Pflegende und Angehörige: von der Abwehr zur Kooperation

Imago Hominis (2015); 22(1): 21-30
Irmgard Hofmann

Zusammenfassung

Angehörige werden von Pflegenden oft als zusätzlich belastend und anstrengend erlebt. Gleichzeitig sind sie die wichtigsten Bezugspersonen für die kranken bzw. pflegebedürftigen Menschen. Zwar sind sie selbst nicht krank, aber durch die Nähe zum Angehörigen doch auf jeden Fall betroffen.
Professioneller Umgang mit Angehörigen gehört zu den pflegerischen Aufgaben. Dennoch wird selten eine bewusst gestaltete Kooperation und Einbindung angestrebt. Gegenüber engagierten Angehörigen überwiegt manchmal sogar die Abwehr.
Dieser Beitrag möchte anregen, die Unterstützung von und die Zusammenarbeit mit Angehörigen zu überdenken. Wissend, dass auch Angehörige von akut erkrankten Menschen dringend der Unterstützung bedürfen, liegt der Schwerpunkt auf der Kooperation mit Angehörigen von chronisch kranken bzw. pflegebedürftigen Menschen.

Schlüsselwörter: Angehörige, Kooperation, Copingstrategien, Transaktionales Stressmodell

Abstract

Caretakers frequently complain about the attitudes of relatives, which can add to the stress of their job. On the other hand, relatives are among the patient’s most important key persons. Without being sick themselves, they are deeply involved in the fate of the patient. Dealing with relatives is part of caretaking. It is often based on personal engagement but without structured cooperation. Overzealous relatives pose an additional problem provoking defence among caretakers. While recognizing the needs of relatives, this article is aimed at supporting a revival of the idea of cooperation between them and caretakers – for the benefit of patients.

Keywords: relatives, cooperation, coping strategies, transactional model of stress


An Stelle einer Einleitung

In dem Roman „Ungeduld des Herzens“ lässt Stefan Zweig den Mediziner Dr. Condor zu Wort kommen. Er spricht insbesondere über Herrn von Kekesfalva, den Vater der gelähmten Edith.1

„Wissen Sie, das Schwere bei meinem Beruf sind gar nicht die Kranken; mit denen lernt man schließlich richtig umzugehen, man kriegt eine Technik heraus. Und schließlich – wenn Patienten klagen und fragen und drängen, so gehört das einfach zu ihrem Zustand wie Fieber oder Kopfschmerzen. Wir rechnen von vorneherein mit ihrer Ungeduld, wir sind darauf eingestellt und gerüstet, und jeder hat dafür gewisse beruhigende Phrasen und Unwahrheiten genauso bereit wie seine Schlafmittel und schmerzstillende Tropfen.

Aber niemand macht unsereinem das Leben so sauer wie die Anverwandten, die Zugehörigen, die sich unberufenerweise zwischen den Arzt und den Patienten schieben und immer die ´Wahrheit` wissen wollen. Alle tun sie, als ob momentan nur dieser eine Mensch krank wäre auf Erden und man einzig für ihn sich sorgen müsste, für ihn allein. Ich nehme Kekesfalva sein Gefrage wirklich nicht übel, aber wissen Sie, wenn Ungeduld chronisch wird, lässt einen manchmal die Geduld im Stich. Zehnmal habe ich ihm erklärt, ich hätte jetzt einen schweren Fall in der Stadt, wo es auf Tod und Leben geht. Und obwohl er`s weiß, telephoniert er doch Tag für Tag und drängt und drängt und will mit Gewalt sich eine Hoffnung erzwingen.“2

Wie sehen Pflegende die Angehörigen?

Wie Pflegende3 die Angehörigen von Patientinnen und Bewohnern4 wahrnehmen, ist sicher nicht auf einen Nenner zu bringen, und die Forschungslage ist eher spärlich. Els etwa schreibt: „Es ist eine unausgesprochene Wahrheit, dass sie [die Angehörigen Anm. IH] bei dem Pflegepersonal und den Ärzten als anstrengend, störend, fordernd und besserwisserisch gelten. Bestenfalls sind sie für einfache Hilfestellungen, z.B. beim Essen anreichen, erwünscht. Nicht selten ist die Begegnung von Pflegepersonal und Angehörigen durch Anspannung, Unsicherheit und Sprachlosigkeit gekennzeichnet.“5 Gödecke, die Interviews mit Pflegenden durchführte, die in der Heimbeatmung tätig sind, kommt zu dem Schluss: „Die Beziehung zu den Angehörigen ist der schwierigste Punkt in der Heimbeatmungsversorgung.“6

