traditionelle Theologie und europäische Schulmedizin geben keine verlässlichen Auskünfte über die Zusammenhänge und vor allem Wechselwirkungen von Spiritualität und Medizin. Das scheint im Sinn des Phänomens zu liegen, nicht nur weil die Menschen allesamt grundverschieden sind, sondern auch, weil es so viele Wege zu Gott gibt wie es Menschen gibt.1

Zweifellos ist es ein Auftrag an die Menschheit und die medizinische Wissenschaft, das Leiden und den Schmerz der Mitmenschen – aber auch den eigenen – zu lindern. Doch die Fähigkeit, das auferlegte Leid anzunehmen, ist weit weg entfernt von jeglicher Pathologie. Dem „Sechsten Kondratieff“ von Wirtschaftstheoretiker und Zukunftsforscher Leo A. Nefiodow,2 einem Werk, das die Konjunktur und Basisinnovationen der Humangeschichte untersucht, ist zu entnehmen: „Unnötiges Leid in der Welt wird vermieden, wenn die Menschen sich konsequent darum bemühen, nach Gottes Geboten zu leben. Im Gegensatz zum Buddhismus besitzt die psychosoziale und seelische Ebene im Christentum eine zentrale Bedeutung. Paulus sagt: ‚Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen‘3.“

Nicht zuletzt deshalb scheint es geboten, den scheinbar etwas „veralteten“ ideologiekritischen Faden wieder aufzugreifen, nachdem in der gegenwärtigen Medienwelt verstärkt Sendungen und Beiträge zu Themen über neuere medizinische Tendenzen ausgestrahlt und publiziert werden, die das traditionelle Verständnis und das über die Jahrhunderte hergestellte Gleichgewicht von Medizin und Spiritualität verstören.

Spiritualität und Medizin verheißen Heilung, ja mehr noch: Beides will Erlösung (z. B. von Schmerzen) und Heil. In inzwischen längst vergangenen Zeiten wie dem frühen 20. Jahrhundert war es noch die Politik, die solches verhieß. Aber die Politik hat sich in diesem Feld nun einmal restlos diskreditiert, diese Heilsfunktion wurde definitiv verbraucht. Totalitarismuskritiker meinen sogar nicht ganz zu Unrecht „missbraucht“! Nationalismus, Nationalsozialismus, Marxismus, Freudomarxismus, etc. stehen für diese Exzesse.4

Nach dem Jahr 1968, als die Verbindung von Politik und Chiliasmus tumultartig, karnevalesk und – um mit Hegel zu sprechen – als Farce endgültig zu Grabe getragen wurde, nahm in den westlichen Industriegesellschaften die sogenannte Esoterik die Rolle des Heilsversprechens ein. Vornehmlich fern-östlicher Herkunft (z. B. Buddhismus, Taoismus) und um die Perfektionierung geistig-körperlicher Selbsttechniken bemüht, hat sich inzwischen auch diese Ressource erschöpft.

Die vielzitierte und vielbeschworene Rückkehr zur Religion unserer Gegenwartsgesellschaften bedürfte einer gesonderten Analyse hin auf ihre Triftigkeit, die vielschichtigen Suchbewegungen in unerschlossenen Sinnsphären sowie die ungebrochene Nachfrage an Psychotherapien in all ihren Spielarten sind fraglos feststellbar und für jedermann evident.

Zu Beginn des 5. Jahrhunderts, als Augustinus in „De civitate Dei“ (413 – 426) vom sterbenden Leben spricht, wird im „Abendland“ begonnen, das Sterben im Leben auch philosophisch mit zu bedenken. Und es wird zugleich – im Unterschied zu anderen Weltregionen – mit Trauer begleitet. Das Sterben ist eben eine bittere Erfahrung.5

Er setzt sich mit der These Epikurs auseinander, dass der Tod das Leben des Menschen überhaupt nicht betreffe, denn solange der Mensch lebt, sei er nicht im Tode, und wenn er im Tode sei, dann lebe er nicht mehr. Der Tod sei daher für das Leben ohne Bedeutung. Es war die Intention Epikurs, den Menschen die Angst vor dem Tod zu nehmen und dem Leben den Sinn aus ihm selbst zu geben.

