Zur Utopie oder Dystopie einer schmerzfreien Gesellschaft

Imago Hominis (2015); 22(2):103-112
Clemens Sedmak

Zusammenfassung

Der Beitrag zeichnet Konturen eines ethisch angemessenen Umgangs mit Schmerzen nach, beginnend mit der Frage, ob eine prinzipiell schmerzfreie Gesellschaft wünschenswert sein könne. Es werden sowohl die (praktischen, epistemischen, moralischen) Kosten von Schmerzfreiheit skizziert als auch die Relevanz von Schmerz als Kapital im vierfachen Sinn Bourdieus ausgewiesen. Nach einer begrifflichen Unterscheidung zwischen Schmerzen erster Ordnung und Schmerzen zweiter Ordnung sowie zwei Beispielen einer Phänomenologie von Schmerz wird der Begriff der Schmerzkompetenz an fünf Säulen erarbeitet: Schmerzherkunft, Schmerzsprache, Schmerzumgebung, Schmerzgerechtigkeit, Schmerzethik.

Schlüsselwörter: Schmerzkompetenz, Schmerzethik, Schmerzgerechtigkeit, Schmerzen erster Ordnung, Schmerzen zweiter Ordnung

Abstract

The article develops a concept of „pain competence“ based on pain foundation, pain language, pain environment, pain justice and pain ethics. It discusses the desirability of a principally pain free society and sketches the practical, epistemic and moral role of pain. It distinguishes between first order pain and second order pain and works with examples from a phenomenology of pain. It ultimately denies the question of a desirability of a painfree society but argues that pain alleviation is a strong, but not absolute duty.

Keywords: pain competence, pain ethics, pain justice, first order pain, second order pain


Dass die Angst vor Schmerzen (wie auch immer umstrittene) pädagogische Bedeutung haben dürfte und dass der Ausdruck von Schmerzen kulturell überformt ist, illustriert eine Begebenheit, die Ian Richard Paisley, dem konfrontationsfreudigen nordirischen Prediger, zugeschrieben wird. In einer flammenden Predigt über das Jüngste Gericht sprach er über die Hölle und näherte sich dem Höhepunkt seiner Predigt an: „On the Day of Judgement there will be wailing and gnashing of teeth“. Eine ältere Dame meldete sich zu Wort: „But I have no teeth“. Paisleys Antwort nach einer kurzen Pause: „Teeth will be provided!“

1. Begriffliche Klärungen

Schmerzen sind in ihrer philosophischen Einordnung herausfordernd – sind Schmerzen Emotionen oder so zu behandeln wie Emotionen, wie Austen Clark vorschlägt?1 Für die Zwecke dieses Beitrags schlage ich vor, Schmerzen als unerwünschte („adverse“) und alles durchdringende („pervasive“) Conditio, die von uns Besitz ergreift („possessiv“), aufzufassen. Diese drei Eigenschaften des Aversen, Pervasiven und Possessiven machen die Dynamik der Lebensveränderung aus, die Schmerzen erzwingen. Schmerzen lassen sich nicht aufschieben, sie entwickeln einen Sinn von Dringlichkeit. Schmerzen führen in ein Exil; der Begriff „Leiden“ hängt nicht von ungefähr mit dem Wort „lîdan“ (in die Fremde ziehen) zusammen. Ein Mensch, der leidet, muss eine vertraute Welt verlassen. Als Exilsbringer ist Schmerz so gesehen auch Quelle von Kosmopolitismus. Oder anders gesagt: Das Sprachspiel des Exils kann mit der Hermeneutik von Schmerzen verbunden werden. Schmerzen führen in eine Welt von Einschränkung, Kontrollverlust, Unberechenbarkeit und Widrigkeit. Hier stellen sich Fragen nach der Orientierung in dieser „neuen Welt“, in der neue Gesetzmäßigkeiten und Regelwerke gelten – Susan Sontag hatte die Metapher von den beiden Reisepässen verwendet: „Everyone who is born holds dual citizenship, in the kingdom of the well and in the kingdom of the sick. Although we all prefer to use only the good passport, sooner or later each of us is obliged, at least for a spell, to identify ourselves as citizens of that other place.“2 Das Land der Krankheit, das Land des Schmerzes, ist ein eigenes Land, in dem man sich zurecht finden muss.

Sinnvoll dürfte daher die Einführung der Unterscheidung von „Schmerzen erster Ordnung“ („first order pain“) und Schmerzen zweiter Ordnung („second order pain“) sein. Schmerzen erster Ordnung beziehen sich auf bekannte und weniger bekannte physische und psychische Schmerzquellen, Schmerzen zweiter Ordnung beziehen sich auf Schmerzen, die sich aus dem Umgang mit Schmerzen „in the kingdom of the sick“ ergeben. Anders gesagt: Es gibt Leiden, aber es gibt auch das Leiden, das sich aus dem Umgang mit Leiden ergibt – von diesem Leiden hat Leonardo Boff in seiner Christologie gesprochen.3 Es gibt Schmerzen, die von einem gebrochenen Bein nach einem Schiunfall herrühren; und es gibt Schmerzen aufgrund dieser Schmerzen, die mit sozialer Beschämung ob der entstandenen Unannehmlichkeiten zu tun haben. Der „Schmerz über den Schmerz“ ist ähnlich ungleich verteilt wie Schmerzen erster Ordnung und steht nicht in strenger Korrelation zum Schmerz erster Ordnung. „Schmerzkompetenz“, wie wir noch sehen werden, kann sich auf den rechten Umgang mit Schmerzen erster Ordnung, aber auch auf den rechten Umgang mit Schmerzen zweiter Ordnung beziehen.

