Editorial

Susanne Kummer

Die Zahlen sind alarmierend: Nach Schätzungen der WHO leiden weltweit ca. 450 Millionen Menschen unter psychischen Erkrankungen. Für Westeuropa errechneten Experten, dass jeder vierte Erwachsene in seinem Leben an einer psychischen Störung erkrankt. In Österreich leidet jeder Fünfte einmal in seinem Leben an einer Depression und jeder Sechste an einer Angststörung. Die Gesamtsumme der Krankenstände in Österreich sinkt zwar laufend, die Zahl der Krankenstandstage von Erkrankungen aufgrund psychischer Störungen hat sich in den vergangenen 20 Jahren beinahe verdreifacht. Jährlich entstehen dadurch messbare gesamtwirtschaftliche Kosten in der Höhe von 3,3 Milliarden Euro. Mit durchschnittlich 33 Fehltagen führen psychische Erkrankungen mit Abstand zu den längsten krankheitsbedingten Fehlzeiten am Arbeitsplatz.

Nun ist im Zuge der Analyse dieses hohen Anstiegs eine Debatte in Gang gekommen, die deutlich macht, dass man keiner Seite alleinhin den „Schwarzen Peter“ zuschieben darf. Die einen erklären vor allem wirtschaftliche und soziologische Gründe zu den Motoren dieser Entwicklung: Mehr psychisch Kranke gibt es, weil die Gesellschaft, insbesondere die Arbeitswelt, der Leistungsdruck, die Beschleunigung krank machen. Andererseits gab es noch nie soviel Freizeit wie jetzt. Oder spielt die Auflösung der Familien, die damit auch als Faktor der Resilienz wegfällt, eine Rolle? Wenn nun aber der psychisch Erkrankte nur als Opfer seiner Umstände gesehen wird: Wie steht es dann überhaupt um den Spielraum jedes einzelnen, gegen eine potentielle Lebensengführung, die durch überzogene Leistungsansprüche entsteht, etwas zu übernehmen? Oder halten in der Konsumgesellschaft groß gewordene Menschen einfach dem Druck weniger Stand, weil sie weniger belastbar sind?

In jüngster Zeit heizte noch ein dritter Aspekt die Debatte an: Steigt die Zahl der Erkrankten womöglich  deshalb, weil seelische Probleme und Sinnkrisen in medizinisch behandelbare Krankheiten umdefiniert und medikalisiert werden? Diese Kontroverse spitzte sich rund um die Neuauflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, kurz DSM-5, im Jahr 2013 zu. Das neue 1000-Seiten-Nachschlagewerk für Psychiater zur Klassifizierung psychischer Erkrankungen beeinflusst auch maßgeblich den Diagnoseschlüssel der WHO, den ICD-10, der auch für Ärzte und Psychologen in Österreich und Deutschland gilt – und nach dem bestimmt wird, für welche Krankheiten die Krankenkassen eine Therapie zahlen. Während die Zahl der schweren psychischen Erkrankungen seit Jahrzehnten stabil bleibt, wächst die Zahl der leichten: Der amerikanische Psychiater Allen Frances von der Duke University, der als einer der schärfsten Kritiker des DSM-5 gilt, fuhr scharfe Geschütze auf: Statt sichere Kriterien für den klinischen Alltag zu geben, würden „neue Erkrankungen“ eingeführt, die eine „Traumliste für Forscher“ seien und „ein Albtraum für die Patienten“. Frances kritisiert im New Scientist (2013) unter anderem eine zunehmende Uminterpretation normaler menschlicher Gefühle zu schweren psychischen Erkrankungen – etwa Trauer beim Verlust eines geliebten Menschen. Dass psychische Erkrankungen, die schambehafteter sind als Diagnosen wie Krebs oder Diabetes zunehmende Aufmerksamkeit durch Politik und Öffentlichkeit erfahren, ist durchaus positiv zu bewerten. Das sollte jedoch nicht dazu führen, dass jedes seelische oder soziale Leid zur psychischen Krankheit erklärt und damit sozusagen aus der Welt eliminiert wird. Dies entspricht einer Tendenz in unserer Gesellschaft, Leidvolles und Nicht-Effizientes aus dem Blick und Leben zu verbannen.

