Ergebnisse auf einen Blick

Ethische Aspekte des Schmerzmanagements anhand der Praxis in ausgewählten Pflegezentren von SeneCura, IMABE, Wien (2014), S. 1-4
Monika Feuchtner, Susanne Kummer, Marion Stoll, Enrique H. Prat

Achtung der Autonomie und Förderung des Selbstbestimmungsrechts

Die Pflegepersonen bemühen sich um die Achtung der Individualität der Bewohner. Sie wahren deren Autonomie und Selbstbestimmung in den genannten vier Bereichen: Gewohnheiten, Bewohnerstärken, Körperpflege sowie Medikamenteneinnahme. Allerdings geraten Pflegepersonen beim Mörsern von Medikamenten im Falle einer Medikamentenverweigerung in einen Gewissenskonflikt. Sie sind sich unsicher und haben ein schlechtes Gewissen gegenüber den betreffenden Bewohnern, auch wenn der Arzt diese Vorgehensweise angeordnet hat.

Distanz und Abgrenzung als Schutz der eigenen Person

Bei den Gesprächen zeigt sich, dass es in den Häusern durchaus ein Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz gibt: Die Pflegekräfte wünschen sich Nähe zum Heimbewohner, was auch durch das Leitbild gefordert wird. Gleichzeitig wird Distanz als notwendig erachtet. Durch die generell hohe Empathiefähigkeit und Motivation der Pflegepersonen gelingt Nähe zu den Bewohnern relativ leicht. Abgrenzung ist für die Pflegepersonen nicht immer einfach zu erreichen, sie geschieht meist wenig strukturiert.

Dokumentationspflicht als Qualitätsstandard in der Pflege

Den Pflegepersonen ist klar, dass Dokumentation notwendig und nur schwer zu vereinfachen ist. Sie empfinden die Pflegedokumentation in der aktuellen Struktur aber vor allem aufgrund des Zeitdrucks häufig als Belastung. Sie nehmen nicht wahr, dass die Dokumentation ein Dienst am Bewohner ist und seine Sicherheit garantiert.

Ethik und Moral in den SeneCura-Zentren

Die Grundsätze von SeneCura sind zwar nicht im Einzelnen bekannt, wohl aber im Haus präsent und tragen zur ethischen Sensibilisierung bei. Es hat sich gezeigt, dass Ethik für die Mitarbeiter ein großes Thema ist; sie spüren, dass sie Ethik brauchen und halten sich gerne an Grundsätze und Werte.

Den Pflegepersonen ist auch klar, dass das Leitmotiv „Näher am Menschen“ einen hohen ethischen Anspruch darstellt, dem sie gerecht werden wollen. Indirekt sehen sie darin auch eine Strategie zur Schmerzbekämpfung, denn das „Näher am Menschen“ hat direkt mit der Vermittlung von Sinn, Geborgenheit und Sicherheit zu tun.

Das Gewissen als ethische Instanz des Handelns wird von den Pflegepersonen anerkannt und eine Gewissensreflexion als ganz wichtig erachtet. Es zeigt sich aber die verbreitete Auffassung, dass das Gewissen nicht nur urteilende, sondern auch gesetzgebende Instanz sei: Die Notwendigkeit einer Suche nach objektiven Normen, die einzuhalten sind und die Verbindlichkeit der Moralgrundsätze begründen, wird hingegen wenig reflektiert. Ethik wird von den Mitarbeitern vielfach rein subjektiv ohne Rückbezug auf objektive Kriterien definiert. Das ist ein Widerspruch.

Die tugendethische Perspektive wird bei ethischen Problemen nicht wahrgenommen.

Ethische Haltungen und Tugenden

Ethische Haltungen sind den Pflegenden in ihrer Tätigkeit sehr wichtig. Es gelingt ihnen spontan, viele wichtige Haltungen zu identifizieren.

