Der Demenzkranke als Mitmensch

Imago Hominis (2015); 22(4): 259-266
Andreas Kruse

Zusammenfassung

Nach einer Einstimmung, in der Befunde aus der Forschung und Praxis der Demenz berichtet werden, geht der Beitrag auf die erhöhte Verletzlichkeit bei Demenz ein. Er fragt, inwieweit Gesellschaft und Kultur demenzkranke Menschen unterstützen können, mit der erhöhten (kognitiven, körperlichen und emotionalen) Verletzlichkeit zu leben. Dabei wird betont, dass eine kritische Reflexion unseres Menschenbildes notwendig ist, welches kognitive Leistungen betont, hingegen andere Qualitäten der Person weitgehend vernachlässigt. Zentrale Kategorien eines „guten Lebens“ im Alter werden diskutiert; es wird aufgezeigt, dass diese auch die Betrachtung eines demenzkranken Menschen leiten sollten.

Schlüsselwörter: Menschenbild, Menschenwürde, Demenz, Verletzlichkeit, soziale Bezogenheit, Ressourcen

Abstract

This article begins with findings and facts from dementia research and practice, which will stress the high vulnerability of patients with dementia. It asks how society and culture can help people with dementia to live with their increased cognitive, physical, and emotional vulnerability. A critical reflection about our concept of man is required, as it often emphasizes cognitive ability but neglects a person’s other qualities. The central categories that make up a “good life” in old age are discussed; and they should be expanded upon when dealing with dementia patients.

Keywords: anthropology, dignity, dementia, vulnerability, social aspects, resources


Frage nicht danach, wem die Stunde schlägt, denn sie schlägt immer dir.

