Sterbehilfe: Zwischen Selbstbestimmungsenthusiasten und ökonomischen Zwängen

Imago Hominis (2015); 22(3): 151-155
Susanne Kummer

Die britische Debatte

Am 11. September 2015 hat das britische Parlament über einen Gesetzesvorschlag zur Freigabe der Beihilfe zur Selbsttötung in England und Wales abgestimmt. Das Ergebnis war eindeutig – und überraschte die mediale Erwartungen: Die überwältigende Mehrheit der Abgeordneten lehnte nämlich eine Freigabe des assistierten Suizids ab: 330 Parlamentarier stimmten gegen den von Labour-Abgeordneten Rob Marris eingebrachten Gesetzesentwurf, nur 118 Parlamentarier dafür. Der Fraktionszwang war aufgehoben worden, David Cameron hatte sich im Vorfeld gegen ein Gesetz zur Suizidbeihilfe ausgesprochen.

Das Gesetz hätte eine Regelung vorgesehen, wie sie derzeit im US-Bundesstaat Oregon gilt: Volljährige, die eine Lebenserwartung von weniger als sechs Monate hätten, können dort nach ärztlichem Gutachten professionelle Hilfe zur Selbsttötung in Anspruch nehmen, sofern sie freiwillig darum bitten und ein Gremium bestätigt, dass alle Auflagen erfüllt sind.1 Die umstrittene Organisation Dignitas, deren Mitglieder zu den Befürwortern des neuen Gesetzesvorhaben zählen, hatte nach eigenen Angaben in den vergangenen 17 Jahren 300 Briten, die in die Schweiz gereist waren, zum assistierten Suizid verholfen. Der „Suizid-Tourismus“ der Briten müsste nicht sein, wenn Beihilfe zur Selbsttötung auch in Großbritannien erlaubt wäre, so die Argumentation.

In den vergangenen Monaten hatte sich im Vereinigten Königreich, wo Beihilfe zur Selbsttötung ebenso wie in Österreich unter Strafe steht, der Streit um das Thema zugespitzt. Erstmals seit 1997 war im Unterhaus ein Gesetz zur Sterbehilfe debattiert worden, nachdem im Oberhaus eine entsprechende Gesetzesinitiative bereits in der vergangenen Legislaturperiode gescheitert war. Bereits im Mai hatte das schottische Parlament die Legalisierung der Suizidbeihilfe abgelehnt.

Für das klare britische Votum haben offenbar zwei Faktoren eine wichtige Rolle gespielt. Zum einen wird das als optimal gepriesene Oregon-Modell immer brüchiger, je näher man hinsieht, zum anderen haben die liberal denkenden Briten die Beweihräucherung des Gedankens absoluter Autonomie bei gleichzeitig realen Kürzungen der Ausgaben für das Gesundheitswesen als den eigentlich giftigen Cocktail für die Entwicklung der Gesellschaft erkannt.

So warnte Peter Saunders, selbst Mediziner und Vorsitzender des Vereins CareNotKilling, angesichts der massiven Kürzungen in der Versorgung mit Krebsmedikamenten davor, Suizid als gesellschaftsfähige Option darzustellen. Das britische National Health Service will in Zukunft 17 Krebsmedikamente für 25 verschiedene Indikationen nicht mehr bezahlen, womit künftig laut Saunders insgesamt zwei Drittel aller bisher bezahlten Therapien bei Brustkrebs oder Pankreaskrebs nicht mehr vom staatlichen Gesundheitssystem bezahlt würden. Im Fall einer Freigabe der Suizidbeihilfe, würden Ärzte nach und nach in die Rolle gedrängt, Selbsttötung quasi als Therapieoption anzubieten, was eine in Oregon bereits dokumentierte Praxis ist.

In Großbritannien haben die Befürworter des gesetzlich aufrechten engmaschigen Schutzes vulnerabler, weil kranker oder alter Personen, nun einen entscheidenden Sieg errungen. Das ist ein wichtiges Signal für die Debatte in Deutschland und Österreich.