2. Zur Phänomenologie von Schmerzen

Schmerz „zeigt sich“, er manifestiert sich; dies gilt für physischen Schmerz ebenso wie für psychischen Schmerz. Ein Beispiel für letzteren bietet Thomas Harding in seinem Kadian Journal.4 Harding hatte seinen vierzehnjährigen Sohn Kadian bei einem Fahrradunfall verloren, den er miterleben musste. Er hatte die schwere Aufgabe, die Todesnachricht sowohl Kadians Schwester als auch Kadians Mutter, die zum Zeitpunkt des Unfalls tausende Kilometer entfernt war, zu übermitteln. Hardin beschreibt das Rohe und Disruptive dieses Schmerzes; er erzählt von dem von ihm gefühlten Schmerz der Unbenennbarkeit; er machte sich auf die Suche nach einem Begriff für den empfundenen Schmerz. „What is the correct word for what I am experiencing?“, ist eine Frage, die ihn tief beschäftigt.5 Er stellt sich auch die Identitätsfrage: Wer bin ich? „Ich bin ein Vater, der seinen Sohn verloren hat“. Wie nennt man einen solchen Mann? Ein Sohn, der seine Eltern verliert, ist ein Waise; ein Ehemann, der seine Ehefrau verliert, ist ein Witwer. Aber welches Wort bezeichnet den Status (und damit auch ansatzweise die innere Situation) eines Mannes, der seinen Sohn begraben musste?

Harding stößt auf das Wort kampu, einem Wort aus einer australischen Sprache. In Zambia und Malawi wird das Wort ofedwa verwendet, um einen „bereaved parent“ zu beschreiben.6 Diese Wörter spenden Thomas Harding Trost. Das Wort hält etwas fest, öffnet gleichzeitig die Türen hin zu vorgestellten Welten. Die Vorstellungskraft ist jenes Vermögen, das Harding in seiner Trauer Halt gibt – und ein Gefühl von Haltlosigkeit.7 Für die Schmerztherapie kann diese Erfahrung mit Blick auf die „benannte Diagnose“, den „Schmerz mit Namen“, hilfreich sein, aber auch hinsichtlich der Rolle, die die Vorstellungskraft im Umgang mit Schmerzen spielt – nicht nur Wörter, auch Bilder für den erfahrenen Schmerz sind Bausteine für das Haus, in dem man mit Schmerz umzugehen lernt.

Ein Beispiel für physischen Schmerz findet sich in bislang unveröffentlichten Aufzeichnungen einer Frau, die mit chronischen Schmerzen zu leben lernen musste. Hier stoßen wir auf tiefe und erlittene Sätze wie die folgenden: „Schmerzen sind nicht erholsam“, „Schmerzen schränken ein“, „Schmerzen machen einsam“, „Wenn Schmerz ein Signal des Körpers ist, dann taucht die Frage auf: Was will mein Körper mir sagen?“, „Ich muss Gewohnheiten so verändern, dass das Leben wieder Freude macht“, „Schmerzen können den Alltag so einschränken, dass kein normales Leben möglich ist“, „Die Schmerzen waren eine Erfahrung von Einsamkeit, war ich doch zumeist allein mit ihnen. Freude mit anderen teilen ist schön, mit anderen den Schmerz zu teilen ist eigentlich unmöglich“, „Wenn ich den Umgang mit den Schmerzen ganz und gar an die Fähigkeiten der Ärztin übergebe, nimmt mir das den Kampfgeist, den Sinn, wofür es sich zu kämpfen lohnt“, „Den Schmerz respektvoll behandeln. Was heißt das eigentlich?“, „Wer hat eigentlich Schmerzen? Der Arzt oder ich? Wie soll er beurteilen, was mir gut tut, wenn ich es ihm nicht sage?“, „Schmerzen, die aus der Welt zu schaffen sind, sind sinnlos“, „Ich bin nicht auf der Welt, um Schmerzen zu haben, sondern um zu leben.“

Diese Gedanken sprechen für sich und müssen nicht bis ins Letzte zerpflückt werden; deutlich werden die sozialen Aspekte von Schmerz, die Menschen von anderen trennen; deutlich werden die Fragen nach „ownership“ und „Autorität“: Wer ist die höchste Autorität in Bezug auf empfundenen Schmerz? Deutlich werden Schmerzen in ihrem Bezug zu Fragen nach dem guten Leben, auch mit Blick auf die Alltagstauglichkeit von Schmerzen. Diese Frage („Erlaubt es der Schmerz, Alltag zu leben?“) schafft den Übergang zur Frage nach einer Ethik des Umgangs mit Schmerzen.