1. Zur Einstimmung: Einige Aspekte des Themas „Demenz“

Mit dem Thema der Demenz sind zahlreiche Themenaspekte verknüpft: Ist Demenz eine Krankheit? Hier ist zu antworten: Demenz ist der Oberbegriff für zahlreiche, zum Teil sehr unterschiedlich verlaufende Erkrankungen. Besteht mit Blick auf Demenzen ein Präventionspotenzial, lassen sich also Demenzen durch gesunde Lebensführung vermeiden? Hier ist zu antworten: Die vaskulären, also gefäßbezogenen Komponenten der Demenz weisen ein Präventionspotenzial auf; dies ist jedoch bei den neurodegenerativen Komponenten – das heißt bei den primären Schädigungen der Nervenzellen und ihrer Verbindungen – nicht der Fall: Hier zeigt sich nach dem heutigen Stand der Forschung noch kein Präventionspotenzial. Sind damit alle Präventionskonzepte mit Blick auf neurodegenerative Demenzformen wertlos? Hier ist zu antworten: Keinesfalls, denn wir können durch den Aufbau von geistigen, emotionalen, sozialkommunikativen, alltagspraktischen und körperlichen Ressourcen dazu beitragen, dass im Falle einer eingetretenen Erkrankung die Krankheitssymptome (zum Teil: deutlich) später eintreten als ohne einen derartigen Ressourcenaufbau, sodass sich Gesundheitsförderung und Prävention lohnen. Lässt sich die Alzheimer-Demenz ursächlich (kausal) behandeln? Nach heutigen Erkenntnissen ist dies nicht der Fall. Aber es sollte hinzugefügt werden, dass sowohl im Hinblick auf die Medikamentenentwicklung und die Früherkennung (Frühdiagnostik) der Alzheimer-Demenz seit Jahren umfangreiche Forschung betrieben wird, auf deren Grundlage in Zukunft eine ursächliche Behandlung möglich werden könnte. Kann man den Symptomverlauf einer Demenz beeinflussen? Die Antwort lautet: Ja! Durch eine rechtzeitig einsetzende Medikation, verbunden mit einem geistigen und körperlichen Training wie auch mit dem Eingebundensein in emotional und geistig lebendige soziale Netzwerke, kann in den früheren Phasen der Demenz der Symptomverlauf günstig beeinflusst werden. Gehen in späteren Phasen der Demenz alle Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen zurück? Hier ist zu antworten: Es bilden sich im Krankheitsprozess die meisten Fähigkeiten und Fertigkeiten zurück, doch dies in unterschiedlicher Geschwindigkeit, in unterschiedlichem Maße und in unterschiedlicher Tiefe. So gehen gefühlsbezogene und empfindungsbezogene Qualitäten deutlich später zurück als kognitive Qualitäten; zudem weist deren Rückgang nicht das Ausmaß sowie die Tiefe des Verlusts auf, wie dies bei den kognitiven Qualitäten der Fall ist. Können demenzkranke Menschen in späten Phasen ihrer Erkrankung auf ihre soziale Umwelt reagieren? Hier lautet die Antwort: Ja! Und bei einer feinfühligen Ansprache sind demenzkranke Menschen auch in der Lage, die emotionale Gestimmtheit anderer Menschen differenziert zu erfassen. Können sie sich an Personen wie auch an Dingen und Prozessen in ihrer Umwelt erfreuen? Sie können. Können sie sich in einem späten Krankheitsstadium an Ereignisse und Erlebnisse in ihrer Biografie erinnern? Ja, an einzelne Ereignisse und Erlebnisse – wenn auch nicht mehr in der früheren Differenziertheit, in der früheren Tiefe. Doch ist zu beobachten, dass bestimmte Situationen ein Erinnerungszeichen tragen, auf das die demenzkranke Person mit emotionalen und verhaltensbezogenen Reaktionen antwortet, die eine gewisse biografische Kontinuität aufweisen, also mit früheren Reaktionen in Teilen verwandt sind. Sind demenzkranke Menschen wie Kinder anzusprechen? Nein! Auch wenn sie in den späteren Phasen der Krankheit einen Grad an Verletzlichkeit aufweisen, der jenem von Kindern entspricht, so haben sie doch eine Biografie erlebt und gestaltet, die fortlebt, die aktuelles Erleben und Verhalten in Teilen „bahnt“. Büßen demenzkranke Menschen mit zunehmender Krankheitsschwere ihre Würde ein? Nein! Jeder Mensch besitzt als Mensch Menschenwürde; diese fundamentale Menschenwürde ist nicht an Eigenschaften sowie an Fähigkeiten und Fertigkeiten gebunden. Allerdings gibt es auch eine an die Identität der Person und damit auch an deren Eigenschaften sowie an deren Fähigkeiten und Fertigkeiten gebundene, spezifische Würde – diese verändert sich in dem Maße, in dem sich Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten zurückbilden. Diese spezifische Würde ist aber etwas anderes als die fundamentale Würde, die eben nicht „disponibel“ ist, mithin dem demenzkranken Menschen auch in den Endphasen der Erkrankung nicht abgesprochen werden kann und darf. Es ist dabei zu beachten: Die Würde eines Menschen muss leben, muss sich verwirklichen können – denn sonst bleibt die Würde abstrakt. Verwirklichen kann sie sich vor allem in vertrauensvollen, lebendigen sozialen Beziehungen. Auch deshalb sind demenzkranke Menschen auf sorgende Gemeinschaften angewiesen, in denen sie Schutz, Zuneigung, Bekräftigung, Trost, Motivation finden. Wir neigen ja dazu, in der öffentlichen Diskussion die Autonomie des Menschen in das Zentrum zu stellen und Fragen der Menschenwürde ausschließlich an die Autonomie zu binden. Dabei übersehen wir, dass die (erlebte und gelebte) soziale Bezogenheit für die Menschenwürde genauso bedeutsam ist: denn ohne lebendige, vertrauensvolle Beziehungen kann der Mensch nicht sein, kann sich seine Würde nicht verwirklichen. Empfinden demenzkranke Menschen körperliche Schmerzen? Ja, und vielfach deutlich intensiver als Menschen ohne Demenz – was vor allem damit zu tun hat, dass sie die Schmerzquelle nicht lokalisieren und sich kognitiv und emotional nicht gegen den Schmerz schützen können. Nehmen sich Demenzkranke in späten Phasen ihrer Erkrankung eigentlich als „krank“ wahr? Sie erleben sich als in irgendeiner Weise „verändert“, sie haben Angst, „aus der Welt zu fallen“. Der von nicht wenigen demenzkranken Menschen immer wieder ausgebrachte Hilferuf („Hilfe!“) gründet auf Ängsten vor Verlassenheit und Schutzlosigkeit. Derartige Ängste und Freude (in Situationen mit entsprechendem Erinnerungszeichen) können sich übrigens rasch abwechseln. Ist in den späten Phasen der Demenz eine einfühlsame Kommunikation für die Lebensqualität des Demenzkranken von Bedeutung? Unbedingt! Eine derartige Kommunikation ist in allen Phasen der Erkrankung von großer Bedeutung; sie bildet eine zentrale Einflussgröße von Wohlbefinden. Spüren Demenzkranke, in welcher Haltung ihnen andere Menschen begegnen – auch wenn sich diese verstellen? Ja, sie nehmen dies sogar sehr genau wahr, was auch damit zu tun hat, dass Emotionen und Affekte in ihrer Differenziertheit sehr lange bestehen bleiben. Werden Maßnahmen, die einen Freiheitsentzug bedeuten (körperliche Fixierungen), von Demenzkranken tatsächlich als Beschränkung oder Entzug der Freiheit erlebt? Hier lautet die Antwort eindeutig: Ja! Wie ist in diesem Zusammenhang die Gabe von Neuroleptika zu bewerten, die ja in letzter Konsequenz auch mit einem Verlust der Freiheit verbunden ist? Es sollte alles dafür getan werden, die Gabe von Neuroleptika zu vermeiden und psychopathologische Symptome durch eine feinfühlige psychosoziale Begleitung zu lindern. Wenn sich demenzkranke Menschen angenommen, ernstgenommen, beschützt, geschützt und sozial eingebunden erleben, wenn sie in einer für sie optimalen Art und Weise angeregt werden, wenn ihr Alltag ein ausreichendes Maß an Struktur aufweist: dann wird auch eine innere Lage gefördert, die in weiten Phasen relativ frei von Affektspitzen, Agitation, reicher Symptombildung (Psychopathologie) und stark ausgeprägter Unruhe ist. In einer entsprechend gestalteten, agierenden und reagierenden Umwelt lässt sich die Gabe von Neuroleptika erkennbar verringern.