Ähnliche Aussagen kommen von Auszubildenden in der Pflege, die den Umgang mit Angehörigen oft als besonders schwierig erleben. „Mit dem Bewohner habe ich gar keine Probleme, aber sobald die Frau da ist, … dauernd beklagt sie sich darüber, was wir alles falsch machen.“7 Eher selten werden die Angehörigen als hilfreich wahrgenommen, weil sie z. B. dazu beitragen können, die Situation der aktuell pflegebedürftigen Person besser zu verstehen oder die pflegebedürftigen Personen in Gegenwart ihrer Angehörigen oft ruhiger und besser ansprechbar sind. Geisler ironisiert den „idealen“ (aber seltenen) Angehörigen: „Der (scheinbar)  ideale Angehörige … passt sich den persönlichen, arbeitsspezifischen Bedürfnissen des Personals an, respektiert deren Autonomie und unterwirft sich allen Anordnungen und Maßnahmen. Er verzichtet auf störende Eigenarten und Anliegen, zeigt Vertrauen und Dankbarkeit, antwortet rückhaltlos und umfassend, wenn er gefragt wird, sagt selbst aber nichts, wenn er nicht gefragt wird. Und ist mit dem Maß an Kommunikation zufrieden, das ihm zugebilligt wird“.8

Angesichts der Tatsache, dass die Pflegenden in der Regel selbst ebenfalls aus Familien stammen, also Angehörige sind, mutet die häufig zu erlebende Abwehr besonders gegenüber nicht angepassten, oft sogar als „schwierig“ bezeichneten Angehörigen ziemlich seltsam an. Doch soll zunächst geklärt werden, ob die Begleitung und Unterstützung von Angehörigen überhaupt zum pflegerischen Auftrag zählt.

Gehört die Kooperation mit Angehörigen zum pflegerischen Aufgabenbereich?

In der Pflegepraxis gibt es dazu unterschiedliche Meinungen. Zur Klärung hilft ein Blick in Berufsgesetze sowie in weitere wichtige Schriften der Pflegeberufe.9

Im deutschen „Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege“ (Krankenpflegegesetz, KrPflG) steht im Ausbildungsziel 1c): „Beratung, Anleitung und Unterstützung von zu pflegenden Menschen und ihrer Bezugspersonen in der individuellen Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit.“10

Im österreichischen „Gesundheits- und Krankenpflegegesetz“ (GuKG) bezieht sich die Begleitung Angehöriger auf den Entlassungszeitpunkt sowie die Anschlussbetreuung: „Vorbereitung der Patienten oder pflegebedürftigen Menschen und ihrer Angehörigen auf die Entlassung aus einer Krankenanstalt oder Einrichtung, die der Betreuung pflegebedürftiger Menschen dient, und Hilfestellung bei der Weiterbetreuung.“11

Im deutschen Gesetz über die Berufe in der Altenpflege (Altenpflegegesetz – AltPflG) ist bei den Ausbildungszielen vermerkt: „… und die Beratung pflegender Angehöriger“.12 In Österreich gibt es kein vergleichbares Pendant zur Altenpflegeausbildung in Deutschland.

In der Rahmenberufsordnung des Deutschen Pflegerates (DPR) e. V. findet sich unter den Berufspflichten der Satz: „Professionell Pflegende sind gegenüber den Leistungsempfängern sowie deren Bezugspersonen zur Beratung verpflichtet.“13

Das „Berufsbild des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege“ des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes von 2004 bindet die Angehörigen bei der Pflegeplanung ein und sieht sie als Unterstützerinnen für die Erhaltung der Gesundheit.14

Der „Ethikkodex für Pflegende“ des International Council of Nursing (ICN) verweist darauf, dass die Pflegenden ein Umfeld fördern, in dem u. a. die „Familie sowie die soziale Gemeinschaft“ respektiert werden.15

Die „Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen“ formuliert in Art. 4 ausdrücklich: „Ihre Angehörigen und sonstige Vertrauenspersonen … sollen – wenn und soweit Sie dies wünschen – in Ihre Pflege, Betreuung und Behandlung einbezogen und über Maßnahmen und Veränderungen informiert werden, die Ihre Pflege und Gesundheit betreffen.“16

Die Beratung und Unterstützung von Angehörigen ist somit Teil professioneller Pflegetätigkeit – wird aber, sofern man den obigen Aussagen Glauben schenkt, von manchen Pflegenden nicht so gerne angenommen. Möglicherweise verlieren Pflegende in ihrer beruflichen Konzentration auf pflegerische Abläufe bezogen auf Patient oder Bewohnerin etwas den Blick für die zentrale Bedeutung von Angehörigen für einen kranken bzw. pflegebedürftigen Menschen. Daher soll an dieser Stelle das „Familiensystem“ näher ausgeführt werden.