3. Zur Ethik des Umgangs mit Schmerzen

„Schmerzfreiheit“ ist sicherlich ein hohes Gut, das die starke Pflicht mit sich bringt, dieses Gut zu verwirklichen; „Schmerzfreiheit“ ist freilich kein höchstes Gut, mit dem eine absolute Pflicht zur Realisierung verbunden wäre. Dazu ist der Preis der Schmerzfreiheit zu hoch, wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden soll. Das bedeutet, dass es im Umgang mit Schmerzen auch um die Frage nach einem rechten Maß geht. Analog zu den Begriffen „poverty eradication“, „poverty alleviation“, „poverty reduction“ oder „Armutsbekämpfung“ können die Begriffe „pain eradication“, „pain alleviation“, „pain reduction“ und „Schmerzbekämpfung“ gebildet werden; sie bringen jeweils unterschiedliche Bilder, Voraussetzungen und Ansprüche mit sich. Das Bild der Schmerzreduktion insinuiert Schmerz als messbare Menge, die nachweislich vermindert werden kann; die Idee von „Linderung“ deutet das Bild eines „Trostes“ an, der aber den Schmerz – im Gegensatz zum Anspruch der „pain eradication“ – nicht gänzlich zum Verschwinden bringen kann. Diese Begriffe geben Fragerichtungen für den Diskurs „Umgang mit Schmerz“ auf. Ich möchte im Folgenden eine Ethik des Umgangs mit Schmerzen anhand von Leitbegriffen entwickeln. Diese Leitbegriffe möchte ich als die fünf Säulen oder Pfeiler von „Schmerzkompetenz“ verstehen.

Schmerzherkunft: Es ist hilfreich und heilsam, Ursache und Grund für den eigenen Schmerz zu kennen und zu benennen. Petra Kuntner, ein Südtiroler Mädchen, das 1986 sechzehnjährig an Krebs verstorben war, beschreibt den Vorwurf, dass sie, das zwölfjährige Mädchen, die Schmerzen nur imaginiere, weil ihre Krankheit anfangs nicht diagnostiziert werden konnte, als die schlimmste Zeit. Eine ähnliche Erfahrung machte der englische Künstler Ben Watts, der die Zeit der unsicheren Diagnose als die belastendste empfand.8 Es ist hilfreich, die Ätiologie zu kennen, aber auch den Sinngrund. Damit ist die persönliche Geschichte gemeint, die zum Schmerz geführt hat. Eindrucksvoll wird dies in Maïti Girtanners bewegenden Autobiographie deutlich: Girtanner hatte sich als junge Pianistin der französischen Résistance angeschlossen, wurde gefangen genommen und von der Gestapo gefoltert; als Resultat der Folter wurde sie zeitlebens von schweren Schmerzen gequält, konnte nie wieder Klavier spielen und auch keine Kinder bekommen – aber sie wusste, warum sie dieses Schicksal erlitten hatte. Sie hielt fest, dass sie wusste, welches Risiko sie auf sich nahm, als sie sich dem Widerstandskampf anschloss; sie hatte ein „Warum“, im Gegensatz zu den jüdischen Mitbürgern, die ohne nachvollziehbaren Grund systematisch ermordet wurden.9

Schmerzsprache: Es ist hilfreich und heilsam, eine Sprache für den Schmerz zu haben und Schmerz benennen zu können. Diesen Punkt haben wir am Beispiel Thomas Hardings für psychischen Schmerz gesehen. Die Sprache, die wir verwenden, um über Schmerz zu reden, ist eine öffentliche Sprache, wie Ludwig Wittgenstein in seinen Überlegungen zum „Privatsprachenargument“ klar gemacht hat.10 Diese öffentliche Sprache stellt Begriffe zur Artikulation und Beschreibung des eigenen Schmerzes zur Verfügung und nimmt damit auch Einfluss auf die Wahrnehmung des Schmerzes. Gleichzeitig geht es auch darum, Schmerz sprachlich anzueignen und eine „persönliche Sprache“ (keine Privatsprache!) für den Schmerz zu entwickeln. Das bedeutet in der Praxis wohl auch, dass Patientin und Ärztin eine gemeinsame, verständliche Sprache für den Schmerz finden müssen.

Schmerzumgebung: Die rechte Gestaltung der Schmerzpatienten-freundlichen Umgebung ist ein wichtiger Aspekt des Umgangs mit Schmerzen. Schmerz wird in einer bestimmten Umgebung wahrgenommen.11 Das ist selbstredend auch eine Frage der Kultur, in der es eine Entwicklung von „prayer to painkillers“ gegeben hat.12 Ein Meilenstein in der Geschichte der Schmerzkultur in England war die Tatsache, dass Königin Victoria sich 1853 bei der Geburt ihres achten Kindes Chloroform zur Schmerzlinderung verabreichen ließ. Dies leitete einen Wandel in der Bewertung der Schmerzumgebung ein. Schmerzempfinden ist also kontextualisiert. „Social pain“ ist neurowissenschaftlich ebenso relevant, wie auch die soziale Situation im Schmerzerleben einen Unterschied macht.13 Marina Sleptsova, Brigitta Wössmer, Wolf Langewitz haben etwa gezeigt, dass Migranten in einer kulturell fremden Situation Schmerzen anders und stärker empfinden.14 Es ist also nicht nur der Ausdruck von Schmerzen kulturell eingebettet, sondern auch das Schmerzempfinden selbst ist nicht zu trennen von einer sozialen Situation. Die Wahrnehmung von Schmerz hängt auch von der Umgebung ab, die entsprechend gestaltet werden kann (Krankenhaus), aber auch Grenzen dessen aufzeigt, was Schmerztherapie leisten kann, die die sozioökonomische Situation von Menschen nicht zu ändern vermag.