Die deutsche Debatte

Im Herbst will der Deutsche Bundestag über eine Neuregelung der Sterbehilfe bzw. Beihilfe zur Selbsttötung abstimmen. Am 2. Juli 2015 wurde dazu intensiv in erster Lesung über vier Gesetzentwürfe debattiert.2 Abgeordnete quer durch alle Parteien hatten sich zusammengeschlossen und jeweils einen gemeinsamen Antrag eingebracht. Die vier Entwürfe reichen von einer kompletten Freigabe der Beihilfe zum Selbstmord bis hin zu einem Totalverbot des assistierten Suizids. Das Geschäft von professionellen Sterbehelfern, die über Vereine mit ihrer Dienstleistung Geld verdienen, soll unterbunden werden, darüber herrschte in der Bundestagsdebatte weitgehende Einigkeit.3

In Deutschland ist die Beihilfe zum Suizid nicht strafbar – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern wie Österreich, Italien, Finnland, Spanien, Polen und eben auch Großbritannien. Allerdings verbietet die Mehrheit der Ärztekammern in Deutschland ihren Mitgliedern, Patienten bei der Selbsttötung zu assistieren. Tun sie es doch, können sie ihre ärztliche Zulassung verlieren. Inzwischen bieten auch kommerzielle Organisationen „Sterbehilfe“ an und nutzen die Tatsache aus, dass die Beihilfe zum Suizid in Deutschland, etwa durch die Beschaffung eines tödlichen Medikaments, nicht strafbar ist.

Der Präsident der Bundesdeutschen Ärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, bekräftigte sein Nein zum sog. ärztlich begleiteten Suizid. Es gehöre nicht zu den Aufgaben eines Arztes, seinen Patienten bei der Selbsttötung zu helfen: „Unsere Aufgabe ist es, die Menschen beim Sterben zu begleiten und nicht sie umzubringen.“4 Er sieht in dieser Frage einen breiten Konsens innerhalb der Ärzteschaft. Der Deutsche Ärztetag, also das Parlament der Ärzte, habe sich mit 75 Prozent der Delegiertenstimmen bei wenigen Gegenstimmen gegen die aktive Sterbehilfe ausgesprochen.

Der Heidelberger Palliativmediziner Hubert J. Bardenheuer hält die aktuelle Regelung des standesrechtlichen Verbots aktiver Sterbehilfe für gut, es brauche keine neuen Gesetze. Individuelle Entscheidungen am Lebensende könne man nicht „gesetzlich geregelt haben wie einen Autokauf“, betont der Mediziner. Dass Ärzte rein strafrechtlich schon jetzt in Deutschland Patienten einen tödlichen Giftbecher hinstellen können, hält er für „heuchlerisch“, denn: „Danach muss ich aber aus dem Zimmer gehen. Würde ich dableiben, wäre ich verpflichtet zu helfen. Dabei muss in bis zu 30 Prozent der Fälle nachdosiert werden, weil es beispielsweise zu Erbrechen kommt. Das ist keine beruhigende Vorstellung.“5 Seiner Ansicht nach verstelle die „missionarische politische Diskussion den Blick darauf, was Menschen am Ende ihres Lebens wirklich brauchen, nämlich Zuwendung und qualifizierte medizinische Hilfe“. Menschen mit Suizidwünschen oder in Schmerz und Leid müsse und könne man ihre Ängste nehmen.

Die österreichische Debatte

Auch die Österreichische Ärztekammer hatte im Dezember 2014 einstimmig die Mitwirkung von Ärzten bei Suiziden abgelehnt. Dies widerspreche dem „ärztlichen Berufsethos“ und dürfe „nicht Bestandteil ärztlichen Handelns sein“, so die Stellungnahme. Dringend erforderlich sei vielmehr ein umfassender Ausbau der Palliativmedizin in Österreich.

Doch dieser lässt auf sich warten. Im März 2015 hatte die parlamentarische Enquete-Kommission „Würde am Ende des Lebens“ dem Nationalrat 51 Forderungen übergeben, die nach monatelangem Austausch mit mehr als 100 Experten erarbeitet wurden, dieses Positionspapier wurde von allen sechs Fraktionen einstimmig beschlossen. Es herrschte ein breiter Konsens darüber, dass es auch in Zukunft keinen ärztlichen Auftrag zur Beihilfe zum Suizid gibt. Die Hauptpunkte der Empfehlungen lauteten: Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung, Vereinfachung von Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht sowie eine Verbesserung der Ausbildung von Ärzten und Pflegenden in der End-of-Life-Care. Die genannten Summen für die rasche Umsetzung der Maßnahmen für Hospiz und flächendeckende Palliativversorgung nehmen sich bescheiden aus: Konkret empfiehlt die Kommission in den kommenden zwei Jahren jeweils 18 Millionen Euro zum Ausbau der Versorgung einzusetzen. Zum Vergleich: Allein im Jahr 2014 hatte die öffentliche Hand rund 192 Millionen Euro für Inserate und Werbekampagnen ausgegeben, die Gemeinde Wien an der Spitze mit 41,5 Millionen Euro an Werbeschaltungen. Derzeit beträgt der Deckungsgrad an Hospiz- und Palliativversorgung österreichweit nur rund 50 Prozent.