Die Familien-Angehörigen, Kernfeld des pflegebedürftigen Menschen

Familienmitglieder (Partner, Eltern, Kinder, Geschwister)17 sind grundsätzlich für die meisten Menschen die wichtigsten Bezugspersonen. Das gilt ganz besonders im Krisenfall. Selbst wenn die Familienbande wegen räumlicher Distanz, differenzierter Lebenswege und auch auf Grund von Konflikten teilweise sehr lose gespannt sind, rückt die Familie im Falle von Krankheit (zumindest zunächst) sehr schnell enger zusammen.

In den 1950er Jahren entwickelte Ludwig von Bertalanffy den Begriff der Systemtheorie.18 Er beschreibt gewisse Gesetzmäßigkeiten, wie nach innen organisierte Einheiten (z. B. eine Familie) einerseits eine Grenze nach außen bilden und andererseits als „offene Systeme“ mit der Umwelt kommunizieren. Auf dieser Basis wurde im Laufe der Jahre die Familiensystemtheorie entwickelt. Einige Kernaspekte der Familiensystemtheorie können helfen, die Besonderheiten im familiären Zusammenhang besser zu verstehen.

„Ganzheitlichkeit“. Die Familie ist eine „Einheit, in der die einzelnen Mitglieder durch Interaktion und Kommunikation miteinander vernetzt sind.“19 Das bedeutet z. B., dass die Familienmitglieder untereinander eine eigene Familiensprache verwenden, die für Außenstehende oft nur begrenzt zu deuten ist, weil sie Wissen um interne Sprachspiele voraussetzt. „Familienbeziehungen gehören einer Sphäre an, in der die sonst üblichen Regeln des Urteils und des Handelns außer Kraft gesetzt sind. Sie sind ein Labyrinth von Spannungen, Streitereien und Versöhnungen, deren Logik widerspruchsvoll ist und deren Wertmaßstäbe und Kriterien oft so verborgen sind wie der gekrümmte Raum eines in sich geschlossenen Universums. “20

Zum System Familie gehören auch „Zielorientierung“ und „Regelhaftigkeit“. „Familien richten ihr gemeinschaftliches Leben nach mehr oder minder expliziten Zielen aus, die dem Zusammenleben in der Familie Sinn und Kontinuität geben sollen.“21 Jede Familie hat entsprechend ihre eigenen „Gesetze“ (Verhaltensmuster), nach denen sie ihr Zusammenleben organisiert. Diese „Gesetze“ werden über die Generationen weitergegeben, modifiziert oder bekämpft, aber sie gehören zum internen Familienschatz, mit dem sich die Mitglieder weitgehend identifizieren.

Und nicht zuletzt spielen „Rückkoppelung“22 sowie der Wunsch nach Homöostase (im Sinne eines stabilen Gleichgewichts) eine große Rolle. Verändert sich im Rahmen eines zunächst stabilen Familiensystems Verhalten und Erleben eines Familienmitgliedes, wirkt sich das – in unterschiedlichen Abstufungen – auf das System Familie aus (Rückkoppelung). Je zentraler die Rolle des Familienmitgliedes, bei dem sich etwas verändert, desto heftiger sind die Auswirkungen auf alle anderen Familienmitglieder. Das Familiensystem strebt nun danach, so schnell wie möglich eine neue Stabilität, ein neues Gleichgewicht (Homöostase) herzustellen. Dazu werden – z. B. bei akuter schwerer Erkrankung eines Familienmitgliedes – alle Kräfte mobilisiert. Die Familie schart sich um die erkrankte Person und organisiert vielfach den Alltag um, damit für die erkrankte Person und deren Betreuung Ressourcen frei werden.

Die Familie ist aber nicht nur ein nach innen organisiertes Konstrukt, sondern sie ist gleichzeitig ein offenes System, d. h. sie kommuniziert und interagiert mit ihrer kleineren und größeren Umwelt. Dazu gehören weitere Verwandte, Freunde und Nachbarn, der Arbeitsplatz, der Austausch mit Gleichgesinnten über kulturelle, religiöse, sportliche oder gesellschaftliche Aspekte. Entsprechend fällt der Familie die Aufgabe zu, Veränderungen im Innenverhältnis (z. B. Erkrankung eines Familienmitgliedes) nach außen zu kommunizieren und Kontaktmöglichkeiten zu organisieren.