Schmerzgerechtigkeit: Es ist hilfreich und heilsam, wenn Strukturen epistemischer Gerechtigkeit im Umgang mit Schmerz gewahrt werden. Die englische Philosophin und Krebspatientin Harvi Carel hat gemeinsam mit Ian James Kidd über „epistemische Privilegien“ nachgedacht, wie sie auch in Bezug auf die „ownership“-Frage bei der im vorigen Abschnitt zitierten Schmerzpatientin aufgetreten sind. Carel kritisiert das epistemische Privileg der medizinischen Experten, höhere Kompetenz über die Einordung des Schmerzes eines anderen Menschen beanspruchen zu können, als die Patienten selbst. Sie moniert die Gefahr von „testimonial injustice“ in dem Sinne, dass das Zeugnis von Patientinnen und Patienten über die eigenen Schmerzen aufgrund der unterstellten emotionalen Instabilität und kognitiven Unzuverlässigkeit nicht ernst genommen wird.15 Es ist gleichfalls ein Aspekt von „Schmerzgerechtigkeit“, wenn die Schmerzbehandlung die „epistemic agency“ der Patienten nicht untergräbt – wenn etwa die Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) in ihrer Ethik-Charta festhält, dass Schmerzlinderung die Selbstbestimmungsfähigkeit nicht einschränken dürfe, so hat dies Implikationen für den Umgang mit Schmerz als Ausdruck eines Bekenntnisses zu Schmerzgerechtigkeit.

Schmerzethik: Es ist im Umgang mit Schmerz empfehlenswert und hilfreich, im Sinne ethischer Grundkategorien zwischen „gesolltem“ und „verbotenem“ Schmerz zu unterscheiden; letzterer ist „vermeidbar“ und kann in manchen Fällen mit dem verbunden werden, was Catriona Mackenzie, Wendy Rogers und Susan Dodds „pathogenic vulnerability“ genannt haben, also eine Verwundbarkeit, die aufgrund von Sozialpathologien entstanden ist.16 „Gesollter Schmerz“ ist Schmerz, dessen Nichtauftreten auf eine Störung hinweist, wie sie etwa Coetzee in seinem Roman Waiting for the Barbarians in Gestalt eines Folterknechts beschreibt, der durch nichts gerührt werden kann und also „gesollten Schmerz“ nicht empfindet. „Gesollter Schmerz“ hängt auch mit der Funktion von Schmerz als Warnsignal zusammen, dessen Ausbleiben gefährlich sein kann. „Gesollter Schmerz“ wird auch in der jüdischen Tradition in einem Psalmwort angesprochen: „Viele Schmerzen leidet, wer fremden Göttern folgt“ (Ps 16,4). Diese Kategorien sind auch auf die Unterscheidung zwischen Schmerzen erster und zweiter Ordnung anzuwenden, es gibt also auch gebotenen Schmerz zweiter Ordnung, wie die Diskussion um eine „Pflicht zum Leiden am Leiden“ als Ausweg aus der menschlichen Gleichgültigkeit zeigt.17

Schmerzherkunft, Schmerzsprache, Schmerzumgebung, Schmerzgerechtigkeit und Schmerzethik sind fünf Säulen jenes Vermögens, das ich als „Schmerzkompetenz“ bezeichnen möchte. Schmerzkompetenz ist eine Kompetenz höherer Ordnung, die sich als das Vermögen zeigt, mit Schmerzen erster Ordnung bzw. Schmerzen zweiter Ordnung umzugehen. Dabei kann zwischen Schmerzkompetenz in Bezug auf eigene Schmerzen und Schmerzkompetenz in Bezug auf die Schmerzen (insignifikanter bzw. signifikanter) Anderer unterschieden werden. Es ist eine Sache, gut mit eigenem Schmerz umgehen zu können, es ist eine andere Sache, mit dem Schmerz eines nahen Menschen zurechtkommen zu müssen. Eltern von kranken Kindern wie auch Ehepartner von Schmerzpatienten haben Schmerzen zweiter Ordnung, mit denen sie leben müssen. Schmerzkompetenz in Bezug auf den eigenen Schmerz zeigt sich vorzugsweise in expressiven Fähigkeiten (Artikulationsfähigkeiten), in der Handlungsfähigkeit (compliance) und in der realistischen Einstellung.18 Schmerzkompetenz in Bezug auf Schmerzen von anderen manifestiert sich vor allem in Empathie und Einfühlungsvermögen,19 „Erwartungsmanagement“ („expectation management“ mit der Frage nach der Dosierung von Versprechen und Prognosen) und entsprechenden Handlungsfähigkeiten zum Schmerzmanagement. Letztere ist dann qualitativ hochwertig, wenn sie die vielen Dimensionen von Schmerz (physisch, psychisch, sozial, spirituell) im Sinne von Cecily Saunders‘ Begriff „total pain“ berücksichtigt.20 Diese Fähigkeiten, die die Schmerzkompetenz zeigen, werden durch die angeführten fünf Säulen geerdet. Schmerzkompetenz ist auf dem Hintergrund des Gesagten die Fähigkeit, Schmerzminderung als starke Pflicht anzuerkennen, aber auch die Fähigkeit zu haben, „begründeten Schmerz“ in seiner Existenzberechtigung anzuerkennen. Nun kann die Frage gestellt werden, inwieweit prinzipielle Schmerzfreiheit wünschenswert ist.