Die in den Interviews und Gruppendiskussionen als positiv und grundlegend bewerteten Haltungen für die Pflegetätigkeit sind im Großen und Ganzen jene, die für die Sinngebung, Geborgenheit und Sicherheit ausschlaggebend sind. Vom Wissen um die Bedeutung dieser Haltungen bis zu ihrer Umsetzung liegt aber noch ein weiter Weg.

Die tugendethische Perspektive ist weniger stark ausgeprägt. Hier werden Prinzipien und Tugenden vermischt. Viele wichtige Tugenden (stabile Haltungen) werden nicht thematisiert, weil sie nicht bewusst sind.

Helfen und Fürsorge

Der Begriff der Hilfe wird von den Pflegepersonen nicht gern verwendet und eher gemieden. Sie wollen Hilfe unbedingt mehr im Sinne von Begleitung und Unterstützung verstanden wissen. Das Bemuttern, Ersetzen, Abnehmen von Tätigkeiten würde in ihren Augen einer professionellen Pflege widersprechen.

Die Pflege wird von den Mitarbeitern von SeneCura generell mehr durch die bewusste personale Interaktion zwischen den Pflegepersonen und den Heimbewohnern definiert. Im Fokus der professionellen Pflege stehen nicht Defizite, die ausgeglichen werden müssen, sondern der Mensch in seiner Gesamtheit.

Maßnahmen zur aktiven Burnout-Prophylaxe sind ein wesentlicher Bestandteil der Mitarbeiterführung. In Bezug auf das Zeitmanagement gibt es sicherlich Verbesserungspotential, vor allem damit nicht aus gutem Willen und der generellen Bereitschaft der Mitarbeiter grundsätzlich vermeidbare Belastungen entstehen.

Gegenseitige Hilfe im Team ist für die Arbeit im Pflegeberuf wesentlich und unverzichtbar, doch ist die Kommunikation innerhalb des Teams nicht immer leicht.

Kommunikation: Bewohner, Angehörige, Team

Die Pflegepersonen messen dem Gespräch höchste Wichtigkeit bei. Sie bedauern, dass der Kommunikation als einem Teil der Pflege von der zuständigen Behörde zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, vor allem wenn es um die Berechnung von Personalschlüssel oder Pflegeaufwand geht.

Zahlreiche Aspekte der guten Kommunikation sind bewusst, eine gezielte Reflexion über Kommunikation könnte die bereits vorhandenen Kompetenzen sicherlich weiter stärken und ausbauen. Es gilt auch hier, dass jeder, auch der beste Kommunikator, sich im Bereich Kommunikation verbessern kann und Training dafür sehr hilfreich ist.

Es wurde deutlich, dass in der Kommunikation zwischen Pflegepersonen und Angehörigen einiges an Konfliktpotential steckt. Dies ergibt sich meist darauf, dass Situationen, wie die Übersiedlung eines nahen Angehörigen ins Pflegeheim, das Beobachten einer Verschlechterung des physischen und/oder psychischen Gesundheitszustandes, die unterschiedliche Art der Pflege im Heim im Vergleich zum Zuhause etc., häufig stark emotional beladen sind. Hier gelingt es nicht immer, die Gespräche auf eine sachliche Ebene zu heben und ohne persönliche Empfindlichkeiten zu reagieren.

Für die Pflegepersonen ist die Kommunikation im Team sehr wichtig und wird auch gelebt. Voraussetzung ist aber ein offenes Gesprächsklima. Situationen, in denen Schwierigkeiten, bedingt durch den gemeinsamen Arbeitsablauf, die Eigenheiten und verschiedenen Persönlichkeiten, der Pflegepersonen nicht direkt angesprochen werden, können zur Belastung werden. Im Zuge der Interventionen wurde dieser Aspekt offener als potentieller Konfliktherd angesprochen.