Die Familie leistet also im Krankheitsfall eines ihrer Mitglieder – trotz eigener hoher emotionaler Belastung – organisatorische und kommunikative Schwerstarbeit. Das gilt zunächst besonders im Falle akuter schwerer Erkrankung eines Mitgliedes: Die Homöostase ist gestört, Unsicherheit, Angst, Hilflosigkeit, Wut usw. – all diese Gefühle müssen kanalisiert und kontrolliert werden, um die notwendige Unterstützung für das erkrankte Familienmitglied aufrechterhalten zu können. Nach Heilung des Mitglieds regeneriert sich das Familiensystem allmählich wieder und kehrt zum Alltagsgeschehen zurück.

Geht die akute Erkrankung dagegen in einen chronischen Verlauf über, dann bedarf es vielfach einer Neustrukturierung des Familiensystems, das das bisherige Gleichgewicht zunächst weitgehend aufhebt. Je nachdem, welches Familienmitglied betroffen ist, muss möglicherweise die komplette bisherige Aufgabenverteilung neu organisiert werden. Das löst hohe Unsicherheit aus und führt nicht selten zu Überforderungssymptomen. Bis ein neues Gleichgewicht unter den veränderten Rahmenbedingungen entwickelt werden kann, ist das ganze Familiensystem in „Unordnung“ und nicht selten bis an die Grenzen gefordert. Entsprechend hoch ist der Stresslevel bei den am nächsten betroffenen Angehörigen.

Stressmodell nach Richard Lazarus

Nach Lazarus23 sind Stresssituationen komplexe Wechselwirkungsprozesse zwischen den Anforderungen der Situation einerseits und der handelnden Person und ihren Ressourcen andererseits. Je nachdem, wie die Person mit einer Stresssituation umgeht, hat dies entsprechende Auswirkungen auf deren Wohlbefinden. Das heißt, Menschen sind den Stressfaktoren nicht einfach ausgeliefert, sondern es gibt Möglichkeiten, mit Hilfe sog. Copingstrategien (Bewältigungsstrategien) Stress bis zu einem gewissen Grad zu kontrollieren und zu bewältigen. Können keine Bewältigungsstrategien eingesetzt werden oder sind sie nur unzureichend entwickelt, überfordert der Stress die betreffende Person bis hin zu psychischer Erkrankung.

Lazarus unterscheidet zunächst drei Bewertungsstufen. Bei der Primärbewertung entscheidet die betroffene Person zwischen „uninteressant, unwichtig“, „positiv, stimulierend“ und „negativ, gefährlich, ängstigend, verunsichernd, bedrohlich etc.“ Unwichtiges wird sofort gelöscht, die positive Bewertung setzt Energien frei. Der eigentliche Stress ist die negative Bewertung und diese führt zur Sekundärbewertung. An dieser Stelle klärt die Person für sich, ob sie ausreichende Ressourcen hat, um die Situation gut zu bewältigen oder nicht. Zu diesen Ressourcen zählen eigene Möglichkeiten ebenso wie mögliche Unterstützung von außen. Je nachdem, wie die eigenen und unterstützenden Ressourcen eingeschätzt werden, wird der Stress in einer Neubewertung als kontrollierbar oder nicht kontrollierbar eingestuft, mit den jeweiligen entsprechenden Folgewirkungen.

Pflegende stärken Copingstrategien

Für professionell arbeitende Pflegefachkräfte sollte es eigentlich keine Frage sein, dass sie Angehörigen eines kranken bzw. pflegebedürftigen Menschen Beistand zur Stressbewältigung leisten. Je besser die Angehörigen unterstützt werden, desto mehr sind sie auch in der Lage, ihre Ressourcen im Interesse der Patientin oder des Bewohners einzubringen.

Entsprechend dem Modell von Lazarus können Pflegende auf zweierlei Weise hilfreich und stressreduzierend agieren: Zunächst, indem sie in der akuten Situation einer plötzlichen, nicht vorhergesehenen Erkrankung das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen vermitteln. Das wird am ehesten erreicht, wenn Pflegende zuverlässig und kompetent ihre Arbeit machen, und sich zugleich als vertrauenswürdige Ansprechpartnerinnen zur Verfügung stellen. Sie begegnen den Angehörigen offen und zugewandt und versuchen so weit wie möglich, deren Fragen geduldig zu beantworten. Mehr ist in der akuten Situation meist nicht möglich, weil die Familie in der Regel noch völlig damit beschäftigt ist, das Geschehen überhaupt erst zu erfassen, geschweige denn zu begreifen.