4. Die Kosten von Schmerzfreiheit

Die Hölle, um wieder auf den Beginn zurückzukommen, ist kein Ort der Schmerzfreiheit; dieser Beitrag wollte freilich auch darüber nachdenken, inwiefern prinzipielle Schmerzfreiheit zu einer Hölle auf Erden führen könnte. Wenn man die Frage nach dem ethischen Status einer schmerzfreien Gesellschaft stellt, könnte man dies mithilfe von zwei heuristisch hilfreichen Fragen tun: Welche Kosten entstehen dadurch, dass Schmerzen reduziert oder ganz genommen werden? Sind Schmerzen eine Form von Kapital? Diese beiden Fragen sind durchaus relevant für den Begriff der Schmerzkompetenz.

Die erste Frage erinnert daran, dass sämtliche Zustände, auch der Zustand der Schmerzfreiheit, mit Opportunitätskosten verbunden sind. Mit gutem Grund stellt Jesus im Johannesevangelium einem gelähmten Mann die Frage: „Willst du gesund werden?“ (Joh 5,6); gesund zu werden ist mit Kosten verbunden. Wir könnten wenigstens an drei Typen von Kosten denken: praktische, epistemische und moralische Kosten.

Praktische Kosten von Schmerzfreiheit betreffen die veränderten Formen menschlichen Tätigseins und die Veränderungen der Interaktionskultur. José Saramago hat in seinem Roman Eine Zeit ohne Tod ein Gedankenexperiment vorgestellt: Wie würde die Gesellschaft sich wandeln, wenn Menschen nicht mehr versterben würden? Die Bestattungsunternehmer würden zu Subventionsempfängern werden, lautet eine der Einsichten des Werkes. Analog kann man sich fragen, was der praktische Preis einer Utopie der Schmerzfreiheit ist – welche Handlungen (des Tröstens, des Linderns) und welche Haltungen (des Mitgefühls, der Erleichterung) würden dann nicht mehr möglich oder motiviert sein? Bestimmte Sprachspiele würden sich in einer schmerzfreien Welt erübrigen, ebenso bestimmte kulturelle Techniken, gut mit Schmerz umzugehen. Diese Aspekte tangieren die praktischen Kosten von Schmerzfreiheit.

Über die epistemischen Kosten von Schmerzfreiheit kann man viel von Simone Weil lernen. Weil, 1943 im Alter von 34 Jahren an Erschöpfung gestorben, litt zeitlebens unter Kopfschmerzen und auch am Leiden anderer. Trotz ihrer schwachen Gesundheit arbeitete sie in einer Renaultfabrik und engagierte sich später in der Résistance. Sie dachte viel über die Bedeutung von Schmerzen nach. Das Leiden ist für Weil (neben der Schönheit) einer der beiden eminenten Wege, die Wirklichkeit zu berühren, lehrt uns das Leiden doch auf unabweisbare Art etwas über die Realität, das wir uns zu lernen nicht aussuchen würden; das Leiden drängt uns in eine Abhängigkeit hinein, auch und gerade in eine Abhängigkeit von der Gnade Gottes, wie sie auch Paulus, gequält vom „Stachel im Fleisch“, im zweiten Korintherbrief schildert (2 Kor 12,7).21 Leiden ist Quelle von Mitgefühl, von Nähe.22 Prinzipielle Schmerzfreiheit versperrt den Zugang zu bestimmten Einsichten, lässt die Quelle von bestimmter Erkenntnis versiegen. Dies wird vielleicht am deutlichsten mit Blick auf das Buch Hiob. „Das Buch Hiob ist ein Wunder, denn es drückt in vollkommener Form Gedanken aus, die der menschliche Geist nur unter der Folter eines unerträglichen Schmerzes fassen kann, die aber formlos sind, die sich verflüchtigen und nicht mehr wiedergefunden werden können, wenn der Schmerz sich legt. Die Niederschrift des Buches Hiob ist ein Sonderfall des Wunders der Aufmerksamkeit, die man dem Unglück schenkt.“23 Mit anderen Worten: In einer prinzipiell schmerzfreien Gesellschaft kann das Buch Hiob nicht mehr verstanden werden. Bestimmte Einsichten stellen sich im Zustand der Schmerzfreiheit nicht ein – hier haben wir es mit epistemischen Kosten der Schmerzfreiheit zu tun. Guy Kahane hat dafür argumentiert, dass sich Menschen, die das erste Mal Schmerz empfinden, neues normatives Wissen aneignen, damit also eine Art von Wissen, die handlungsleitend ist.24 Hier zeigt sich eine Verbindung zwischen den praktischen und den epistemischen Kosten von Schmerzfreiheit.

