Stellungnahme: „Klares Nein zu ärztlicher Beihilfe zur Selbsttötung - für eine Kultur des Beistands“

Imago Hominis (2014); 21(4): 242-244
IMABE

Es geht in der Debatte um „aktive Sterbehilfe“ nicht um die Frage von Einzelfällen, sondern um die Frage, wie wir als Gesellschaft in Zukunft leben wollen. Wenn wir als Gesellschaft menschenwürdig, solidarisch und mit Respekt vor einer richtig verstandenen Autonomie leben wollen, dann muss der Schutz von vulnerablen Personen vor Tötung oder Beihilfe zur Selbsttötung ein Fundament der Rechtsordnung bleiben.

1. Wo Beihilfe zum Suizid legalisiert wird, steigt die Zahl der Fälle.

Einige europäische Länder wie Belgien, die Niederlande und die Schweiz, haben bereits vor Augen geführt, wo die Reise gesellschaftspolitisch endet: In der Schweiz ist die Zahl der Menschen, die über Organisationen wie Exit oder Dignitas Beihilfe zum Suizid in Anspruch nehmen, in 10 Jahren bis 2012 auf 680 Personen gestiegen. Inzwischen gibt es dort auch das Angebot eines „Altersfreitods“ für lebensmüde Pensionisten, die aber an keiner lebensbedrohlichen Krankheit leiden. Der Sterbehilfe-Verein Exit will sich nun gezielt um diese wachsende Klientel kümmern.

In den Niederlanden wird die sog. Hilfe zur Selbsttötung meist von Hausärzten ausgeführt. Die Zahl der offiziell gemeldeten assistierten Suizide und Fälle von „Tötung auf Verlangen“ ist gegenüber 2012 um 15 Prozent auf knapp 5.000 Fälle gestiegen (exakt 4.829). Das sind 13 Todesfälle pro Tag.

Der 3,9 Millionen Einwohner zählende US-Bundesstaat Oregon wird in Europa medial als Vorzeigeland für einen bestmöglich geregelten Suizid hingestellt. Die aktuellen Entwicklungen zeigen jedoch, dass es fatal wäre, Selbstmord zu einem logischen Akt der Selbstbestimmung umzudefinieren. Laut dem aktuellen Report zu Death with Dignity Act (Gesetz für ein Sterben in Würde) ist die Zahl der Patienten, die sich seit 1998 mit ärztlicher Unterstützung das Leben nahmen, in 15 Jahren um 430 (!) Prozent gestiegen (von 16 auf 75).

2. Aus dem Recht auf den „begleiteten Selbstmord“ wird eine Pflicht zum „sozialverträglichen Frühableben“.

Im US-Bundesstaat Oregon gaben die Suizidwilligen 2013 als Hauptgründe für ihren Entschluss an: Angst vor einem „Verlust von Autonomie“ und damit Sorge, Last für andere zu werden (93 Prozent); „weniger in der Lage zu sein, an Aktivitäten teilzuhaben, die dem Leben Freude geben“ (89 Prozent); Furcht vor einem „Verlust an Würde“ (73 Prozent).

Ein Suizidgefährdeter will gar nicht dem Leben, sondern vielmehr dem Leiden entrinnen. Er oder sie will nicht nicht leben, sondern anders leben. Studien zeigen, dass das Hauptmotiv für den Todeswunsch nicht körperlicher Schmerz ist, sondern psychische Belastungen wie Depression, Hoffnungslosigkeit und Angst. Die Antwort auf Depressionen und Hoffnungslosigkeit kann aber nicht Tötung sein, sondern ruft nach medizinischer Hilfe, Beratung und Beistand.

Ist das Tabu der Tötung auf Verlangen einmal gebrochen, ist der Schritt zu einer gesellschaftlichen Normalität, die schließlich in eine soziale Pflicht mutiert, nicht weit. Kranke, schwache oder vulnerable Menschen fühlen sich in unserer dominierenden Leistungsgesellschaft ohnehin schon häufig als „Last“ für die anderen. Der Gedanke, dass sie das alles ja ihrer Umgebung jederzeit ersparen könnten, schwingt stillschweigend mit oder wird anhand ökonomischer Kosten-Nutzen-Rechnungen illustriert. Der Pflegebedürftige gerät unter einen Rechtfertigungsdruck, aber auch ein Gesundheitssystem, das sich Therapie oder Pflege noch leistet.

Was das in der Praxis bedeutet, zeigt der Fall von zwei Krebspatienten in Oregon. Sie verfügten nur über die staatliche Armen-Krankenversicherung Medicaid: Per amtlichem Schreiben wurde ihnen die zu teure Chemotherapie verweigert, während man ihnen gleichzeitig anbot, als Alternative den assistierten Suizid zu bezahlen. Beide wollten aber leben und behandelt werden. Erst als der Fall von Randy Stroup im Februar 2009 an die Öffentlichkeit kam, wurde ihm eine Chemotherapie zugestanden. Aus dem Recht auf den „begleiteten Selbstmord“ wird so eine Pflicht zum „sozialverträglichen Frühableben“.

3. Die Aufgabe des Gesetzes liegt im Schutz vulnerabler Personen. Eine Freigabe der Beihilfe zum Suizid fördert paradoxerweise Grauzonen.