2. Die deutlich erhöhte Verletzlichkeit menschlichen Lebens in der Demenz

Die Demenzerkrankung konfrontiert – vor allem in einem fortgeschrittenen Stadium – mit einer Seite des Lebens, die Individuum und Gesellschaft vor besondere Herausforderungen stellt: mit der Verletzlichkeit, Vergänglichkeit und Endlichkeit der menschlichen Existenz. Die hohe Anzahl von Neuerkrankungen – diese wird in Deutschland aktuell auf ca. 250.000, in Österreich auf ca. 26.000, in der Schweiz auf ca. 24.000 jährlich geschätzt – wie auch Szenarien der Weltgesundheitsorganisation (WHO), denen zufolge sich die Anzahl demenzkranker Menschen bis zum Jahre 2050 verdoppeln, wenn nicht sogar verdreifachen wird, führen zunächst die Notwendigkeit vor Augen, vermehrt in die Entwicklung kausaler Therapieansätze und von Methoden der Frühdiagnostik zu investieren – was in Deutschland mit dem im Jahre 2009 gegründeten Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) geleistet wurde. Zudem legt sie den intensiv geführten, öffentlichen Diskurs über den kulturellen, gesellschaftlichen und politischen (und nicht nur individuellen) Umgang mit der erhöhten Verletzlichkeit im Leben wie auch mit den Grenzen des Lebens nahe. Auch wenn zu hoffen ist (und von einer nicht geringen Anzahl von Forscherinnen und Forschern erwartet wird), dass in absehbarer Zeit wirkungsvolle Therapieansätze für Patientinnen und Patienten mit Alzheimer-Demenz entwickelt werden, so drängt sich trotzdem die Frage auf, inwieweit in dieser Krankheit – ganz ähnlich wie bei Tumorerkrankungen – auch letzte Grenzen der menschlichen Existenz offenbar werden. Diese Frage wird durch die Tatsache nahegelegt, dass die Prävalenz der Demenzerkrankungen mit steigendem Alter deutlich zunimmt: Bei einem Sechstel der 80 bis 85-Jährigen, bei einem Fünftel der 86 bis 90-Jährigen und bei 40 Prozent der über 90-Jährigen liegt eine Demenz vor. Diese enge statistische Beziehung zwischen Krankheitshäufigkeit und Lebensalter spricht für die Annahme, dass sich in der Demenz auch letzte Grenzen unseres Lebens widerspiegeln. Andererseits darf nicht unerwähnt bleiben, dass der Anstieg der Anzahl Neuerkrankter in den letzten Jahren nicht so hoch ausgefallen ist, wie dies in Entwicklungsszenarien angenommen worden war. Doch ist zugleich der Hinweis wichtig, dass sich diese günstige Entwicklung vor allem den mehr und mehr ausgeschöpften Präventionspotenzialen im Hinblick auf die vaskulären (gefäßbedingten) Komponenten der Demenz verdankt.