Augustinus weist diese Argumentation entschieden zurück. Denn der Mensch ist das einzige Wesen auf der Welt, das weiß, dass es sterben muss. Und nach ihm erfährt der Mensch in der Hinfälligkeit des Leibes aber auch die Angewiesenheit auf Anderes.6

Spiritualität, Christentum, Synkretismus

„Spiritualität“ ist in seiner heutigen Bedeutung kein sehr alter und ebenso kein exakt abgegrenzter Terminus. Als Synonym für Frömmigkeit setzte er sich zunächst im französischen Sprachraum gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch. Unter Spiritualität (französisch „spiritualité“) verstand man Formen der Lebenspraxis und Übungen wie z. B. Exerzitien. Im säkularen Sprachgebrauch wird „spirituality“ mitunter nicht nur mit Frömmigkeit, sondern mit Religiosität im allgemeinen Sinne assoziiert.

Nicht nur im deutschen Sprachraum entwickelte sich der Begriff der „Spiritualität“ während der letzten zwei Jahrzehnte zu einem Schlagwort. Als solcher ist er keineswegs mehr auf die christlichen Ausprägungen von Frömmigkeit beschränkt, er findet sich vielmehr in allen möglichen Formen neuer Religiosität. Unter „spiritus“ ist ja ursprünglich der Heilige Geist im Sinne der biblischen Überlieferung nach der christlichen Glaubensauslegung zu verstehen. Der Geistbegriff hatte jedoch im Laufe der vergangenen Jahrhunderte seinen spezifisch christlichen Bedeutungsgehalt weitgehend eingebüßt.7

In einem transversalen, mitunter verqueren Sinn wird der Begriff heute auch auf nichtchristliche Religionen – insbesondere auf fernöstliche – angewandt, obwohl das Wort eigentlich christlichen Ursprunges ist. Nicht wenige Zeitgenossen betrachten Spiritualität als eine an keine kirchliche Lehre gebundene Form der Religiosität. Dies entspricht auch einer zu beobachtenden Tendenz hin zu den von dem Pastoraltheologen Paul Zulehner so bezeichneten „Religionskomponisten“ sowie zu einem Synkretismus der Religionen. Unter Spiritualität können auch Zen-Meditation des Buddhismus, die Mystik des Sufismus im Islam, das Denken der Anthropo- und Theosophie sowie diverse Formen des Neopaganismus, Spiritismus, Okkultismus, westlicher Reinkarnationsglaube bis hin zu Praktiken der Alternativmedizin firmieren.

Zwischen Populismus und Wellness-Ideologie

Zahlreiche Symposien und Kongresse deuten mittlerweile darauf hin, dass man sich aber auch in der medizinischen Wissenschaft wieder für die religiöse Dimension von Krankheit und Gesundheit zu interessieren anschickt. Geht es um Spiritualität und Heilung, werden zumeist verschiedene empirisch-wissenschaftliche Studien amerikanischer Herkunft herangezogen und zitiert, wonach der Glaube an Gott eine unmittelbare und vor allem gesundheitsförderliche Kraft habe. Man stellte die sogenannten Sterbetafeln der statistischen Zentralämter gegenüber und will damit der mitunter verblüfften Öffentlichkeit klar machen, dass es zwischen dem regelmäßigen sonntäglichen Kirchgang und der jeweiligen Lebenserwartung einen direkt proportionalen oder zumindest einen unmittelbaren Zusammenhang gebe.

Man kann einwandfrei anerkennen, dass dies alles in dem Sinne stimmig erforscht wurde und dabei methodisch valide Ergebnisse erzeugt wurden. Aber die Schlussfolgerungen sind zu kurz gegriffen. Ebenso geht dies mit einer illegitimen Indienstnahme des religiösen Glaubens für Zwecke einer Wellness-Ideologie einher, die auf einfachem Weg die Funktionalitäten und Kausalitäten vermischt. Es wird damit suggeriert, dass man sich nur für den Glauben an Gott entscheiden müsse, und schon würde man ohne zusätzliche Maßnahmen ein paar weitere Lebensjahre dazugewinnen.

Dieser populärwissenschaftliche Trend, der paradigmatisch für eine Wendung des gegenwärtigen Zeitgeistes zu stehen scheint, beinhaltet auch – ob bewusst erzeugt oder nicht – eine strategische Ausrichtung, deren Träger und Subjekt sich anonym verhält. Als einer möglichen Arbeitshypothese wäre daher zu folgen, dass es eine breite, mit manchen Medien abgestimmte ideologische Offensive gibt, den christlichen Glauben an Gott mit dem modernen Gesundheitsbewusstsein zu verschmelzen.