Im Laufe der Zeit, wenn offenkundig wird, dass nicht Heilung, sondern der Übergang in einen chronischen Krankheitsverlauf oder in die Pflegebedürftigkeit ansteht, können Pflegende sehr viel dazu beitragen, um Angehörige bei der Entwicklung und Stärkung ihrer Copingstrategien zu unterstützen.

Dies geschieht zunächst durch Ermutigung zum problemorientierten Coping, das bei chronischen Verläufen oft als besonders hilfreich erlebt wird. Konkret heißt das: Pflegende binden Angehörige soweit wie möglich in alle pflegerischen Tätigkeiten und Techniken ein, die diese mit übernehmen wollen bzw. können und stärken somit deren Handlungskompetenzen. Dazu gehört z. B. auch eine umfassende Beratung, welche Hilfsmittel tauglich sind, welche finanziellen Unterstützungsleistungen es gibt oder die Anleitung zu bestimmten Pflegetechniken. Angehörige sind in der Regel enorm dankbar für verständnisvolle und zugewandte Pflegende, die ihnen Auskunft geben und ein Stück Sicherheit im Gefühls- und Organisationschaos vermitteln.

Pflegende können aber auch beim emotionsorientierten Coping unterstützen. Sie verfügen über vielfältige Erfahrungen bei ganz unterschiedlichen Krankheitsverläufen. Insofern können sie die Angehörigen einerseits bei deren Trauer über verloren gegangene Sicherheiten und Lebensentwürfe begleiten und andererseits dazu ermutigen, neue Perspektiven auch mit eingeschränkten Möglichkeiten zu entwickeln. Die wichtigste Verhaltensweise ist hier sicher das einfühlsame Zuhören, die Bereitschaft, sich als Spiegel für die Suchbewegungen der Angehörigen zur Verfügung zu stellen.

Vielen Pflegenden ist kaum bewusst, wie groß ihr Einfluss auf Patienten und deren Familiensystem ist. Dadurch berauben sie sich der Möglichkeit, die Beziehung von Anfang an gezielt kooperativ zu gestalten. Dabei ist der Beginn der Beziehung entscheidend. Angehörige reagieren in der bestehenden Stresssituation verständlicherweise extrem sensibel: Erleben sie Pflegende als unsensibel oder wenig auskunftsbereit, fühlen sie sich von ihnen entweder abgewiesen bzw. nicht ernst genommen in ihrer Sorge oder bekommen das Gefühl vermittelt, sie würden nur „stören“. Damit ist die künftige Beziehung bereits deutlich gestört. Mit Verhaltensweisen dieser Art verstärken Pflegende den bereits vorhandenen Stress, sie blockieren mögliche Copingstrategien und machen aus besorgten sog. „schwierige“ Angehörige. Umgekehrt – bei einfühlsamer Begleitung – werden sie kaum dankbarere Menschen finden als jene Angehörigen, die sich ernst- und angenommen fühlen.

Interventionen entsprechend dem Verlaufskurvenmodell nach Corbin & Strauss

Corbin und Strauss haben sich besonders mit Verlauf und Bewältigung von chronischen Krankheiten beschäftigt. „Der Begriff Verlaufskurve (Trajectory) verweist auf die aktive Rolle, die Menschen bei der Gestaltung des Verlaufs einer Krankheit spielen. Dieser Verlauf wird nicht nur von der Art der Krankheit und der individuellen Reaktion eines Menschen darauf bestimmt, sondern auch von den Handlungen der professionellen Helfer und der Kranken, ihrer Partner bzw. Partnerinnen sowie von den Handlungen aller anderen, die an der Krankheitsbewältigung mitwirken.“24

Grundsätzlich gibt es speziell bei chronischen Erkrankungen verschiedene Verläufe mit unterschiedlichen Phasen von Erholung, Einbrüche, Auf- und Abwärtsbewegungen bis zum Tod. In den Verläufen spiegelt sich die „Arbeit“ wider, die für den Patienten und dessen Angehörige zur Bewältigung der Erkrankung und ihrer Auswirkungen erforderlich ist. „Entscheidungen, die im Hinblick auf Pläne zur Krankheitsbewältigung getroffen werden, stehen auch unter dem Einfluss der umfassenderen Strukturbedingungen, die sich auf die Bewältigung der Krankheit auswirken. […] Beispielsweise sind chronische Krankheiten langfristiger Natur, und das bedeutet, dass sie Organisationsleistungen erfordern.“25