Kommunikation mit Angehörigen

Für Pflegepersonen sind gezielte Kommunikation und bewusste Gespräche mit den Angehörigen selbstverständlich und funktionieren im Normalfall gut. Dies ist die Basis für ein gutes Einvernehmen zwischen Pflegepersonen und Angehörigen, wodurch Sinngebung, Geborgenheit und Sicherheit in der letzten Lebensphase gewährleistet werden können.

Manchmal gelingt es trotz Bemühen nicht, ein gutes Einvernehmen herzustellen, in diesen Fällen reduziert sich die Kommunikation auf ein Minimum. Diese Fälle werden als besonders Energie raubend geschildert – sowohl bei den unmittelbar betroffenen Pflegekräften als auch beim Team, da ein Problemfall leicht zum permanenten Gesprächsthema wird.

Die Pflegepersonen haben Erwartungen betreffend der Angehörigen-Pflegepersonen-Beziehung: mehr Akzeptanz und Verständnis, Vertrauen sowie Dankbarkeit. Es wurde zwar von einem Miteinander gesprochen, aber welchen Beitrag sie selbst dafür leisten könnten, wurde in den Interviews kaum angesprochen. Die Interventionen zeigten, dass hier beim Pflegepersonal ein Bedarf an Weiterbildung besteht, um die Handlungskompetenz im Umgang mit Krisensituationen zu stärken.

In der Intervention zeigte sich, dass der schnelle Rückgriff auf die Leitungsebene für immer wiederkehrende Probleme keine dauerhafte Lösung ist. Häufig zeigt sich in diesen Krisenfällen, dass es nicht um Informationsmangel o.ä. geht, sondern dass Misstrauen, Vorwürfe usw. Zeichen einer Beziehungsstörung zwischen den Familienmitgliedern selbst sind. Hier gäbe es einen Ansatz für weitere Fortbildung, um die Pflegenden in ihrer Leadership-Funktion zu unterstützen.

Pflegeheim als neues Zuhause

Die Pflegepersonen befinden sich in einem inneren Dilemma. Zum Teil lehnen sie das Familienmodell für das Heim ab, weil sie dabei an ihre eigene Familie denken. Es widerstrebt ihnen, in eine neue Familie „Heim“ involviert zu werden: Es sollen zwei ganz verschiedene und voneinander getrennte Lebensbereiche bleiben. Der Vergleich des Heimes mit der eigenen Familie führt klarerweise zu dieser Ablehnung. Wenn sie jedoch versuchen, sich in die Lage der Bewohner zu versetzen – was sie auch tun –, dann finden sie ein Heimmodell angebracht, das sich an die Familie anlehnt.

Die Unterscheidung „Familie“, „eine Art Familie“, „Zuhause“ und „Daheim“ wird nicht klar gesehen, ist zum Teil widersprüchlich. Für die Sinngebung, Geborgenheit und Sicherheit des Bewohners ist es unabdingbar, dass er sich im neuen Daheim wohl fühlt. Es fehlt diesbezüglich ein klares Leitbild für das Heim.

Die Pfleger zeigen Unsicherheit hinsichtlich ihrer emotionalen Position in Beziehung zu den Bewohnern: Welche Bindung kann ich eingehen? Wie weit soll ich Zuneigung und Liebe zeigen? Sie suchen die richtige Balance zwischen Hingabe und Selbsterhaltung, finden sie aber mitunter nicht.

Schmerzmanagement

Die Mitarbeiter haben eine gute, professionelle Einstellung zur Schmerzbekämpfung. Sie haben das Thema sehr präsent – auch in ihrer persönlichen Weiterbildung.

Die Pflegepersonen sind sehr bemüht, den leidenden Bewohnern Geborgenheit und Sicherheit zu vermitteln. Über den Sinn des Leidens, insbesondere den Sinn des Lebens mit Schmerzen, müsste weiter reflektiert werden.