Dafür gibt es nicht nur zahlreiche Evidenzen, sondern es schließt sich auch die naheliegende Frage an: Und warum soll das schlecht sein? – Ein neues, modernes Gesundheitsbewusstsein sei doch mehr als notwendig. Ist es etwa nicht hilfreich, wenn unter dem Diktat der angespannten finanziellen Lage bei den Krankenkassen und der von den Regierungen beschlossenen Sparpakete auf andere Quellen der Heilkraft ausgewichen wird? Oder, um es pointiert zu formulieren: von der gesetzlichen und sozialen Krankenversicherung zur spirituellen, metaphysischen Krankenversicherung?

Gesundheit und Religion: Wissenschaftliche Studien

Der Zusammenhang von Gesundheit, Ethik und Religion ist seit 1968 ein wissenschaftliches Thema, mehr als 200 Studien liegen dazu vor. Tatsächlich lässt sich in empirischen Studien ein Konnex und in Einzelfällen sogar ein kausaler Zusammenhang herstellen und in der Folge auch nachweisen. Aber die Frage wäre zu stellen: Was soll eine solche Wissenschaft? Was will uns diese Art von Ergebnissen mitteilen? Respektiert die Wissenschaft bei solcherlei Forschungen überhaupt ihre Grenzen?

Auch wenn die Grenzziehung zwischen Forschung und Lebenstechnik nicht in jedem Fall leicht fällt, wäre es dennoch im Sinne der Aufrechterhaltung wissenschaftlicher Legitimität und Glaubwürdigkeit geboten, die Unterschiedlichkeit dieser beiden Bereiche anzuerkennen.

Im Folgenden sollen dennoch einige amerikanische und europäische Untersuchungen kursorisch gestreift werden, die einen kausalen Zusammenhang von Glaube und Heilung zum Gegenstand haben. Dabei ist zu beachten, dass es bei der Forschung über Spiritualität – verstanden als möglicher Teil ärztlichen Handelns – notwendig ist, den Begriff der Spiritualität zu präzisieren. Mangelnde Begriffsklärungen führen denn notwendig zu methodischen Mängeln bei den klinischen Studien.

Im Anschluss an die Studien von David B. Larson lässt sich zwischen Religion, Religiosität und Spiritualität unterscheiden. Sinngemäß definiert er sie wie folgt: Religion ist demnach ein „organisiertes System von Glauben, Praxis und Symbolen, das helfen soll, einer höheren Macht näher zu kommen.“8 Religiosität ist vielmehr eine persönliche Einstellung, die ein bestimmtes Bewusstsein und Verhalten zur Voraussetzung hat. Spiritualität wird als persönliche Grundeinstellung verstanden, die sinnstiftend wirkt und eine transzendierende Selbstreflexion ermöglicht, die religiös sein kann oder auch nicht.9

Religiöse Menschen sind weniger oft von Depression, Suchtkrankheiten oder Suizid betroffen als Atheisten. Dies ist das Ergebnis einer österreichisch-amerikanischen Übersichtsstudie, die jüngst im Journal of Religion and Health veröffentlicht wurde.10 Das Team um Raphael Bonelli, Psychiater und Neurologe an der Sigmund-Freud-Universität in Wien, und seinem Kollegen Harold G. Koenig, Vorstand des Center for the Study of Religion/Spirituality and Health an der Duke University, untersuchte alle Forschungsarbeiten zu Religiosität und psychischer Gesundheit, die seit 1990 weltweit in den meistzitierten psychiatrischen und neurologischen Fachzeitschriften erschienen sind.

72 Prozent der relevanten Studien zeigten, dass die psychische Gesundheit mit dem Ausmaß, in dem sich ein Mensch religiös-spirituell engagierte, stieg, bei 18 Prozent war der Zusammenhang nicht eindeutig, nur bei fünf Prozent fiel er negativ aus. Für Bonelli bestätigen diese detaillierten und umfangreichen Daten den stabilisierenden Faktor von Religiosität. „Natürlich werden aber immer wieder auch religiöse Menschen psychisch krank oder nehmen sich das Leben“, räumt der Psychiater ein, „eine 100-prozentige Garantie gebe es nie.“ Für Bonelli sind die Studienergebnisse klarer Auftrag an Psychiater und Therapeuten, die vorhandene Religiosität von Patienten als nutzbare Ressource anzusehen, nach der man durchaus „ebenso wie nach der Familie“ fragen solle.