Überraschend prompt kam die ablehnende Reaktion der Regierung: Sowohl die – selbst an Krebs erkrankte – Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser (SPÖ) als auch Sozialminister Karl Hundstorfer (SPÖ) ließen verlauten, dass ihre Ministerien dafür „kein Geld übrig“ hätten. Nun: Sache der Ministerien ist es ja nicht, Geld für den Tag X anzusparen und übrig zu haben, sondern Prioritäten zu setzen. Diese scheinen jedenfalls derzeit nicht bei den Bedürftigen zu liegen – vielleicht auch, weil Sterbenskranke als Wähler nicht interessant sind?

Dass gerade von Seiten der Sozialdemokraten ein Njet zur besseren Begleitung und Versorgung Sterbender kommt, ist gesinnungspolitisch schwer nachvollziehbar. Durch eine verbesserte Palliativmedizin, die auch rechtzeitige Therapiezieländerungen beeinflusst und unnötiges Übertherapieren verhindert, kann Geld gespart werden. Sollten die Ministerien sich der Not der Patienten verweigern, wäre das der Beginn eines „Zwei-Klassen-Sterbens“. Denn dann entscheiden letztlich Vermögensverhältnisse, ob sich Sterbende ein geschultes Hospizteam und eine würdevolle Umgebung leisten können oder nicht.6

Die Rede vom fehlenden Geld ist also eine Ausrede. Und diese könnte der Gesellschaft letztlich bitter zu stehen kommen. Anhand der Daten aus anderen EU-Ländern, wie Belgien und den Niederlanden oder der Schweiz kann man erahnen, wie sich eine Liberalisierung auf eine Gesellschaft auswirkt. Dass die Hemmschwelle zu töten unter Ärzten sinkt, sobald die zertifizierte Mithilfe zur Tötung legalisiert wird, zeigt eine 2014 im Journal of Medical Ethics veröffentlichte Studie.7 Von 2.500 befragten niederländischen Ärzten befürwortete jeder Dritte Euthanasie und Beihilfe zum Suizid bei Dementen im Frühstadium, psychisch Kranken und lebensmüden Gesunden. Die Einstellungen zum assistierten Suizid variierten: Die meisten Ärzte würden assistierten Suizid bei Krebspatienten (85 Prozent) oder anderen körperlichen Krankheiten (82 Prozent) befürworten. Ein Drittel (34 Prozent) wäre auch bei psychischen Erkrankungen dazu bereit. Wo der Staat am Sterbebett Freibriefe zur Tötung und Beihilfe zur Selbsttötung per Gesetz ausstellt, steigt die Dunkelziffer.8

Recht auf Selbsttötung?

Ein oft wiederholtes Argument in der Debatte um den assistierten Suizid lautet: Ärzte brauchen mehr Rechtssicherheit, der Staat müsse seiner Fürsorge gegenüber Bürgern in verzweifelten Notsituationen nachkommen.9 Doch: Ist die geforderte Beihilfe zum Suizid durch einen Arzt einfach die positive Verlängerung ärztlicher Sterbehilfe?10

In der Frage des Menschenrechts auf Leben und damit der Grundpflicht des Staates, das Leben eines Menschen zu schützen, ist das Muster „Verbot der Beihilfe zum Suizid bei gleichzeitiger Erlaubtheit in vorab definierten Sonderfällen“ eine Mogelpackung. Prinzipielle Gründe für ein Verbot der Tötung eines Menschen werden aufgeweicht, durch pragmatische (Ausnahmeregelung) ersetzt – und diese sind dehnbar und entziehen sich im konkreten Fall schließlich auch der Kontrolle, wie die empirischen Daten zur Handhabung der Beihilfe zum Suizid und Euthanasie aus den Niederlanden und Belgien zeigen. Es bleibt die Frage: Gibt es überhaupt so ein Recht?11 Der Staat will nur offiziell zertifizierte Todeswünsche als selbstbestimmt gelten lassen, beschränkt auf Schwerkranke. Warum gerade die Autonomie der Kranken, die durch physische und psychische Nöte beeinträchtigt sind, für den Gesetzgeber höherwertiger ist als jene der Gesunden, bleibt fraglich. Stillschweigend schwingt hier wohl das Urteil des Gesunden mit, der den Suizid eher „exkulpiert“, wenn ihm die Gründe nachvollziehbar scheinen.