Im Falle eines in den kommenden Jahren ausbleibenden Erfolgs bei der Suche nach kausalen Therapieansätzen könnte sich die in allen Szenarien der Bevölkerungsentwicklung angenommene Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung als eine besondere Herausforderung für unsere Gesellschaft und Kultur erweisen:1 Ist doch davon auszugehen, dass sich in der Demenz eine immer häufiger auftretende Verletzlichkeit widerspiegelt, dass sich die Demenz, dass sich der demenzkranke Mensch immer mehr zu einer modernen Form des memento mori entwickelt. In dem demenzkranken Menschen zeigt sich uns dann nicht nur ein von einer bestimmten Krankheit betroffener, anderer Mensch, sondern in diesem begegnen wir immer mehr uns selbst in unserer eigenen Verletzlichkeit, Vergänglichkeit, Endlichkeit.

Derartige Gedanken können unsere Einstellung gegenüber einem demenzkranken Menschen wie auch unsere Verantwortung diesem gegenüber erheblich beeinflussen: Denn wenn wir uns vor Augen führen, dass aufgrund der zunehmenden durchschnittlichen Lebenserwartung immer mehr Menschen mit dem Risiko einer Demenzerkrankung konfrontiert sind und dass diese Erkrankung immer häufiger das Ende unseres Lebens markiert, dann weitet sich die Frage nach einer fachlich und ethisch fundierten Begleitung demenzkranker Menschen mehr und mehr zur Frage nach einer fachlich und ethisch fundierten Palliativversorgung. Hier sei auf eine Aussage des englischen Priesters und Schriftstellers John Donne (1572 – 1631) Bezug genommen, in der es heißt: „Do not send to know for whom the bell tolls, it always tolls for thee.“2 Auf unser Thema übertragen: Wir werden uns mehr und mehr mit der Tatsache auseinandersetzen zu haben, dass sich im Schicksal des demenzkranken Menschen auch mein eigenes mögliches Schicksal widerspiegelt.

Eine solche Vorstellung, ein solcher Gedanke muss nicht nur etwas Schreckendes haben, er kann auch produktive Überlegungen anstoßen. Eine Überlegung sei hier kurz dargelegt: Wir sollten unser eigenes Menschenbild reflektieren – und zwar in der Hinsicht, dass wir uns fragen, welche Qualitäten zur Persönlichkeit gehören und inwieweit es gelingen kann, aus der Verwirklichung schon einer dieser Qualitäten Freude, Glück und Erfüllung zu schöpfen. Dies bedeutet, dass wir der implizit oder explizit geäußerten Annahme, die Persönlichkeit sei vor allem oder sogar ausschließlich durch ihre kognitiven Ressourcen definiert, (selbst-)kritisch begegnen und konstatieren, dass auch emotionale, empfindungs- und begegnungsbezogene Qualitäten eine bedeutende Quelle der Freude, des Glücks und der Erfüllung darstellen.3 Ist einmal dieser Gedanke vollzogen, dann wird sich auch der Blick auf jenen Menschen, bei dem eine Demenzerkrankung aufgetreten ist, differenzieren: Wir erkennen in diesem deutlich mehr, als wir vorher erkannt haben; wir nehmen in diesem deutlich mehr Qualitäten wahr, als dies vorher der Fall gewesen ist; wir erkennen, dass trotz der Ordnung des Todes, die sich in diesem Menschen bereits deutlich zeigt, auch die Ordnung des Lebens ihr Gewicht, ihr Recht besitzt.