Nach den Forschungsergebnissen, die von David B. Larson und seinem Team vom Nationalen Zentrum der amerikanischen Gesundheitsforschung gesammelt wurden, ergaben Vergleiche zwischen religiösen und nichtreligiösen Menschen, dass gläubige Personen im Vergleich zu den wenig oder gar nicht gläubigen Personen zu 60 Prozent weniger unter Herzkrankheiten leiden. Die Selbstmordrate bei religiösen Menschen sei sogar 100 Prozent niedriger, und sie leiden sogar noch weniger unter Bluthochdruck. Das Verhältnis von Nichtrauchern und Rauchern bei Gläubigen und Ungläubigen sei eins zu sieben.11

Säkulare Psychologie erklärt solche Fälle mit „psychologischer Wirkung“. Dies bedeutet, dass der Glaube die Moral der Menschen erhöht und dass die Moral für die Gesundheit notwendig ist.

Nach Patrick Glynn, der dem Islam nahesteht, bringen jene Philosophien und ideologischen Systeme, welche im Widerspruch zur Natur des Menschen stünden, stets Sorgen und Niedergeschlagenheit. Die moderne Medizin sei angesichts dieser Entdeckungen auf dem Weg, zu erkennen, dass die Heilkunst neben den rein somatischen Methoden auch andere Möglichkeiten habe, so Glynn.

Dale A. Matthews, David B. Larson und Constance P. Barry legten weitere Untersuchungen vor (erschienen in den Gesammelte Studienergebnisse von David Larson, Nationales Institut für Gesundheitsforschung).12 So zeigen Studien, dass Patienten durch Glauben und Gebet nach Operationen weniger lang bettlägerig sind, weniger Schmerzmittel benötigen und ihr Blutdruck schneller sinkt. Für den Mediziner Dale A. Matthews ist es klar: Es braucht beides, gute medizinische Versorgung und die Kraft des Gebetes. Er schreibt: „Im Neuen Testament wird das griechische Wort ‚sozo‘ sowohl für ‚heilen‘ wie für ‚erlösen‘ verwendet, so dass das irdische Gesundwerden und die Befreiung – z. B. von seelischen Verletzungen – miteinander verknüpft werden.“13

Mediziner der Universität von Alabama untersuchten 1991 den Umgang mit Stress und Angst vor einer Herzoperation. Von 100 Herzpatienten, die eine Bypass-Operation erwarteten, gaben die weitaus meisten (97 Prozent) an, dass sie vor der Operation beteten, über zwei Drittel von ihnen berichteten, dass für sie das Gebet hilfreich war.

Elisabeth McSherry14 erforschte die Wirkung von Seelsorge an 700 älteren Herzpatienten, die mit kostenintensiven und komplizierten Methoden behandelt werden mussten. Die eine Gruppe der Senioren wurde im üblichen Maße von Krankenhausseelsorgern betreut – durchschnittlich drei Minuten pro Tag. Die zweite Gruppe erhielt intensive tägliche Besuche, die im Schnitt eine Stunde dauerten. Ergebnis: Die seelsorgerlich besser betreuten Patienten konnten das Spital 1,8 bis 2,1 Tage früher verlassen. Der verstärkte Seelsorgedienst kostete das Spital 100 Dollar mehr pro Patient, doch durch die frühere Entlassung wurden diese Kosten mehrfach eingespart.

Eine Studie des Psychiaters Harold George Koenig der Duke-University (North-Carolina) hat den Wert des gemeinsamen Gebetes im Gottesdienst untersucht. Die im Jahr 1996 veröffentlichte Untersuchung ist die größte Studie, die je über Gemeinschaftsleben durchgeführt wurde. Koenig fand an 4.000 zufällig ausgewählten Senioren heraus: Ältere Menschen, die regelmäßig Gottesdienste besuchen, sind weniger depressiv und körperlich gesünder als diejenigen, die allein zu Hause beten.

Dass Religion und Spiritualität für eine optimale medizinische Betreuung von Patienten eine wichtige Rolle spielen, zeigte auch eine kürzlich in der Psychiatrischen Praxis veröffentlichte Studie.15

Wissenschaftler von der Abteilung für Psychiatrie der Universität Münster fanden heraus, dass Religion und Spiritualität bei drei von vier Patienten eine mehr oder weniger große Rolle spielten. Es gab zudem deutliche Hinweise dafür, dass Religiosität einen positiven Effekt für die Krankheitsbewältigung hatte.