Sinngebung, Sinnfindung, Sinnvermittlung

Die Pflegepersonen sehen es als ihre Aufgabe, den Bewohnern einen Sinn in dieser Lebensphase zu vermitteln. Dies wird durch Organisation von Aktivitäten, Übertragung von Verantwortung und damit Vermittlung des Gefühls des Gebrauchtwerdens sowie durch Gespräche mit Fokussierung auf Fähigkeiten und Stärken umgesetzt.

Es wird nicht bewusst differenziert zwischen Leiden und dem Leben mit Leiden. Schmerzen zu mindern und zu verhindern ist ein wesentlicher und unverzichtbarer primärer Schritt im Umgang mit Leidenden. Wo die Grenze erreicht ist, dem anderen die Leiden zu erleichtern, gelingt es den Pflegepersonen nur schwer, selbst einen Sinn zu sehen und zu vermitteln. Ansatzweise wird Leid als möglicher Schritt zur Reifung der Person, als Wende zum Wesentlichen hin begriffen.

Den Fragen nach einer tieferen oder transzendenten Dimension des Lebens und des Leidens wird wenig Raum beigemessen.

Sterben im Pflegeheim

Die Pflegepersonen verstehen sich als Begleiter der Bewohner in der letzten Phase ihrer Lebensvollendung. Sie möchten den Bewohnern ein würdevolles Leben bis zum Ende ermöglichen.

Die Pflegepersonen können relativ gut mit den Ängsten, dem Sterben und dem Tod des Bewohners umgehen und diese verarbeiten. Dennoch kann das Sterben eines Bewohners für eine Pflegeperson auch emotional belastend sein.

Problematisch sind vor allem Situationen, in denen Angehörige nicht mit dem Tod des Bewohners zurecht kommen, ihre Verantwortung wie Dasein und Begleiten abschieben, das Leben des Bewohners zwanghaft erhalten wollen und schließlich den Pflegern Vorwürfe machen. Auch die Ängste und das Sterben eines Bewohners können Teil dieses Problemfeldes sein.

Die Pflegenden haben die Bereitschaft, mit den Angehörigen über den Tod zu sprechen. Derartige Gespräche sind niemals leicht. Angehörige im geeigneten Moment und auf die richtige Art darauf anzusprechen ist eine heikle Angelegenheit. Aufgrund verschiedener Faktoren kommt es immer wieder dazu, dass der geeignete Zeitpunkt verpasst wird.

Visionen für die Pflege

Die Frage nach Visionen wurde sehr allgemein beantwortet. Mit dem Status quo sind die Wohnbereichsleiterinnen recht zufrieden, hier haben sie weder Visionen noch Wünsche.

Bei den Gruppendiskussionen wurden vor allem Visionen für die Zusammenarbeit mit den Angehörigen zum Ausdruck gebracht. Sonst wurde die Frage danach negativ beantwortet, d. h. es wurden Schwierigkeiten oder Störfaktoren geschildert: Dokumentation, behördliche Auflagen udgl.

Die Pflegepersonen wünschen sich eine vermehrte Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen.

Die Vision eines schmerzfreien Pflegeheims wurde weder in den Interviews noch in den Diskussionen zur Sprache gebracht. Sie ist offenbar noch wenig bewusst.

Zeitmanagement

In allen Interviews und Gruppendiskussionen werden Zeitmangel, Zeitdruck und Stress genannt, die als große Belastung empfunden werden.

Dennoch ist allen klar, dass die Zeitwidmung für die Bewohner und für die Angehörigen ganz wichtig, prioritär ist. Diese Zeitinvestition wird auch als letztlich zeitsparend angesehen. Ohne Zugang zu den Bewohnern und ohne ihre Motivation dauert alles länger. Wenn es zeitlich eng wird, müssen Lösungen gefunden werden. Die Achtung der Selbstbestimmung erfordert Flexibilität im Zeitplan.


Die Anregungen zu den einzelnen Themenbereichen werden in Kapitel 20 „Vorschläge zur Stärkung der ethischen Kompetenz“ ausgeführt.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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