Die Form der Verlaufskurve ergibt sich aus den verschiedenen Phasen von Stabilität, Einbruch, Aufwärts- und Abwärtstendenzen. Diese dauern unterschiedlich lange und hängen einerseits von dem Krankheitsbild und andererseits von den zur Verfügung stehenden Bewältigungsressourcen (Copingstrategien) ab. Im Folgenden werden – in Anlehnung an Corbin &Strauss – vier häufige Verlaufsformen dargestellt.

Verlaufsform 1

Nach Überwindung der Akutphase überwiegend stabiler Verlauf mit mehr oder weniger heftigen Einbrüchen, aber ohne Abwärtstendenzen; ermöglicht in der Regel eine relativ gute Anpassung an die veränderte Situation, ein neues Gleichgewicht kann hergestellt werden.

Verlaufsform 2

Nach einer heftigen akuten Erkrankung kommt es über Behandlung und Rehabilitation zunächst zu einer gewissen Erholung. Die Hoffnung, alles werde wie vorher, geht aber bald über in die Erkenntnis, dass die Lebensgestaltung dauerhaft verändert bleibt – angepasst an ein oft deutlich niedrigeres Niveau als vor dem Ereignis.

Verlaufsform 3

Kurze Erholung nach einer akuten Phase mit anschließend steilem Abwärtsverlauf bis zum Tode. Dieser Verlauf erfordert höchste Anpassungsleistungen. In der Phase der Erholung wächst schnell die Hoffnung, dass es sich nur um ein vorübergehendes Ereignis handelt. Umso schwerer wiegen die folgenden Einbrüche und der schnelle Verlauf bis zum Tod.

Verlaufsform 4

Diese Verlaufsform tritt bei vielen neuromuskulären Erkrankungen auf, aber auch bei demenzieller Veränderung; das System ist einerseits relativ stabil. Andererseits führen mehr oder minder regelmäßige Abwärtsschübe zu einer allmählichen Verschlechterung bis zum Tod. Das familiäre System hat hier Zeit, sich an die schleichende Veränderung anzupassen: relativ stabiles Gleichgewicht bei gleichzeitig hoher emotionaler und arbeitsintensiver Belastung.

Verlaufskurvenplan

Die Formen der Verlaufskurven zeigen zwei wichtige Eigenschaften: „Variabilität und Phasierung. Erstens sind sie nicht nur in der Form variabel, sondern auch in der Dauer und hinsichtlich der erforderlichen Arbeit und ihren Auswirkungen. Die Variabilität bestimmt sich aus folgenden Komponenten:

  1. dem Wesen der Krankheit und der physiologischen und emotionalen Reaktion des Kranken darauf
  2. den Bewältigungsplänen, die von den professionellen Helfern und dem Kranken aufgestellt werden.

Zweitens kann jede Verlaufskurve analytisch in Phasen aufgebrochen werden, die der Kurve ihre Form geben. Zu diesen Phasen zählen akute Phasen, Phasen der Normalisierung, stabile und instabile Phasen, Phasen der Verschlechterung und Sterbephasen.“26

Krankheitsverläufe können damit zumindest teilweise mit Hilfe eines Verlaufskurvenplans mitgestaltet werden. Ziel des Planes ist es, „die Symp-tome zu bewältigen und den Verlauf der Krankheit zu kontrollieren.“ Wie der Plan gestaltet wird und wie gut er funktioniert, „hängt zu einem Großteil von der Art der chronischen Krankheit, der Eindeutigkeit der Diagnose, der verfügbaren Technik zur Behandlung der Krankheit, der physiologischen Reaktion des Kranken auf diese Behandlung ab und auch davon, wie gut der Plan in der Familie ausgeführt wird bzw. werden kann“.27 Eine große Bedeutung haben zudem die externen Unterstützungsmöglichkeiten – und hier insbesondere die Pflegenden. Im Folgenden wird ein relativ typischer Verlaufskurvenplan vorgestellt, wie sich demenzielle oder neuromuskuläre Erkrankungen entwickeln können und wie damit Grad und Intensität pflegerischer Interventionen zunimmt.

Die verschiedenen Phasen innerhalb einer Krankheitsverlaufskurve erfordern von den Pflegenden jeweils andere Unterstützungsangebote.