3. Ein gutes Leben bei Demenz? Ethische Überlegungen

In einem ethischen Entwurf zum guten (oder gelingenden) Leben im Alter4 habe ich fünf Kategorien in das Zentrum der Überlegungen gestellt: (a) Selbstständigkeit, (b) Selbstverantwortung, (c) bewusst angenommene Abhängigkeit, (d) Mitverantwortung, (e) Selbstaktualisierung. Dabei lassen sich diese fünf Kategorien wie folgt definieren:

Selbstständigkeit beschreibt die Fähigkeit des Menschen, ein von Hilfen anderer Menschen (weitgehend) unabhängiges Leben zu führen oder aber im Falle des Angewiesenseins auf Hilfen diese so zu gebrauchen, dass ein selbstständiges Leben in den für die Person zentralen Lebensbereichen möglich ist.

Selbstverantwortung beschreibt die Fähigkeit und Bereitschaft des Individuums, den Alltag in einer den persönlichen Vorstellungen eines guten Lebens entsprechenden Art und Weise zu gestalten und sich mit der eigenen Person wie auch mit den Anforderungen und Möglichkeiten der persönlichen Lebenssituation auseinanderzusetzen. Zudem beschreibt Selbstverantwortung im Prozess der medizinischen und der pflegerischen Versorgung die Mitbestimmung des Patienten bei der Entscheidung über die Art der zu wählenden Intervention.

In der bewusst angenommenen Abhängigkeit spiegelt sich die Fähigkeit des Menschen wider, das – auch objektiv gegebene – Angewiesensein auf Unterstützung als Ergebnis seiner Verletzlichkeit und damit als ein Merkmal der conditio humana zu deuten und anzunehmen. Sie beschreibt zudem die Fähigkeit, irreversible Einschränkungen und Verluste anzunehmen, wobei diese Fähigkeit durch ein individuell angepasstes und gestaltbares System an Hilfen gefördert wird, durch Hilfen, die dazu beitragen, Einschränkungen und Verluste in Teilen zu kompensieren oder deren Folgen erkennbar zu verringern.

In der Mitverantwortung kommen die Fähigkeit und die Bereitschaft des Menschen zum Ausdruck, sich in die Situation anderer Menschen hineinzuversetzen, sich für andere zu engagieren, Verantwortung innerhalb von sorgenden Gemeinschaften zu übernehmen.

Selbstaktualisierung beschreibt die Verwirklichung von Werten, Fähigkeiten, Neigungen und Bedürfnissen und die in diesem Prozess erlebte Stimmigkeit der Situation. Dabei ist für das angemessene Verständnis der Selbstaktualisierung die Aussage wichtig, dass die Person sehr verschiedenartige Qualitäten umfasst: In einer ersten Differenzierung kann zwischen den körperlichen, den kognitiven, den emotionalen, den empfindungsbezogenen, den sozial-kommunikativen, den ästhetischen, den alltagspraktischen Qualitäten unterschieden werden. Jede dieser Qualitäten steht dabei schon für sich alleine als Quelle der Selbstaktualisierung.