Wer es aber ernst meint mit dem Recht auf Selbstbestimmung, darf das Recht auf Suizid ja nicht auf Kranke beschränken, sondern muss ihn auch bei Liebeskummer oder allgemeiner Lebensmüdigkeit erlauben.12 Die Schweiz ist diesen Schritt mit dem Angebot des „Altersfreitodes“, der auch ohne unheilbare Krankheit gewährt wird, schon gegangen. Auch gesunde alte Menschen sollen vom neuen Markt nicht ausgeschlossen werden.

Nun versuchen sich Suizid-Befürworter in Deutschland und Österreich tunlichst von Ländern, in denen Euthanasie oder organisierter Suizid erlaubt ist, abzugrenzen: Nur der assistierte Suizid soll in Ausnahmefällen erlaubt werden, Töten auf Verlangen jedoch untersagt bleiben. Dann käme es über die Jahre zu keinem nennenswerten Anstieg der Fälle von Patienten, die sich mit Hilfe von Angehörigen oder eines Arztes ihr Leben nehmen.

Die vermeintlich guten Erfahrungen in Oregon und in den Niederlanden

Das Argument, es habe keinen nennenswerten Anstieg von Suiziden nach der Einführung des Death with Dignity-Act im US-Bundesstaat Oregon gegeben,13 entbehrt nicht eines gewissen Zynismus. Für ein Land wie Österreich würden die aktuellen Zahlen aus Oregon proportional bedeuten, dass sich pro Jahr 210 Menschen mit Hilfe von Ärzten das Leben nehmen. Zum Vergleich: Im Jahr 2012 starben in Österreich 161 Menschen durch Drogen, als 2013 die Zahl der Drogentoten auf 138 zurückgegangen ist, sprach man zu Recht von einem „positiven Trend“, denn: Jeder Mensch zählt. Warum nicht dann auch beim ärztlichen Suizid? Warum tut man hier so, als ob 210 Menschen quasi eine vernachlässigbare Größe wären?

Suizidbefürworter loben, dass sich die Palliativmedizin in Oregon und der Schweiz – wo der assistierte Suizid – und den Niederlanden – wo auch Tötung auf Verlangen erlaubt ist – stetig verbessert habe, ja auf international höchstem Niveau sei.

Der holländische Journalist Gerbert van Loenen stellt das nicht in Abrede. Die staatliche Förderung der Behindertenbetreuung und am Pflegesektor in den Niederlanden sei großzügig. Doch die Kehrseite ist unübersehbar:14 Er spricht von einem „Paradoxon der guten Betreuung“ in den Niederlanden und zeigt, dass „ein idealistisches Menschenbild, eine gute Betreuung und eine menschenbedrohende Praxis Hand in Hand gehen“ können. „Wir hegen derart hehre Ideale in Bezug auf das Menschsein, dass wir enttäuscht werden, wenn jemand trotz unserer Fürsorge nicht diesen Idealen entspricht.“15 Das vorherrschende, medial und durch Thesen wie jener eines Rechts auf Beihilfe zum Suizid genährte Bild eines guten Lebens führt dazu, dass jene, die „trotz aller Fürsorge, trotz aller guten Absichten“ nicht imstande sind, „bis zum erstrebten Niveau eines selbstbestimmten, kommunizierenden, sich entwickelnden Individuums aufzusteigen, wer abhängig bleibt, nichts kann, nichts wird und nicht angenehm kommuniziert, kann aus der Gemeinschaft der Menschen ausgestoßen werden.“ In solchen Fällen werde  dann argumentiert, dass „der Tod die beste Lösung für diese Person sei.“16

Für den Niederländer geht es letztlich „um die Vorstellung, die wir uns vom ‚Menschen‘ machen. Je mehr es unserem Idealbild entspricht, dass der Mensch sein Leben selbstbewusst in die Hand nimmt, desto höher ist das Risiko, dass dabei Menschen über Bord gehen, die dem nicht entsprechen können.“17

Loenen zeigt, wie wenige Jahre nach der Legalisierung des assistierten Suizids und der Tötung auf Verlangen die Sprache führender Ärzte in den Niederlanden offenbar etwas „direkter“ wurde. Das Leben ihrer dementen Patienten erschien ihnen als lebensunwert, was beim Vorsitzenden der Niederländischen Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende (NVVE) in einem Interview dann so klang: Er plädiert für aktive Sterbehilfe bei Demenzkranken, wenngleich es auch das Recht jedes einzelnen bleiben müsse, „als Zombie in Kackwindeln dahinzusiechen“.18 Die Maske fällt, rascher als die Verfechter der Selbstbestimmung am Lebensende es wahr haben möchten. Gesetze schaffen Kultur, ein Klima, eine Atmosphäre. Das zeigt die abschätzig (ver)urteilende Bemerkung des NVVE-Vorsitzenden deutlich. Verächtlich zieht der Arzt über hilfsbedürftig Kranke her – und verkauft dies als Plädoyer für mehr Selbstbestimmung.