Die moralischen Kosten der Schmerzfreiheit schließlich könnte man am Begriff der Verwundbarkeit deutlich machen; Schmerzen sind unangenehme Erinnerungen an die menschliche Verwundbarkeit. Paul Formosa hat Verwundbarkeit charakterisiert mit den Worten „to be susceptible to harm, injury, failure, or misuse“.25 Hier wird also eine conditio benannt, die Schaden und Schmerzen ermöglicht. Diese Conditio ist abgestuft, wie Joel Anderson formuliert hat: „A person is vulnerable to the extent to which she is not in a position to prevent occurrences that would undermine what she takes to be important to her“.26 Menschen sind mehr oder weniger verwundbar, können sich mehr oder weniger gegen die Eintrittsstellen von Verwundbarkeit schützen. Schmerzen zeigen Eintrittsstellen von Verwundbarkeit auf. Einsicht in die eigene Verwundbarkeit führt zur moralisch wünschenswerten Anerkennung der eigenen Abhängigkeit. Einsicht in die Verwundbarkeit anderer Menschen führt im besten Fall zur Ausbildung einer „Care-Haltung“, einer Haltung der Sorge und Fürsorge, wie dies Robert Goodin erkannt hat: „It is dependency and vulnerability rather than voluntary acts of will which give rise … to our most fundamental moral duties“.27 Schmerzfreiheit könnte mit den moralischen Kosten einer erschwerten Wahrnehmung von Verwundbarkeit verbunden sein. Ich möchte diesen Verlust so ausdrücken, dass im Rahmen prinzipieller Schmerzfreiheit „zweite Integrität“ als moralisches Schlüsselgut nicht erreicht werden kann; unter „zweiter Integrität“ verstehe ich Integrität (aufgefasst als Ernsthaftigkeit, Aufrichtigkeit, Positionierung und Responsivität) mit der zusätzlichen Einsicht in die eigene Versehrtheit.28 Damit ist ein wichtiges Gut auf dem Weg zu Solidarität und Demut schwerer erreichbar geworden; das hat mit den moralischen Kosten von Schmerzfreiheit zu tun.

Prinzipielle Schmerzfreiheit ist also an Opportunitätskosten gebunden, die wenigstens mit praktischen, epistemischen und moralischen Aspekten des menschlichen Lebens zu tun haben.

In diesem Zusammenhang kann die erwähnte zweite Frage gestellt werden: Sind Schmerzen eine Form von Kapital? Nach Pierre Bourdieu kann man neben dem ökonomischen Kapital zumindest auch soziales, kulturelles und symbolisches Kapital unterscheiden.29 Kann diese Unterscheidung auf den Begriff „Schmerz“ angewandt werden? Schmerz ist neben einem Faktor, der – etwa aufgrund von Arbeitsunfähigkeit oder Behandlungskosten – zur Einbuße von ökonomischem Kapital führt, auch mit Formen von ökonomischem Kapital zu verbinden; manche Menschen verdienen Geld mit Büchern über den eigenen oder fremden Schmerz, viele profitieren finanziell von den Schmerzen anderer. Man wäre geradezu versucht, einen ganzen Berufsstand auf die Idee von Schmerz als ökonomischem Kapital zurückzuführen. Dieser Zusammenhang lässt sich also herstellen. Ähnlich verhält es sich mit der Dimension des Sozialkapitals, verstanden als Zugang zu Netzwerken und Kontakten mit deren Ressourcen. Während Schmerz auf der einen Seite zu einer Reduktion von Sozialkapital führen kann (herabgesetzte Hospitalitätsmöglichkeiten aufgrund von Schmerzen, gesenkte soziale Attraktivität durch Schmerzen, aber auch das Klagen über Schmerzen), kann Schmerz auch als Türöffner fungieren und das Sozialkapital erhöhen: Schmerzen ermöglichen den Zugang zu Selbsthilfegruppen, sorgen für Gesprächsstoff in sozialen Situationen, bringen Menschen in Kontakt mit helfenden Berufen oder Leidensgenossen. Auch diese Brücke lässt sich schlagen. Kulturelles Kapital als dritte Kapitalform bezieht sich auf Werte und auf Wissen; damit sind wir wieder auf die epistemischen und moralischen Kosten verwiesen, die Schmerzfreiheit mit sich bringen könnte. Schmerzen führen zu einer bestimmten Form von Wissen; wenn Menschen Schmerzen haben, eignen sie sich Wissen über die Phänomenologie des Schmerzes, aber auch über die möglichen Ursachen des Schmerzes an. Schmerz vermittelt Wissen über den eigenen Körper, die Unfähigkeit, Schmerz zu empfinden, verringert die Eigenkörperkompetenz.30 Schmerz kann auch bestimmte Wertehandlungen bezüglich des Umgangs („Ethik des Umgangs mit Schmerzen“) hervorbringen; das kulturelle Kapital von bestimmten Haltungen gegenüber Schmerz und vor allem gegenüber Menschen mit Schmerzen kann sich in Strukturen prinzipieller Schmerzfreiheit nicht herausbilden, wie möglicherweise die einschlägigen Studien über die Effekte des regelmäßigen Besuchens von virtuellen Welten zeigen können.31 Symbolisches Kapital (Reputation, Prestige) ist nicht selten mit Schmerz verbunden. In bestimmten Kulturen gilt das tapfere Aushalten von Schmerz als prestigereich, also als Quelle von symbolischem Kapital. Moralphilosophische Kategorien wie „Feigheit“ oder „Tapferkeit“ werden unter anderem an Formen des Schmerzumgangs festgemacht. Wilhelm Buschs Diktum „Gehabte Schmerzen, die hab ich gern“ deutet auf eine Quelle von symbolischem Kapital hin, die in einer prinzipiell schmerzfreien Gesellschaft nicht mehr zur Verfügung steht.