Diese fünf Kategorien bilden, wie bereits dargelegt, nach unserem Verständnis den Kern eines guten Lebens im Alter. Denn Selbstständigkeit und Selbstverantwortung spiegeln das Moment der Selbstsorge – oder der Verantwortung vor sich selbst und für sich selbst – wider, das deswegen als zentral für das gelingende Leben erachtet werden kann, da es die Fähigkeit zur Gestaltung des eigenen Lebens betont. Dabei bildet auch bei der Demenz – solange entsprechende körperliche und seelisch-geistige Ressourcen gegeben sind – die Selbstsorge ein bedeutendes Motiv. Werden Demenzkranke in der Verwirklichung dieses Motivs beschnitten (siehe hier die freiheitsentziehenden Maßnahmen), dann reagieren sie vielfach agitiert, mit heftigem Affektausdruck, wenn nicht sogar mit einer deutlichen Akzentuierung psychopathologischer Symptome. Es ist bei aller Begleitung eines demenzkranken Menschen wichtig, dass sich der Respekt vor dessen Würde auch im Respekt vor dessen (wenn auch eingeschränkter) Fähigkeit zur Selbstsorge ausdrückt. Aus diesem Grunde ist die Aufgabe einer fachlich und ethisch anspruchsvollen medizinisch-pflegerischen, psychosozialen und spirituellen Betreuung vor allem darin zu sehen, die Ressourcen für ein (in Grenzen) selbstständiges und selbstverantwortliches Leben zu erkennen und zu fördern. Selbstverantwortung wird dabei in zweierlei Weise bedeutsam: Zum einen zeigt sich diese in der gedanklich-emotionalen Vorwegnahme der verschiedenen Phasen der Demenz und der Artikulation von Erwartungen, die an die Begleitung in diesen verschiedenen Phasen gerichtet werden – hier kommt der sensiblen, ermutigenden Aufklärung von demenzkranken Menschen in frühen Phasen der Demenz großes Gewicht zu. Zum anderen zeigt sich diese im verbalen und nonverbalen Ausdruck von Bedürfnissen und Emotionen in spezifischen Situationen.

Die hier vorgenommene Erweiterung auf den nonverbalen Ausdruck ist aus wissenschaftlich-praktischen, aber auch aus ethischen Gründen bedeutsam, wird damit doch ein zusätzlicher Weg zur Beachtung des Willens demenzkranker Menschen beschritten. Der nonverbale Ausdruck von Bedürfnissen und Emotionen kann Pflegenden und Begleitenden als ein Kompass bei der Klärung der Frage dienen, welche Situationen aufgesucht, welche gemieden werden sollten. – In der Mitverantwortung spiegelt sich die grundlegende Zugehörigkeit des Menschen zur Gemeinschaft wider, ohne die menschliches Leben gar nicht denkbar ist – dies gilt selbstverständlich auch für demenzkranke Menschen. Dabei ist Mitverantwortung im Sinne der Mitgestaltung des öffentlichen Raums (oder der Weltgestaltung) zu deuten.5 Eine Person zu sein, die Teil der Gemeinschaft bildet, von dieser empfängt und dieser gibt, ist eine für das subjektive Lebensgefühl und Wohlbefinden des Menschen entscheidende Erfahrung. Dies gilt auch für Demenzkranke. Auch sie wollen die Erfahrung machen, die empfangene Hilfe erwidern, anderen Menschen etwas geben und damit ihren sozialen Nahraum mitgestalten zu können – und sei die geleistete Hilfe, objektiv betrachtet, auch noch so klein.