Suizid und Öffentlichkeit

„In der Öffentlichkeit wird der Suizid prominenter Persönlichkeiten oft so geschildert, als wäre damit der entscheidende Test auf die Autonomie bestanden worden – von der Tragik des Geschehens keine Spur. Muss man da nicht stutzig werden?“, fragt Christina Geyer.19 Man muss.

Gerade in der Sterbehilfe-Debatte öffnet sich der Graben einer Doppelmoral. Wir predigen Suizidprävention und fordern gleichzeitig die Bereitstellung tödlicher Medikamentencocktails für Suizidwillige. Die Tendenz, Suizidwillige und vulnerable Personengruppen wie Ältere, Einsame oder Kranke für eine Debatte rund um ein würdiges Sterben zu instrumentalisieren, ist gefährlich. Wenn wir als Gesellschaft menschenwürdig, solidarisch und mit Respekt vor einer richtig verstandenen Autonomie leben wollen, dann muss der Schutz von besonders verwundbaren Personen vor Tötung oder Beihilfe zur Selbsttötung ein Fundament der Rechtsordnung bleiben.

Und wir müssen wieder die richtige Sprache zurückgewinnen. Der ehemalige SPD-Vorsitzender Franz Münterfering, der für ein Verbot des assistierten Suizids eintritt, brachte dies in einem Interview treffend auf den Punkt:20 „Ich hab mindestens zweimal aktive Sterbehilfe gemacht… Sehr aktiv sogar, bei meiner Mutter und bei meiner Frau: Hand gehalten, dabeigesessen, getröstet. Hilfe beim Sterben brauchen alle Menschen. Denen, die für Hilfe beim Töten sind, sollten wir das Wort Sterbehilfe nicht überlassen.“

Referenzen

  1. Assisted dying bill overwhelmingly rejected by MPs, The Guardian, 11. September 2015
  2. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 18/115, 2. Juli 2015, dipbt.bundestag.de/doc/btp/18/18115.pdf (letzter Zugriff am 5. August 2015)
  3. Reimer S. C., Die Details der vier Gesetzesentwürfe, Das Parlament, Nr. 28-30, 6. Juli 2015
  4. Die Aufgabe ist es, Leiden zu lindern, Schwäbische Zeitung, 2. Juli 2015
  5. Frank K., „Die Gesellschaft will das Sterben geregelt haben wie einen Autokauf“, Interview mit Hubert J. Bardenheuer , Rhein-Neckar-Zeitung, 2. Juli 2015
  6. Walterskirchen G., Kein Geld für mehr Hospize: Die Zukunft des Zwei-Klassen-Sterbens, Die Presse, 8. März 2015
  7. Bolt E. E. et al., Can physicians conceive of performing euthanasia in case of psychiatric disease, dementia or being tired of living? J Med Ethics, doi:10.1136/medethics-2014-102150
  8. vgl. Kummer S., Lebenshilfe statt Tötungslogik. Für eine neue Kultur des Beistands, Imago Hominis (2014); 21(3): 166-168
  9. Borasio G. D., selbst bestimmt sterben. Was es bedeutet. Was uns darin hindert. Wie wir es erreichen können, C. H. Beck, München (2014)
  10. folgende Gedanken ausführlicher dargestellt in: Kummer S., Ex in the City, in: Hoffmann T. S., Knaup M., Was heißt in Würde sterben? Wider die Normalisierung des Tötens, Springer, Wiesbaden (2015), S. 19-48
  11. vgl. Schmoller K., Euthanasie und Rechtsordnung. Rahmenbedingungen einer juristischen Diskussion über Euthanasie, Imago Hominis (1999); 6(2): 115-130
  12. vgl. Spaemann R., Fuchs T., Töten oder sterben lassen, Herder, Freiburg (1997)
  13. Borasio G. D., siehe Ref. 8, S. 113
  14. Van Loenen G., Das ist doch kein Leben mehr! Warum aktive Sterbehilfe zur Fremdbestimmung führt, Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main (2014)
  15. ebd., S. 216
  16. ebd., S. 216 
  17. ebd., S. 215
  18. zit. nach Van Loenen G., siehe Ref. 14, S. 205
  19. Geyer C., Gefüttert und abgeputzt, Frankfurter Allgemeine, 21. März 2015
  20. Hildebrandt T., „Das Leben ist eine tolle Sache“, Interview mit Franz Müntefering, Die Zeit, 8. Jänner 2015

Anschrift der Autorin:

Mag. Susanne Kummer
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