Während der stabilen Phasen unterstützen die Pflegefachkräfte die erkrankte Person sowie deren Familie darin, das Leben so normal und abwechslungsreich wie möglich zu gestalten und den biografischen Lebensrhythmus zu erhalten. Im akuten Schub, also bei einem akuten Ereignis bedarf es einer professionellen Krisenintervention zur Behebung bzw. Linderung der Notlage. Im Aufwärtstrend gilt es, die Patientin und ihre Familie positiv zu begleiten und den Blick für weitere Entwicklungen zu weiten.

Abwärtsphasen sind (soweit möglich) zu stoppen oder wenn diese Möglichkeit nicht gegeben ist, die damit verbundenen Trauerreaktionen des Patienten und seiner Angehörigen in angemessener Form zu begleiten. Instabile Phasen sind Phasen der Unsicherheiten – das gilt zwar auch für Pflegende, ganz besonders jedoch für die Patientinnen und deren Familie. Das Rätselraten der Pflegenden über den Grund als Teil der notwendigen Ursachensuche gehört allerdings in die Teambesprechung und in das Arztgespräch. Solange es nur um Vermutungen geht, verunsichern und belasten Andeutungen jeglicher Art Patient und Familie nur zusätzlich. Schweigend bzw. zuhörend mit der Familie die Unsicherheit aushalten, ist in vielen Fällen hilfreicher.

Dagegen ist es wenig hilfreich, wenn sich professionell Pflegende mit dem Patienten oder dessen Angehörigen identifizieren. Eine der häufigsten Komplikationen, die bei zu viel Nähe auftreten, sind Eifersüchteleien, wer nun die bessere Pflege macht bzw. dem pflegebedürftigen Menschen näher steht. Dieses Phänomen ist aus der Kinderkrankenpflege hinreichend bekannt, taucht aber auch bei Erwachsenen auf. Insbesondere bei sehr intensiven Pflegeprozessen, wie etwa der 24-Stunden-Versorgung, neigen manche Pflegende dazu, sich als Teil des Familiensystems zu verstehen – eine recht unprofessionelle Haltung. Der Respekt vor dem kranken Menschen und seinem direkt betroffenen Umfeld gebietet es, hier bei aller Aufmerksamkeit und Empathie die professionelle Distanz zu wahren und sich der eigenen Rolle als Begleiterin von außen bewusst zu bleiben.

Zusammenfassung

Pflegende haben es zu einem nicht unerheblichen Teil selbst in der Hand, ob sie Angehörige kooperativ in die Begleitung und Unterstützung von kranken bzw. pflegebedürftigen Menschen einbinden oder sie eher als „lästig“ erleben und abwehren. Die kooperative Begleitung setzt voraus, dass Pflegende die Familie als wichtigste Bezugspersonen für die Bewohner, Patienten und Patientinnen anerkennen, die sie keinesfalls ersetzen können. Entsprechend dem Stressmodell nach Lazarus begreifen Pflegende ihre Interventionsmöglichkeiten, mit denen sie den Stress der Familienangehörigen reduzieren und sie gleichzeitig darin unterstützen können, eigene Copingstrategien zu entwickeln. Indem sie sich zuverlässig als Ansprechpartnerinnen zur Verfügung stellen, indem sie ermutigen, anleiten, erklären und mögliche Gefühlsausbrüche als Teil emotionalen Copings erkennen, helfen sie den Familien und damit auch den Patienten und Bewohnern bei der Bewältigung von chronischer Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Sterben.