Eine weitere Studie an der Universität Bern unter der Leitung von René Hefti (Chefarzt der dortigen Klinik SGM Langenthal und Leiter des Forschungsinstitutes für Spiritualität und Gesundheit) ist noch unabgeschlossen.16 Erste Zwischenergebnisse: Gläubige Christen seien gesünder als Atheisten, und wenn sie erkranken, können sie mit ihren Beschwerden besser umgehen. Atheisten und Agnostiker neigten mehr zu körperlichen und seelischen Gebrechen (Drogensucht, Neurosen, Depressionen), zu egoistisch-aggressivem Verhalten und seien durch Selbstmord stärker gefährdet. Gläubige Christen bemühten sich vermehrt, sich gesünder zu ernähren, bewegen sich mehr in freier Natur und seien in ihren Gemeinden in ein Beziehungsnetz eingebunden. Gesundheit im ganzheitlichen Sinne könne ohne Religion nicht erreicht werden.

Samuel Pfeifer schreibt dazu im CDK-Bulletin 2/200117: „In meiner ärztlichen Erfahrung hat sich gezeigt, dass eine christliche Gemeinde wesentlich zur Rehabilitation von psychisch leidenden Menschen beitragen kann.“

Eine Studie an der deutschen Universität Trier unter der Leitung von Sebastian Murken18 kam zum Schluss, dass die Ergebnisse bei psychosomatischen Patienten auch negativ sein können, wenn der Patient ein strenges und strafendes Gottesbild hat. Er habe dann kein stabiles Selbstwertgefühl und komme sich klein und minderwertig vor. Diese Studie wurde an 465 Patienten durchgeführt. Welche Erfolge sich bei Patienten durch eine gute Seelsorge und Gebet erzielen lassen, wurde bei der Studie nicht untersucht. Das Pflegepersonal ist jedenfalls in hohem Maße gefordert und auf sich gestellt, wenn dem Patienten in Fragen des Glaubens und der Religion beigestanden werden soll.

Kritische Würdigung

Die empirischen Befunde der „Glaubensmedizin“ wirken zugegebenermaßen verführerisch. Doch es geht darum, von einem funktionalen zu einem substantiellen Religionsverständnis zu gelangen. Es wurde ja bereits „halböffentlich“ und ernsthaft in medizinischen Fachorganen19 diskutiert, ob Ärzte religiöse Tätigkeiten verordnen sollen. Doch wenn Religion zum Therapeutikum wird, befindet man sich auf direktem Weg zur Trivialisierung von Religion.

Unter Fachleuten klaffen die Meinungen weit auseinander. Für die einen ist es ein Abgleiten der Medizin in die Esoterik, für die anderen ein dringend notwendiger Schritt zu einer ganzheitlichen und kostengünstigeren Medizin. Jeder chirurgische Eingriff ist in gewissem Sinn eine existentielle Bedrohung. Viele Patienten suchen in schweren körperlichen oder seelischen Krankheitssituationen Halt im Glauben oder besinnen sich auch nur auf ihre religiösen Wurzeln. Krankheit ist damit eine Chance, geistlich zu wachsen. Der Glaube vermittelt Halt, Wert und Sinn und damit Grundlagen für eine positive Lebensgestaltung. Der Glaube kann jedoch nicht nur Hilfe, sondern auch Belastung sein. So kann die Überzeugung, dass die Krankheit eine Strafe Gottes sei, den Krankheitsverlauf ungünstig beeinflussen.

Hier lauert eine Reihe von Gefahren, die die Erwartungshaltungen erkrankter Menschen auf breiter Ebene gefährden können: natürlich für die somatische Gesundung selbst, dann aber auch in der Sphäre des religiösen Glaubens. Um einen Heilungsprozess ganzheitlich überhaupt erst in Gang zu setzen, dürften zwei Voraussetzungen beim Patienten unumgänglich sein: Zum einen braucht es die zweckfreie Hingabe an ein höheres Drittes, zum anderen ein Vertrauen ohne Vorbedingung.

Die Leib-Seele-Einheit des Menschen scheint viel zu komplex verfasst zu sein, als dass man sie mit einem Modell der Dezision steuern könnte. Im Übrigen dürften neue Normvorgaben nach dem Muster „Glaube und du wirst geheilt“ in der Sache nicht allzu hilfreich sein. Gesundung wie Heilung brauchen in zeitlicher und kausaler Dimension jenen Raum, der frei ist von jeglichem Druck auf den Patienten. Solch ein psychischer Druck gerät unweigerlich zum Leistungs- und Erfolgsdruck.