Wie sehr inzwischen vielen im Arbeits- und Gesundheitswesen Beteiligten klar geworden ist, dass das Thema Mental Health einen interdisziplinären Ansatz zur adäquaten Analysen und möglichen Lösungsansätzen braucht, zeigt die hohe Resonanz zu unserer Tagung: „Mental Health und Arbeitswelt. Arbeit zwischen Stress und Lebenssinn“, die am 8. November 2013 in Wien stattfand und deren Themen nun im vorliegenden Band von Imago Hominis dokumentiert sind. Namhafte Experten aus Deutschland und Österreich legen im Rahmen des von IMABE in Kooperation mit der Pensionsversicherungsanstalt, der Österreichischen Ärztekammer, der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt und dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger veranstalteten Symposiums Fakten, Hintergründe und Auswege zum Spannungsfeld Arbeit, Lebenssinn und seelische Erkrankungen dar.

Rudolf Müller (Chefarzt, PV) legt Zahlen, Daten und Fakten zur psychischen Gesundheit österreichischer Arbeitnehmer dar. Immer mehr Menschen treten wegen psychischer Leiden krankheitsbedingt eine Frühpension an: Im Jahr 2012 erfolgten 35,1% aller Neuzugänge der Berufsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen. Frauen im Angestelltenverhältnis seien dabei am meisten betroffen, der Großteil kam aus der Altersgruppe der 45 bis 54-Jährigen. Seit 2002 versucht die PV gezielte Reha-Programme für psychisch Kranke umzusetzen, wodurch eine geringe Trendumkehr und Reintegration in die Arbeitswelt gelungen ist.

Arbeitgeber, die weiterhin nur Effizienz in Monokultur von ihren Mitarbeitern fordern, sind offenbar noch nicht im neuen Wirtschaftsleben angekommen, legt Klaus Dörner (Psychiater, Soziologe, Hamburg) anhand von 10 Thesen dar. Das Grundgesetz der Industrie-Epoche war die permanente Beschleunigung, Effizienz wurde als permanente Leistungssteigerung definiert. Dass dies irgendwann die Grenzen, auch der psychischen Gesundheit, überschreiten musste, liege auf der Hand. Den Umbruch der Industrieepoche hin zu einer Dienstleistungsepoche sieht Dörner als eine historische Chance für eine Humanisierung der Arbeitswelt. Diese müsse begleitet werden von einer Rückbesinnung der Psychiatrie als philosophisch-anthropologischer Disziplin, die sich nicht nur rein medizinisch-naturwissenschaftlich definiert.

Dass das innere Bedürfnis des Menschen nach Lebenssinn keinesfalls durch Effizienz und das Funktionieren in der Arbeit abgedeckt ist, betont Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Religionsphilosophie, Vorständin des Europäischen Instituts für Philosophie und Religion EUPHRat, Heiligenkreuz) in ihrem Beitrag. Sie zeigt anhand von Deutungsmustern von der Antike über das jüdisch-christliche Erbe bis in die Moderne auf, wie das notwendige Zusammenspiel in der Spannung zwischen Tun und Lassen, Mühe und Gabe, Zweck und Sinn interpretiert wurde – und wie es gelingen kann.

Arbeitgeber werden zwar verstärkt in die gesetzliche Pflicht zur Prävention von Work-Related-Stress genommen. Vorschriften bleiben aber zahnlose Instrumente, wenn nicht zugleich die Überzeugung im Unternehmen wächst, dass eine neue Kultur der Arbeit die positive Entwicklung der eigenen Mitarbeiter miteinschließt. Auf dieser Basis legt Markus Schwarz (Unternehmensberater, Wien) Eckpunkte einer erfolgreichen betrieblichen Vorsorge- und Gesundheitsförderung dar („salutogene betrieblichen Gesundheitsförderung“) und beschreibt neben den wesentlichen Erfolgsfaktoren auch die Barrieren für diese innerbetrieblichen Programme.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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