Referenzen

  1. Diese Idee ist der Diplomarbeit von Andrea Els entnommen. Els A., Angehörige im Pflegeprozess. Von der Störung zur Ressource, unveröffentlichte Diplomarbeit, Köln (2007), S. 4
  2. Zweig S., Ungeduld des Herzens, 32. Auflage, Fischer-Verlag, Frankfurt/M. (2004), S. 126
  3. Als „Pflegende“ sind die Pflegefachpersonen der Kranken- und Altenpflege gemeint.
  4. Die männliche und weibliche Bezeichnung wird im losen Wechsel verwendet. Wo nicht anders gekennzeichnet, bezieht sich die Bezeichnung jeweils auf beide Geschlechter.
  5. Els A., siehe Ref. 1, S. 6
  6. Gödecke C., Ambulante Intensivpflege und Heimbeatmung. Wie erleben Pflegekräfte die häusliche Heimbeatmung? Pflegezeitschrift (2013); 66: 226-230
  7. Diese und ähnliche Aussagen kommen im Pflegeunterricht häufiger vor.
  8. Geisler L., Feind, Freund oder Partner? Angehörige im Krankenhaus, Dr.med. Mabuse (2007); 32: 23-26
  9. Verwendet werden österreichische und deutsche sowie internationale pflegerische Rechtsgrundlagen.
  10. Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege (Krankenpflegegesetz, KrPflG) in Deutschland (2003), § 3, Abs. 2, Satz 1c
  11. Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (GuKG) in Österreich (1997), § 16, Satz 2
  12. Gesetz über die Berufe in der Altenpflege (Altenpflegegesetz – AltPflG) in Deutschland (2003), Abschnitt 2, § 3, Satz 10
  13. DPR Deutscher Pflegerat e. V. Bundesarbeitsgemeinschaft der Pflegeorganisationen und des Hebammenwesens, Rahmen-Berufsordnung für professionell Pflegende, (2004); § 3, www.deutscher-pflegerat.de/Downloads/DPR%20Dokumente/Rahmenberufsordnung.pdf (letzter Zugriff am 28. 02. 2015)
  14. Österreichischer Gesundheits- und Krankenpflegeverband (Hrsg.), Berufsbild des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege, Wien (2004), Abs. 2.1.3: „Zu jeder Pflegediagnose werden von der Dipl. Pflegeperson Ziele, … eingetragen. Dabei arbeitet sie eng mit der/dem PatientIn und/oder den Angehörigen zusammen, da die Akzeptanz der Ziele eine unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg der Pflege ist.“ Und Abs. 2.2.: „Die Dipl. Pflegeperson entwickelt mit den PatientInnen/KlientInnen und/oder deren Angehörigen Strategien zur Erhaltung der Gesundheit oder zur Verbesserung des Gesundheitszustandes. Dabei sind Information, Aufklärung, Beratung und Schulung sehr wesentliche Elemente der Tätigkeit.“, www.oegkv.at/fileadmin/user_upload/Berufsausuebung/Berufsbild-Endfassung_Neuauflage_2009.pdf (letzter Zugriff am 28. 02. 2015)
  15. International Council of Nurses (ICN), Ethikkodex für Pflegende (2006): „Bei ihrer professionellen Tätigkeit fördert die Pflegende ein Umfeld, in dem die Menschenrechte, die Wertvorstellungen, die Sitten und Gewohnheiten sowie der Glaube des Einzelnen, der Familie und der sozialen Gemeinschaft respektiert werden.“, www.dbfk.de/download/download/ICN-Ethikkodex-2012-2013-04-12--deutsch-konsentiert-final.pdf (letzter Zugriff am 28. 02. 2015)
  16. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.), Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen (2009), Art. 4., www.pflege-charta.de/fileadmin/charta/pdf/140603_-_Aktive_PDF_-_Charta.pdf (letzter Zugriff am 28. 02. 2015)
  17. Dieses Kapitel rekurriert auf familiensystemische Erkenntnisse. Allerdings ist der Begriff „Angehörige“ nicht nur auf die engsten Familienmitglieder bezogen. Zu den Angehörigen zählen auch weitere Verwandte (z. B. Großeltern, Nichten und Neffen etc.) sowie engste Freunde und Freundinnen. Letztere ersetzen vielen alleinstehenden Menschen die nicht vorhandene Familie und sind daher ähnlich zu berücksichtigen.
  18. Bertalanffy L. von, General systems theory, General Systems Yearbook, 1 (1956)
  19. Oerter R., Montada L. (Hrsg.), Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch, 3. Auflage, Psychologie Verlags Union, Weinheim (1995), S. 132
  20. Koestler A., Die Geheimschrift. Bericht eines Lebens, 1932-1940, zitiert nach Els A., siehe Ref. 1, S. 23
  21. Oerter R., Montada L. (Hrsg.), siehe Ref. 19, S. 133
  22. ebd., S. 133
  23. Lazarus  R. S., Folkman S., Stress, appraisal and coping, Springer-Verlag, New York (1984)
  24. Corbin J. M., Strauss A. L., Weiterleben lernen. Verlauf und Bewältigung chronischer Krankheit, 2. Auflage, Verlag Hans Huber, Bern u. a. (2004), S. 50
  25. ebd., S. 51
  26. ebd., S. 60
  27. ebd., S. 51

Anschrift der Autorin:

Irmgard Hofmann, M. A. (phil)
Dozentin für Ethik in der Pflege, Gesundheits- und Krankenpflegerin
Terofalstr. 5, D-80689 München
info(at)hsve.de
www.hsve.de

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