Vom Standpunkt der Religion könnte man unter Umständen auf der Gegenseite sogar ein taktisches Manöver unterstellen, wonach es sich in diesem Fall um die jüngste Invektive des welt-anschaulichen Atheismus handeln könnte, um den Glauben der Christenheit zu diskreditieren. Indem ein kausaler oder zumindest wirkmächtiger Zusammenhang zwischen dem Glauben und der somatischen Heilkraft herzustellen versucht wird, kann der Glaube an Gott nur verlieren bzw. fremde Lasten übernehmen. Warum? Weil im Falle der Erfolglosigkeit nur einer die Verantwortung bei diesem Heilungsprozess zu tragen hätte, es wäre der Gott der Christenheit und jener Religionen, die ein Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen für möglich halten. Die als überwunden geglaubte Theodizee-Problematik könnte sich auf einer völlig neuen Ebene unter den neuen Umständen wieder Bahn verschaffen.

Vertrauen als basale Haltung und Bindemittel in der Religion

Bei aller Professionalität, die in der vorangegangenen Schilderung sichtbar wurde, ist das Gelingen von therapeutischen Prozessen eine Gnade und Grund für Dankbarkeit. Heilung liegt nicht allein in menschlicher Hand. Spiritualität weiß um die Unverfügbarkeit von Leben und Gesundheit um deren Geschenkcharakter. Spiritualität in der Medizin bedeutet, die eigene Endlichkeit, aber auch die Endlichkeit der Heilkunst zu akzeptieren und sie nicht zur Heilslehre zu stilisieren. Es bedeutet auch, dass Ärzte und Patienten sich gegenseitig von übertriebenen Erwartungen entlasten und mit dem Scheitern umzugehen verstehen, auch im Fall chronischer bzw. als unheilbar geltender, letaler Krankheiten.20

Medizin, aber auch Pflege sind nicht nur eine Wissenschaft bzw. Technik, sondern vor allem auch Kunst, die – wie jede Kunst – auch der Inspiration bedarf. Die seit einigen Jahren boomenden und sehr hilfreichen Pflegewissenschaften an den verschiedenen medizinischen Universitäten und Fachhochschulen sollten diesen Umstand vielleicht stärker in Augenschein nehmen, anstatt die Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der neuen Pflegeberufe unentwegt zu betonen.

Spiritualität in der Pflege hat sehr viel mit Vertrauen zu tun, ohne das wirksame Pflege nicht gelingen kann. Pflegende benötigen Vertrauen in ihre Fähigkeiten und in die zur Verfügung stehenden Mittel. Patienten und ihre Angehörigen brauchen wiederum Vertrauen in die Fähigkeiten der Pflegekräfte.

Spiritualität stiftet die Atmosphäre, in der die Kommunikation zwischen Arzt bzw. Pfleger und Patient stattfindet. Sie verbindet ebenso wie sie voneinander unterscheidet. Vertrauen ist gleichsam eine akzeptierte Abhängigkeit. Darin liegt ein Hinweis auf das Bewusstsein absoluter Abhängigkeit, das Friedrich Schleiermacher als Wesen der Religion beschrieben hat. Vertrauen ist stets auch Glaube.21

Fazit

Die vorliegenden Untersuchungsergebnisse lassen aus naturwissenschaftlicher Perspektive selbstverständlich keine weiterreichenden Schlussfolgerungen zu, als dass eine allfällige therapeutische Wirkung eines praktizierten Glaubens im Reich nutzbringender und wünschenswerter Placebo-Effekte anzusiedeln ist.

Gleichwohl erklärt der Placebo-Effekt allein nicht die gesamte angesprochene Dimension. Die religiöse Dimension ist als autonom zu verstehen, und der Placebo-Effekt wäre dabei allenfalls als ein Medium anzusehen, wobei das Mittel der Autosuggestion für rein somatische oder integrale Bewusstseinsprozesse instrumentalisiert wird, das auf die menschliche Leib-Seele-Einheit abzielt.

Die Humanmedizin ist trotz ihrer hervorragenden Leistungen dazu aufgerufen, einen grundlegenden Lernprozess einzuleiten. Es geht darum, jenes Verstehen zu eröffnen, dass die Medizin nur einen Teil der Wirklichkeit sieht und sehen kann. Im Endeffekt ist dies ein Prozess der Selbstbescheidung.