Die bewusst angenommene Abhängigkeit führt uns in besonderer Weise vor Augen, dass wir ohne den Anderen nicht sein können, dass dieser nicht ohne uns sein kann, dass sich im geistig und emotional fruchtbaren Austausch zwischen Ich und Du etwas Neues entwickelt, was so vorher noch nicht war.6 Sollen wir nun, wenn wir in der Interaktion mit dem demenzkranken Menschen stehen, wenn wir diesen praktisch und emotional unterstützen, eine derartige Haltung aufgeben? Täten wir dies, so würden wir dessen Fähigkeit und Bereitschaft, die Abhängigkeit von unserer Unterstützung anzunehmen, bereits im Kern schwächen. (Diese Aussage gilt in gleicher Weise für Menschen mit körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen wie auch für Menschen im Prozess des Sterbens.) Die bewusst angenommene Abhängigkeit baut letzten Endes auf der Erfahrung der von der Hilfe abhängigen Person auf, dass nicht die Hilfeleistung die Beziehung zwischen ihr und ihrem sozialen Nahumfeld definiert, sondern vielmehr der lebendige Austausch, in den diese Hilfe eingebettet ist.7 Definiert man demenzkranke Menschen primär von Auffälligkeiten, Symptomen und Störungen her, so macht man damit einen lebendigen Austausch unmöglich – und erschwert die Integration von Hilfen in die Alltagsgestaltung. Vielmehr ist eine Haltung notwendig, die sich – um hier in den Worten von Immanuel Levinas8 zu sprechen – vom „Antlitz des Nächsten“ berühren lässt, die in diesem den „Appell“ vernimmt, „der mit seiner ethischen Dringlichkeit die Verpflichtungen des angerufenen Ich sich selbst gegenüber verschiebt oder beiseite wischt, so dass die Sorge um den Tod des Anderen für das Ich noch vor seine Sorge um sich treten kann.“ – Kommen wir schließlich zur Selbstaktualisierung, die sich in der Sprache der Existenzpsychologie und Logotherapie Viktor Frankls9 vor allem als Streben des Menschen nach Verwirklichung von Werten umschreiben lässt. Dabei differenziert Viktor Frankl zwischen drei grundlegenden Wertformen, in denen sich auch unser umfassendes Verständnis der Person und ihrer Möglichkeiten zur Wertverwirklichung ausdrückt: homo faber als der schaffende Mensch, homo amans als der liebende, erlebende, empfindende Mensch, homo patiens als der leidende, erleidende, sein Leiden annehmende Mensch. Von großer Bedeutung für die Theorie Frankls ist die Aussage, dass auch in Grenzsituation Selbstaktualisierung möglich ist. In der Verwirklichung der Einstellungswerte, also der Fähigkeit, in einer Grenzsituation zu einer neuen Lebenssicht zu gelangen (homo patiens), erblickt Frankl die höchste Form der Wertverwirklichung. Für das Verständnis der Selbstaktualisierung bei Demenz ist die von Viktor Frankl vorgenommene Differenzierung zwischen den drei Wertformen von grundlegender Bedeutung, zeigt uns diese doch, dass auch im Erleben und Lieben, dass auch in der Begegnung Quellen des Stimmigkeitserlebens liegen. Zudem erinnert uns diese Differenzierung an die Notwendigkeit, sich grundsätzlich um die Erfassung der verschiedenen Qualitäten der Persönlichkeit zu bemühen und sich keinesfalls allein auf die kognitiven Qualitäten zu konzentrieren. Die Tatsache, dass demenzkranke Menschen in persönlich vertrauten Situationen und in emotional intimen Kontexten Glück und Freude empfinden können – allerdings immer nur passager, nicht überdauernd –, zeigt uns, wie wichtig es ist, das schöpferische Potenzial der Psyche auch bei einer Demenzerkrankung zu erkennen. Dieses Potenzial beschränkt sich eben nicht nur auf kognitive Qualitäten, sondern schließt alle Qualitäten der Person ein.

4. „Inseln des Selbst“ als Stabilisatoren der Identität und der Kommunikation

Das Selbst ist zu verstehen als das Gesamt jener Merkmale einer Person, die für deren Art des Erlebens und Erfahrens, des Erkennens und Handelns sowie des Verhaltens grundlegend sind. Das Selbst lässt sich in verschiedene Bereiche differenzieren: So kann zum Beispiel zwischen dem körperlichen, kognitiven, emotionalen, motivationalen, sozial- kommunikativen Selbst differenziert werden. Den Kern des Selbst bildet die Identität der Person, die jene Merkmale umfasst, die für deren Selbstverständnis grundlegend sind. Die Identität, deren Ausbildung in der Adoleszenz zwar zu einem ersten Abschluss erfolgt, die sich aber in den folgenden Lebensphasen weiter differenziert, weist – betrachtet man sie über den gesamten Lebenslauf – eine Kontinuität auf. Dies heißt: Das Selbstverständnis des Menschen verändert sich im Lebenslauf nicht grundlegend, vielmehr unterliegt dies nur graduellen Veränderungen (vor allem Differenzierungen) – unter der Voraussetzung, dass die Person nicht mit Ereignissen und Erlebnissen konfrontiert wird, die ihre Identität erschüttern, oder aber Entwicklungsanreize erfährt und auch nutzt, die ihr Selbstverständnis in positiver Richtung verändern. Kontinuität bedeutet nicht, dass die Identität – wurde sie einmal ausgebildet – immer gleich bliebe. Vielmehr ist mit Kontinuität gemeint, dass sich Verbindungen zwischen der Identität in späteren und der Identität in früheren Lebensjahren herstellen lassen, auch wenn sich einzelne Aspekte der Identität unter dem Eindruck neuer Aufgaben und Anforderungen, aber auch neuer Handlungsoptionen, graduell wandeln, vielleicht auch neue Aspekte hinzutreten.