In Österreich ist sowohl die Mithilfe am Selbstmord (§ 78 StGB) als auch Tötung auf Verlangen (§ 77 StGB) gesetzlich verboten. Der Gesetzgeber hat immer schon vorgesehen, dass im Falle von Rechtsbruch in extremen Einzelfällen Milderungsgründe angeführt werden können. Klar aber ist: Niemand von uns kann erleichtert sein, dass ein Mensch durch einen anderen Menschen getötet wird.

Wer meint, es müsse jeder Generation demokratiepolitisch selbst überlassen werden, ob sie Tötung auf Verlangen erlaube oder nicht, argumentiert gefährlich. Der Schutz des Lebens ist ein vorpolitisches Recht. Es steht also über der Demokratie, deshalb kann man darüber auch nicht abstimmen.

Politiker müssen sich auch der gesellschaftlichen Signalwirkung bewusst werden, die eine Aufhebung des Tötungsverbots mit sich bringen würde. Gesetze haben eine Schutzfunktion. Denken wir an das Verbot der Abgabe von Alkohol an unter 16-Jährige, an die Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen auf 130 km/h. Wohl kaum jemand würde hier ernsthaft argumentieren, dass diese Gesetze das Recht auf Selbstbestimmung einschränken und deshalb gelockert werden müssen.

Wer die Zulassung von Tötung unter bestimmten Bedingungen einführt, öffnet damit das Tor für weitere, nicht mehr kontrollierbare Entwicklungen: Auf die Zulassung des assistierten Suizids folgt die Zulassung der Tötung auf Verlangen und damit de facto die Tötung auch ohne ausdrückliches Verlangen der Patienten – diese Erfahrung in Ländern, in denen der assistierte Suizid legalisiert wurde, muss Österreich eine Warnung sein! Statt Transparenz sind neue Grauzonen und Dunkelziffern entstanden. So ist in den Niederlanden die Hemmschwelle zu töten gesunken. Hier nehmen Ärzte Patiententötungen vor, auch ohne dass diese dezidiert darum gebeten hatten. Sie rechtfertigen dies mit einem zu hohen Leidensdruck für die Angehörigen, auch gesundheitsökonomische Interessen spielen neben Mitleid eine immer größere Rolle. 23 Prozent der bewilligungspflichtigen Sterbehilfe-Fälle wurden von den Ärzten nicht gemeldet (vgl. Langzeitstudie 1990 – 2010 zur Situation in den Niederlanden, The Lancet 2012; 380: 908-915).

4. Suizid ist keine Privatsache: Wider die Heroisierung der Selbsttötung.

In den allermeisten Fällen ist der Todeswunsch eines Patienten Ausdruck und Symptom einer schweren psychischen Krise. Depression im Alter wird oft übersehen, vor allem in Altersheimen. Die Überhöhung der Autonomie und die Heroisierung des selbstbestimmten Todes übersieht die existentiell soziale Dimension des Menschen: seine fundamentale Angewiesenheit auf andere, sein Eingebundensein in Gemeinschaft. Suizid ist nicht bloß Privatsache. Kein Mensch wird für sich allein geboren, kein Mensch lebt für sich allein – und kein Mensch stirbt für sich allein.

Es ist die moralische Bankrotterklärung einer Kultur, die ihre Kompetenz im Umgang mit Leidenden verloren hat und im Rückzugsgefecht die legale Tötung als Befreiung feiert. Selbst jener, die besonders vulnerabel und schutzbedürftig sind. Das Angebot des assistierten Selbstmords wäre der menschenverachtendste Ausweg, den die Gesellschaft sich ausdenken kann, um sich der Solidarität mit den Schwächsten zu entziehen.

5. Ein klarer Auftrag: Palliative Care, Hospiz und Kultur des Beistands. Ärzte haben keinen Auftrag als Tötungsgehilfen.

Niemals kann es Aufgabe des Arztes sein, den Tod als professionelle Dienstleistung anzubieten oder an „qualitätsgesicherten, klinisch sauberen Suiziden“ (Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Deutschen Bundesärztekammer) mitzuwirken. Aus dem Recht auf Selbstbestimmung darf kein Recht auf Selbsttötung abgeleitet werden und schon gar nicht das Recht bzw. die Pflicht des Arztes zur Tötung seiner Patienten.

Was wir brauchen, ist eine neue Kultur des Sterbens und der Leidensbewältigung und des Beistands. Diese Kultur kann nicht darin bestehen, den Tod als professionelle Dienstleistung einzufordern. Hier schlägt die Sterbekultur in eine Kultur des Todes um. Dass die Debatte um die Legalisierung des assistierten Suizids ausgerechnet dann geführt wird, wenn Österreich nach Ansicht von Experten noch nicht einmal seine Hausaufgaben in Sachen Palliativversorgung und Hospiz erfüllt hat, sorgt zu Recht für Kritik.

Menschliche Medizin zeigt sich in der professionellen Kompetenz, Therapien zurückzufahren, wo keine Aussicht auf Heilung besteht, Therapieziele zum Wohle des Patienten ändern zu können, Maßnahmen zur Schmerzlinderung zu verbessern sowie Ressourcen in der Kommunikation und Empathie in der Begleitung und Behandlung Schwerkranker zu stärken. Hier schließt sich auch eine Forderung nach dem Ausbau der Weiterbildung für Ärzte und Pfleger – möglichst schon in ihrer Ausbildung.

Unsere Kultur lebt davon, dass wir auch an den Grenzen des Lebens zueinanderstehen. Die Politik ist gefordert, sich klar gegen eine Tötungslogik und zu einer Kultur des Beistands zu bekennen.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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