Allein der Versuch, die spirituellen Dimensionen des Patienten medizinisch zu rekonstruieren, ist m. E. zum Scheitern verurteilt. Hier wäre die Grenze des Kompetenzbereiches der Medizin überschritten. Damit soll mitnichten angedeutet werden, dass das Gebet eines Arztes für seinen Patienten nutzlos wäre, sondern vielmehr, dass es nur dann als sinnvoll zu verstehen sei, wenn der Arzt als gläubiger Mensch dieses Gebet spricht.

Die Widersprüchlichkeit der therapeutischen Wirkung von Gebeten wird ebenso von der Fachmedizin konzediert. Während verschiedene Studien den Nachweis zu erbringen glauben, dass das regelmäßige Gebet oder meditative Mantras positive Effekte auf das Herz- und Kreislaufsystem haben, führen andere Studien zu dem Ergebnis, dass Gebete – z. B. bei Herzpatienten – keine nachweisliche Heilwirkung entfalten.

Wie schon ausgeführt, scheint diese Art der Fragestellung unsachgemäß und wird weder dem religiösen Glauben noch der Heilkraft der Medizin auch nur einigermaßen gerecht. Durchaus bemerkenswert ist auch, dass für die christliche Philosophie – nicht so für die Theologie – des 20. Jahrhunderts der Zusammenhang von Spiritualität und Heilung ein Anathema ist.22 Als einzige Ausnahme davon wäre der französische Philosoph Michel Henry (1922 – 2002) zu nennen, der eine materiale Phänomenologie des Lebens zu begründen versuchte.

Nach Henry führt die Erkenntnis seit dem In-die-Welt-Kommen der christlichen Botschaft nicht mehr zum absoluten Leben bzw. zum Heil, sondern der Weg führt über „Selbstaffektation“.23 Anselm von Canterbury hat dies als erster erkannt und vollzogen, indem er die Umwandlung einer affektiven Verschmelzung mit dem absoluten Leben in ein rational vermitteltes Vorgehen vorangetrieben hat. Mit der Substitution dieser Verschmelzung tritt das christliche Projekt des individuellen Heils hinter die Spekulation über „die Beweise der Existenz Gottes“24 zurück und zwar bis zu Immanuel Kant, der diesen Spekulationen ein Ende setzen wird.

Ein Paradox der Humanmedizin besteht darin, dass sie für sämtliche Bereiche des Menschlichen zuständig ist, ihr aber ein holistischer Ansatz in der Alltagspraxis verwehrt ist. Das ist gewiss eine große Herausforderung für die einzelnen Ärzte.

Zwar heißt es bereits im Eid des Hippokrates: „Heilig und rein nach göttlichem und natürlichem Recht werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren.“ Daraus ist die Bezugnahme der medizinischen Berufsverantwortung im Grund des Glaubens verankert. Aber demselben Hippokrates von Kos wird der folgende Ausspruch zugeschrieben, der eine Trennung der Aufgaben und Sphären einmahnt: „Medicus curat, natura sanat, Deus salvat“.

Der Mensch ist also nicht nur entweder gesund oder krank. Daher sollte die Medizin

  • sich für die wichtige Bedeutung der spirituellen Dimensionen im Menschen offen halten bzw. diese respektvoll anerkennen, ohne sie für sich zu vereinnahmen
  • konstatieren, dass diese Dimensionen eine nachweisbare Wirksamkeit auf die Heilung haben können, diese jedoch nicht kausal erklärbar ist und
  • diese Dimensionen je nach Möglichkeit auch fördern, z. B. durch die Unterstützung von Seelsorgeeinrichtungen in den Krankenhäusern.

Gegenwärtig erleben wir die moderne Medizin oftmals auch als unpersönliche Apparatemedizin und als erkaltet. Und sie weckt Begehrlichkeiten nach dem ewigen Leben im Immanenten.

Oder, um es mit dem französischen Dramatiker und Existenzialisten Jean-Paul Sartre (1905 –  1980) auszudrücken: „Wenn man sieht, was die Medizin heute fertigbringt, fragt man sich unwillkürlich: Wie viele Etagen hat der Tod?“ Die Medizin und ihre stationären Einrichtungen müssen menschlicher werden und die darin verbrachte Zeit sollte sinnerfüllend erlebt werden können. Und ist der Patient gläubig, möge er Raum darin finden, sich auf Gott zu besinnen und beten zu können, ohne dass diese Praxis zwanghaft durch wissenschaftliche Evaluation begleitet wird.

Referenzen

  1. So lautete auch eine Aussage des späteren Papstes Benedikt XVI. aus dem Jahre 1996, als er noch als Kardinal Joseph Ratzinger den Vorsitz der römischen Glaubenskongregation innehatte.
  2. Nefiodow L. A., Der sechste Kondratieff. Wege zur Produktivität und Vollbeschäftigung im Zeitalter der Information, 6. Auflage, Rhein-Sieg Verlag, St. Augustin (2007)
  3. Galaterbrief 6,2
  4. vgl. in diesem Zusammenhang auch den Vortrag „Glück und Seligkeit“ von Kardinal Christoph Schönborn beim gleichnamigen Symposion vom 20. April 2013 im Wiener Palais Liechtenstein.
  5. Augustinus, De civitate Dei, XIII, 6: … nulli bona est. Habet enim asperum sensum.
  6. vgl. Mader J., Aurelius Augustinus. Philosophie und Christentum, St. Pölten/Wien (1991), S. 84 f.
  7. vgl. Die Wurzeln von Spiritualität, in: Spiritualität in der Medizin, 9. November 2007, sciencev1.orf.at/science/koertner/149984 (letzter Zugriff am 3. Februar 2014)
  8. vgl. auch Wiener interreligiöse Ärzteplattform, die sich an dieser Unterscheidung orientiert
  9. vgl. auch Gisinger C. et al., Seelsorge und Spiritualität bei Krankheit und Pflege, Österreichische Ärztezeitung 15/16 – 2007, S. 28-29
  10. Bonelli R. M., Koenig H., Mental Disorders, Religion and Spirituality 1990 to 2010: A Systematic Evidence-Based Review, J Relig Health, (2013); 52(2): 657-673
  11. Glynn P., God: The Evidence, The Reconciliation of Faith and Reason in a Postsecular World, Prima Publishing, California (1997) S. 80 f.
  12. Matthews D. A., Larson D. B., Barry C. P., The Faith Factor: An Annotated Biography of Clinical Research on Spiritual Subjects, Rockville, Maryland (1993)
  13. Matthews D.  A., Glaube macht gesund, Herder, Freiburg (2000)
  14. siehe McSherry E., Economic impact of chaplaincy on the hospital environment,  Care Giver (1987); 4(1): 29-41; McSherry E., Modernization of the clinical science of chaplaincy, Care Giver (1987); 4(1): 1-13
  15. Reker Th., Menke R., Religiöse und spirituelle Einstellungen psychiatrischer Patienten, Psychiat Prax (2013); 40(01): 43-48
  16. siehe Hefti R., Integration spiritueller Aspekte in der Behandlung psychosomatischer Patienten, Postervortrag beim Kongress „Psychosomatik und Spiritualität“ am 11. Dezember 2009 in Rheinfelden (CH).
  17. Christen im Dienst an Kranken, CDK-Bulletin 2/2001, Bäretswil
  18. Murken S., Gottesbeziehung und psychische Gesundheit. Die Entwicklung eines Modells und seine empirische Überprüfung, Waxmann Verlag, Münster-Berlin (1998)
  19. siehe den Beitrag von Utsch M., Ehm S., Glaube und Gesundheit. Historische Zusammenhänge und aktuelle Befunde, in: Ehm S., Utsch S. (Hrsg.), Kann Glauben gesund machen? Spiritualität in der modernen Medizin, Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, EZW-Texte Nr. 181, in dem darüber berichtet wird.
  20. vgl. Die Wurzeln von Spiritualität, siehe Ref. 7
  21. ebd.
  22. siehe dazu auch: Coreth E. SJ, Neidl W. M., Pfligersdorffer G. (Hrsg.), Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, 3 Bände, Graz-Wien-Köln, Verlag Styria (1990). Besonders Band 3: Moderne Strömungen im 20. Jahrhundert
  23. vgl. Henry M., C’est Moi la Vérité. Pour une philosophie du christianisme, Editions du Seuil, Paris (1996). Dt.: Henry M., „Ich bin die Wahrheit“. Für eine Philosophie des Christentums, Karl Alber Verlag, Freiburg/München (1999), S. 214 f.
  24. Anselm von Canterbury, Proslogion, Lateinisch-deutsche Ausgabe von F. S. Schmitt, Frommann-Holzboog Verlag, Stuttgart/Bad Cannstatt (1984), S. 75

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