Kein Zweifel: Neben allen unerwünschten Effekten hat Schmerz auch seinen Wert,32 stellt eine Form von Kapital dar. Das ist natürlich allein bereits durch die gesundheitliche Bedeutung des Schmerzes gegeben. Ich beeile mich, hinzuzufügen, dass damit nicht der Schmerz glorifiziert werden soll; aber es könnte sich durch diese Überlegungen doch größeres Wohlwollen gegenüber einem Blick auf Funktion und Nutzen von Schmerz oder auch gegenüber einer Skepsis „Schmerzfreiheit um jeden Preis“ einstellen.

5. Schmerzfreiheit in einer Dystopie

Ein Schlusswort: Die Frage nach Kosten von Schmerzfreiheit und dem Wert von Schmerzen kommt eindrucksvoll in einer von Aldous Huxley geschilderten Begegnung zwischen dem Weltaufsichtratsvorsitzenden und einem „Wilden“ im 17. Kapitel von Huxleys Dystopie Brave New World zum Ausdruck. Der Weltaufsichtsratsvorsitzende freut sich über die Vorzüge einer schmerzfreien Gesellschaft. „The savage“ stellt dies in Abrede und beklagt sich, dass die Dinge zu wenig kosten, dass in einer schmerzfreien Welt kein Raum sei für Heroismus, Tugenden oder Tiefe. „What you need … is something with tears for a change. Nothing costs enough here.“ Die Antwort des Vertreters der schmerzfreien Welt: „We prefer to do things comfortably … In fact … you’re claiming the right to be unhappy.“ Dieses Recht nimmt sich der Wilde heraus, „’not to mention“, fährt der Weltaufsichtsratsvorsitzende fort, „the right to grow old and ugly and impotent; the right to have syphilis and cancer; the right to have too little to eat; the right to be lousy; the right to live in constant apprehension of what may happen tomorrow; the right to catch typhoid; the right to be tortured by unspeakable pains of every kind.’ There was a long silence. ‘I claim them all’,“ said the Savage at last.33