Die Demenzerkrankung berührt das Selbst grundlegend, vor allem, wenn die Erkrankung bereits weit fortgeschritten ist. Dies bedeutet nicht, dass das Selbst bei einer weit fortgeschrittenen Demenz nicht mehr existierte und keine Möglichkeit des Ausdrucks mehr fände. Vielmehr ist zu bedenken, dass vor dem Hintergrund einer Konzeption des Selbst, die dieses nicht allein in seiner kognitiven Qualität, sondern auch in seinen anderen Qualitäten – dies heißt in seiner emotionalen, sozialen, kommunikativen, alltagspraktischen, empfindungsbezogenen und körperlichen Qualität – begreift, davon ausgegangen werden kann, dass dieses Selbst auch bei einer weit fortgeschrittenen Demenz in einzelnen seiner Qualitäten fortbesteht, selbst wenn die Qualitäten nur noch in Ansätzen ansprechbar und erkennbar sind.10 Hier kann durchaus ein Vergleich zur psychischen Situation eines in seinem Bewusstsein deutlich getrübten sterbenden Menschen vorgenommen werden, der auch nicht mehr alle Qualitäten seines (früheren) Selbst zeigt, bei dem aber einzelne Qualitäten – wenn auch nur in Ansätzen oder Resten – erkennbar, vernehmbar oder spürbar sind.

Referenzen

  1. Kruse A., Alternde Gesellschaft: eine Bedrohung? Ein Gegenentwurf, Lambertus, Freiburg (2013)
  2. „Frage nicht, wem die Stunde schlägt, denn sie schlägt immer dir.“, aus: Donne J., Devotions upon Emergent Occasions, The Echo Library, Middlesex (2008), S. 112
  3. Zu diesem Begriff: von Weizsäcker V., Pathosophie, Suhrkamp, Frankfurt; Kruse A., Das letzte Lebensjahr. Die körperliche, psychische und soziale Situation des alten Menschen am Ende seines Lebens, Kohlhammer, Stuttgart (2007)
  4. Kruse A., Der Respekt vor der Würde des Menschen am Ende seines Lebens, in: Fuchs T., Kruse A., Schwarzkopf G. (Hrsg.), Menschenwürde am Lebensende, Universitätsverlag Winter, Heidelberg (2009), S. 18-39
  5. Arendt H., Vita activa oder vom tätigen Leben, Kohlhammer, Stuttgart (1959)
  6. Buber M., Ich und Du, Lambert Schneider, Heidelberg (1972)
  7. Kitwood Tom, Demenz: Der Personen-zentrierte Umgang mit verwirrten Menschen, Huber, Bern (2000)
  8. Levinas E., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, Hanser, München (1995), S. 270
  9. Frankl V., Der Wille zum Sinn, Huber, Bern (1972)
  10. Cohen-Mansfield J., Golander H., Arnheim G., Self-identity in older persons suffering from dementia: preliminary results, Social Science and Medicine (2000); 51: 381-394

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. phil. Dipl. Psych. Andreas Kruse
Ruprecht-Karls Universität Heidelberg
Director of the Institute of Gerontology
Bergheimer Straße 20, D-69115 Heidelberg
andreas.kruse(at)gero.uni-heidelberg.de

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: