Kommentar zum Fall II

Imago Hominis (2014); 21(1): 65-67
Enirque H. Prat

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. Enrique H. Prat
IMABE
Landstraßer Hauptstraße 4/13, A-1030 Wien
ehprat(at)imabe.org

Nach einer ersten Lektüre des Falles könnte man ganz beruhigt feststellen, dass sich alle im Fall agierenden Personen an die Prinzipien der Ethik gehalten haben. Die Familie des Patienten hat die Prinzipien der Fürsorge, des Nicht-Schadens und der Gerechtigkeit offensichtlich gut umgesetzt: Die Töchter haben sich um ihren Vater gesorgt, sie haben sich bemüht, seine Gesundheit wieder herzustellen, und sie waren gerecht. Es ist eine Pflicht der Gerechtigkeit und Liebe, dass sich die Töchter um ihren betagten Vater Sorgen machen. Auch dem Autonomieprinzip (Selbstbestimmungsrecht) wurde genüge getan. Es wurden die Entscheidungen des Vaters respektiert. Er hat zunächst bereitwillig mit seiner Tochter den Weg zum plastischen Chirurgen gefunden, hat aber letztlich die Voraussetzungen für die Operation nicht erfüllen können und diese endgültig abgelehnt. Eine allfällige Frage, ob die Töchter vielleicht zu viel Druck ausgeübt und damit eventuell das Autonomieprinzip verletzt haben, kann auf Grund der Daten nicht wirklich beantwortet werden.

Der Chirurg hat offensichtlich auch diese vier Prinzipien der modernen medizinischen Ethik umgesetzt. Auch hier könnte man sich fragen, ob das Aufklärungsgespräch einleuchtend genug gewesen ist. Es gibt keinen Anhaltspunkt, um daran zu zweifeln, im Gegenteil: Letztlich hat der Patient autonom entschieden, von jeglicher weiterer Therapie Abstand zu nehmen. Damit ist der Arzt von weiterer Verantwortlichkeit befreit.

Die Krankengeschichte scheint also ethisch gesehen eine wahre Erfolgsstory zu sein, in der sich alle Subjekte ethisch ganz korrekt verhalten haben. Der Haken dabei ist jedoch, dass sich die Familie, der Arzt und der Patient am Ende der Geschichte unglücklich, ja mit Recht gescheitert vorkommen müssen. Es erinnert sehr an den geschmacklosen Witz: Operation gelungen, Patient tot.

Die Familie ist in ihrem Bemühen, dem Vater zu helfen, gescheitert. Ebenso der Arzt, der den Patienten nicht überzeugen konnte. Wird der autonome Patient mit seiner angeblich selbstbestimmten Entscheidung, die ihn zur Absonderung und Isolation für den Rest seines Lebens verurteilt, glücklich und zufrieden sein? Man müsste wohl masochistisch veranlagt sein, dies anzunehmen. Ist es nicht vielleicht eher so, dass der Patient sich außerstande gesehen hat, mit dem Rauchen aufzuhören, nachdem er es versucht hat, gescheitert ist und in der Folge seinen Vorsatz aufgegeben hat? Fest steht, dass es ihm nicht gelungen ist, sich von der Sucht zu befreien, obwohl er es eingesehen hatte, dass es gut wäre, und er es sich aus freien Stücken vorgenommen hatte. Der Patient ist in Wirklichkeit in eine Autonomiefalle geraten und in ihr gefangen geblieben. Das heißt, er musste eine autonome, selbstbestimmte Entscheidung treffen und diese umsetzen. Doch alleine war er dazu nicht im Stande. Dann noch von Selbstbestimmung zu reden, ist eigentlich ein Hohn. Wäre es ihm gelungen, vom Rauchen loszukommen, würde er ganz sicher zu seiner ersten Entscheidung stehen.

Hier haben wir eine Bestätigung des weit verbreiteten Vorurteils, Ethik sei „lästig“, sie könne nicht glücklich machen. Ja, Prinzipienethik (Prinzipialismus nach Beauchamp und Childress) und die Pflichtenethik (Deontologische Ethik nach Kant) beladen die Menschen mit moralischen Bürden, ohne darüber Auskunft zu geben, wie diese Lasten getragen werden können.

Bedauerlicherweise hat sich die moderne medizinische Ethik ihnen verschrieben und im Gegenzug die Tugendethik, die Ethik der Umsetzung des gelungenen Lebens und des Glücks (nach Aristoteles), stark vernachlässigt. Das ist insofern bedauerlich, als eine rein kognitive Ethik – d. h. eine Ethik, die die relevanten ethischen Prinzipien und Normen festlegt und propagiert, aber nicht auf jene Tugenden achtet, die für die Umsetzung der Prinzipien und Normen unbedingt notwendig sind - in der Alltagspraxis nicht nützt. Denn die Tugenden sind gerade das: die Befähigung, Prinzipien und Normen erfolgreich umzusetzen. Aus der Sicht der Tugendethik ist dieser Fallbericht keine Erfolgsstory.

Wenn ein Patient in die Autonomiefalle gerät, aus der er selbst nur schwer herauskommen kann, hilft es nicht viel, vom Patienten zu fordern, er solle autonom entscheiden. Es ist vielleicht sogar grausam, denn er besitzt die dazu eingeforderte Freiheit nicht oder nicht mehr. Alleine kann er seine Situation nicht bewältigen, verliert das Selbstvertrauen und die Hoffnung und kapituliert: Er nimmt seinen Vorsatz zurück. Jemand, der ihn dann mit einem Hilfsangebot motivieren und ihm helfen will, aus der Falle herauszukommen, gerät leicht in Verdacht, moralisierend die Entscheidung des Patienten zu missachten, d. h. gegen das Autonomieprinzip zu verstoßen. Und diese Entwicklung ist alles andere als glücklich.

Viele Autoren1 haben aufgezeigt, dass die im Nährboden der Aufklärung stark gewachsene Ideologie des Individualismus zu einem radikalen Autonomieprinzip geführt hat, das dem Menschen eine überfordernde Selbstbestimmung abverlangt. Dies ist ganz besonders bei geschwächten und schwer kranken Menschen der Fall. Sie werden in ihrer Individualität und mit ihren Problemen weitgehend allein gelassen.

Dieser Autonomie bzw. diesem Selbstbestimmungsrecht liegt ein Menschenbild zu Grunde, das den Menschen als soziales Wesen verkennt, er steht von seiner Anlage her immer schon in Bezug zu seiner Umgebung und in Interaktion mit seinem Umfeld (Familie u. a.). Die soziale Dimension des Menschen spielt beim Patienten eine ganz besondere Rolle. Er ist als Hilfebedürftiger auf die Hilfe anderer angewiesen, und zwar nicht allein auf die des Arztes, sondern auch auf die seines Umfelds. Allein wird er vieles nicht schaffen. Aber mit der Familie bzw. mit seinem Umfeld kann er viel mehr, vielleicht sogar ganz schwierige Situationen bewältigen.

Man kann versuchen, mit Hilfe der Tugendethik den Fall in eine wirkliche Erfolgsstory umzuschreiben: Nach der Konsultation beim Chirurgen bestellt dieser die Familie zu sich und macht ihnen klar, dass der Patient nur dann mit dem Rauchen aufhören kann, wenn die Familie bereit ist, ihm ständig dabei zu helfen und ihn zu motivieren. Sie sollen die Dienste von Psychologen oder Pflegepersonen in Anspruch nehmen. Es sei wichtig, dass beim Patienten die Perspektive der Heilung, die ihn jetzt zur Einwilligung motiviert hat, immer stärker als das Verlangen der Sucht bleibt. Der Arzt legt mit der Familie eine erfolgsversprechende Strategie fest. Anschließend wird dem Patienten im Beisein der Familie diese Strategie vor dem Hintergrund einer sehr realistischen Heilungsperspektive erläutert und um seine Einwilligung ersucht. Er erteilt sie. Ab diesem Moment wird der Patient nicht mehr alleine gelassen. Die Familie sucht und findet Wege, um dem Patienten Mut (Tugend) zu machen und tut dies beharrlich (Tugend), mit viel Einfühlungsvermögen (Tugend) und mit viel Geduld. Dies erfordert vom Umfeld Tugenden: viel Opferbereitschaft, Großzügigkeit und Demut.

Weiters werden die Dienste eines Psychologen und einer Pflegeperson in Anspruch genommen und regelmäßiger Kontakt mit dem Arzt gepflegt. Die Hingebung der Familie sowie des pflegerischen und ärztlichen Umfeldes stützt den Patienten. Schon Aristoteles hat in seiner Nikomachischen Ethik (8. Kapitel) ausgeführt, dass dies der richtige Weg zur Entfaltung jener Kräfte (Tugenden) ist, die der Patient unbedingt braucht und an deren Mangel er sonst scheitert. Auch er wird in den Tugenden wie Geduld, Beharrlichkeit, Demut und Opferbereitschaft angespornt werden, damit er seine Entscheidung umsetzen kann und zum Ziel kommt.

Trotz des Einsatzes von Tugenden kann nicht garantiert werden, dass der Fall ein Happy End hat. Dieses Scheitern ist, nachdem man wirklich alles für den Betroffenen unternommen hat, zwar schmerzlich, aber insgesamt gesehen kann es der Familie und dem Umfeld einen gewissen Trost spenden, da sie aus ethischer Sicht weder nach der Prinzipien- noch nach der Tugendethik gescheitert sind.

Das Autonomieprinzip ist sicherlich wichtig. Wenn man es aber im Lichte der Tugendethik betrachtet, wird deutlich, dass für die Umsetzung dieses Prinzips meistens große Unterstützung des Umfeldes notwendig ist. Heute spricht man bereits vom Prinzip der gestützten Autonomie. Selbstbestimmung muss – besonders in vulnerablen Lebenssituationen, wie es eine Krankheit ist – gestützt werden. Je nach Grad der Autonomiefähigkeit – also der Frage, ob der Patient vernunftgemäß handeln kann, ohne dabei überfordert zu werden – kann die Stütze auch 99 Prozent ausmachen, wenn man an fortgeschrittene Demenz denkt.

Ein Gesundheitssystem, das sich nur an der Prinzipienethik orientiert, ist kühl und wenig patientenfreundlich. Durch die Tugend wird jeder bereit, für den nächsten im Rahmen seiner Situation und seiner Möglichkeiten Verantwortung zu übernehmen. Erst dadurch wird das Autonomieprinzip menschlich und vor allem patientenfreundlich.

  1. Taylor Ch., The malaise of the modernity, House of Anansi Press (1998), S. 52-64; Taylor Ch., Quellen des Selbst, Suhrkamp, Frankfurt (1994); Taylor Ch., Ursprünge des neuzeitlichen Selbst, in: Michalski K. et al. (Hrsg.), Identität im Wandel, Klett-Cotta Verlag (1995), S. 14; Macintyre A., After Virtue, University of Notre Dame Press (1981), cap. 3; deutsche Übersetzung: Der Verlust der Tugend, Campus, Frankfurt (1987), S. 52-55, 169 ff.; Frankl V. E., Das Leiden am sinnlosen Leben (Festvortrag 1976), in: Ders., Der Wille zum Sinn, Pieper, München (1991), S. 235-244
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