Referenzen

  1. Clark A., Painfulness Is Not A Quale, in: Aydede M. (Hrsg.), Pain: New Essays on Its Nature and the Methodology of Its Study, The MIT Press, Cambridge, MA (2005), S. 177-197
  2. Sontag S., Illness as Metaphor, McGraw-Hill, Toronto (1978), S. 3
  3. Boff L., Jesus Christus, der Befreier, 3. Auflage, Herder, Freiburg/Br., 1989, S. 350. Ulrich Schoenborn hat diesen Gedanken einmal so ausgedrückt: „Christen in der Nachfolge orientieren sich an Jesu Weg, der sie keineswegs aus der Welt herausführt … Sie nennen die Dinge beim Namen, z. B. wenn Wahrheit und Lüge vermischt werden. Das bleibt nicht ohne Folgen. Oder sie akzeptieren nicht das Leiden ihrer Nächsten und Fernsten. Auch das hat Folgen. Man sucht nicht freiwillig das Leiden, vielmehr entsteht es im Kampf gegen das Leiden. Darum gehört das Kreuz Jesu nicht der Vergangenheit an“ (Dem Glauben auf der Spur. Hermeneutische Streifzüge zwischen Rio de la Plata und Nemunas, LIT, Münster, 2003, S. 182).
  4. Harding T., Kadian Journal. A Father’s Story, William Heinemann, London (2014)
  5. ebd., S. 159
  6. ebd., S. 160 f.
  7. Diese Ambivalenz der Vorstellungskraft kommt gegen Ende des Buches deutlich zum Ausdruck: „I would not be surprised if one day I woke up and he was back … Where have you been? I would ask. Oh, away he would say. I would be so glad. We would hug, and laugh, and share stories … And as I write this, I hold on to him, not wanting to let him go, not wanting to feel the loss, to feel him slide from my grasp, which I know I must, and then, too soon, he’s gone”(ebd., S. 238). Das Buch endet mit einem Traum, in dem sich Thomas Harding mit seinem Sohn vereint findet: “I know that this is a dream, I try not to wake up” (ebd., S. 241).
  8. Kuntner P., Spuren eines jungen Lebens, Katechetisches Amt. O. J., Bozen; Watt B., Patient. The True Story of a Rare Illness, Grove Press, London (1998)
  9. Girtanner M., Même les bourreaux ont une âme, cld Editions, Paris (2006)
  10. vgl. Wittgenstein L., Philosophische Untersuchungen, Blackwell, Oxford (1967), S. 244-246, S. 253, S. 256-258
  11. vgl. ebd., S. 250
  12. Man denke an die Geschichte der Schmerzkultur von Bourke J., The Story of Pain: From Prayer to Painkillers, OUP, Oxford (2014)
  13. vgl. zu den neurowissenschaftlichen Fundamenten von sozialem Schmerz: Eisenberger N., The pain of social disconnection: examining the shared neural underpinnings of physical and social pain, Nature Reviews Neuroscience (2012); 13(6): 421-434
  14. Sleptsova M., Wössmer B., Langewitz W., Migranten empfinden Schmerzen anders, Schweiz Med Forum (2009); 9(17): 319-321
  15. Carel H., Kidd I. J., Epistemic injustice in healthcare: a philosophial analysis, Medicine Health Care and Philosophy (2014); 17(4): 529-540
  16. Mackenzie C. et al., Introduction: What Is Vulnerability, and Why Does It Matter for Moral Theory? in: Mackenzie C. et al. (Hrsg.), Vulnerability, OUP, Oxford (2014), S. 1-29, S. 7
  17. Margalit A. sieht Ethik als Kampf gegen die menschliche Gleichgültigkeit – Margalit A., The Ethics of Memory, Harvard UP, Cambridge, MA (2002), S. 32-34
  18. Scott Peck hat diesen Realismus mit einem Verständnis von mentaler Gesundheit zusammengebracht: „Mental health is an ongoing process of dedication to reality at all costs” (Peck S., The Road Less Traveled, Simon & Schuster, New York, 2002, S. 50)
  19. Isaiah Berlin hat Empathiefähigkeit und Vorstellungskraft als zwei Schlüsselkompetenzen für Pluralismus angesehen (vgl. Ferrell J., Berlin I., Liberalism and pluralism in theory and practice, Contemporary Political Theory 2009; 8(3): 295-316) – wenn man Susan Sontags Bild (siehe Ref. 2) von den verschiedenen Staatsbürgerschaften ernst nimmt, bedeuten die Unterschiede im Schmerzerleben auch Pluralismus und verlangen in der Begegnung mit dem Schmerzfreien und dem Schmerzträger entsprechende Pluralismusfähigkeit, um den Graben des Unverständnisses zu verkleinern, den Krebspatient Tiziano Terzani geschildert hat: „Ein Gesunder kann einen Kranken nie richtig verstehen, und das ist auch ganz gut so. Egal wie er nun mit seinem Schicksal umgeht, findet man beim Kranken eine Trägheit, die aus Schwäche resultiert, aber auch eine Gelassenheit, die ein Gesunder mit all seinem Mitgefühl nicht nachempfinden kann“ (Terzano T., Noch eine Runde auf dem Karussell. Vom Leben und Sterben, München, 2007, S. 89).
  20. vgl. Mehta A., Chan L. S., Understanding of the Concept of ‚Total Pain‘, Journal of Hospice and Palliative Nursing (2008); 10(1): 26-32
  21. vgl. Cadrin D., La souffrance comme voie d’accès au reel chez Simone Weil et Paul de Tarse, Science et Esprit (2007); 59(1): 66-70
  22. Jesson S., Weil S., Suffering, Attention and Compassionate Thought, Studies in Christian Ethics (2014); 27(2): 185-201
  23. Weil S., Aufzeichnungen, 4 Bände, Band 4, Hanser, München (1998), S. 182; vgl. Pernkopf E., Ich will dich fragen… Simone Weil im Gespräch mit Hiob, Lectio difficilior 2 (2006)
  24. Kahane G., Feeling Pain for the Very First Time: The Normative Knowledge Argument, Philosophy and Phenomenological Research (2010); 80(1): 20-49
  25. Formosa P., The Role of Vulnerability in Kantian Ethics, in: Mackenzie C. et al. (Hrsg.), Vulnerability, OUP, Oxford (2014), S. 88-109, S. 89
  26. Anderson J., Autonomy and Vulnerability Intertwined, in: Mackenzie C. et al. (Hrsg.), Vulnerability, OUP, Oxford (2014), S. 134-161, S. 135
  27. Goodin R., Protecting the Vulnerable, Chicago UP, Chicago (1985), S. 34
  28. vgl. Sedmak C., Armutsbekämpfung, Böhlau Wien (2013), S. 70-75
  29. Bourdieu P., The Forms of Capital, in: Richardson J. (Hrsg.), Handbook of Theory and Research for the Sociology of Education, Greenwood Press, New York (1986), S. 241-258 (das Original erschien 1983)
  30. vgl. zu Auswirkungen auf Zahngesundheit und die Fähigkeit, mit dem eigenen Gebiss umzugehen: Bolgül S. et al., Congenital Insensitivity to Pain: A Case Report with Dental Implications, HK J Paediatr (2010); 15: 234-237; zu orthopädischen Auswirkungen vgl. Bar-On E. et al., Congential insensitivity to pain. Orthopaedic Manifestations, J Bone Joint Surg (2002); 84: 252-257
  31. beispielsweise Anderson C. A., An update on the effects of playing violent video games, Journal of Adolescence (2004); 27: 113-122
  32. Leknes S., Bastian B., The Benefits of Pain, Review of Philosophy and Psychology (2014); 5: 57-70
  33. Huxley A., Brave New World, New York, Harper&Row (1989), S. 245-247

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. MMag. DDDr. Clemens Sedmak
Professor für Philosophie
Katholisch-Theologische Fakultät
Universität Salzburg
Zentrum für Ethik und Armutsforschung
Mönchsberg 2a, A-5020 Salzburg
clemens.sedmak(at)sbg.ac.at

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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