Die Kunst des Ausstiegs: Ärztliche Wahrhaftigkeit und „End of Life Care“

Imago Hominis (2016); 23(1): 021-026
Marcus Schlemmer

Zusammenfassung

Ärztliche Wahrhaftigkeit zu Menschen mit Krankheiten, die ihre Existenz bedrohen, basiert auf einer Kommunikation, die primär asymmetrisch ist. Sie kann ohne Würdigung des Individuums, ohne Glaubwürdigkeit, ohne Begleitung, Rat und Sorge um die Angst und Einsamkeit des Patienten und die Angehörigen nicht gelingen.
Die Behandlung und Begleitung von Sterbenden verlangt Multiprofessionalität. Primär muss der Patient mit seinen Bedürfnissen zu Wort kommen, aber auch die Professionellen müssen innehalten und über den Patienten reflektieren – und über sich selbst.
Wir brauchen eine Wahrhaftigkeit gegenüber unseren Gefühlen. Wir müssen eine Balance finden zwischen medizinisch Sinnvollem und menschlich Sinnvollem. Wahrhaftigkeit in der zwischenmenschlichen Beziehung hat auch mit Behutsamkeit zu tun. Die Wahrheit darf nicht vorenthalten werden, aber sie muss behutsam mitgeteilt werden

Schlüsselwörter: Palliativmedizin, Therapie am Lebensende, Kommunikation, Wahrhaftigkeit, Suizid

Abstract

Physicians’ honesty with patients afflicted with life-threatening diseases is no longer simply a matter of asymmetric communication between two human beings. An appreciation of the individual, and the anxiety and loneliness of the patient and his or her relatives, is necessary. “End of life care” thus requires effective, credible, and sensitive communication.
The treatment of the dying demands multi-professionalism. In this, the patient’s primary needs must be heard and reflected by the medical staff.
We need awareness of our own feelings, balanced between the medical and human meaningful.Truthfulness requires wariness. Truth must be communicated carefully and with compassion, based on the appreciation of the individual.

Keywords: palliative care, end of life care, communication, truthfulness, suicide


1. Palliativmedizin

Palliativmedizin ist die älteste medizinische Disziplin. Vor Tausenden Jahren konnte Kranken nur durch Linderung geholfen werden, da die Entstehung von Krankheiten noch weniger verstanden wurde als heute. Die Diagnostik musste sich auf die Beobachtung oder Exploration verlassen. In Ermangelung technischer Hilfsmittel und Therapiemöglichkeiten und aufgrund der Unkenntnis von pathophysiologischen Zusammenhängen war Linderung von somatischen Leiden die einzige Möglichkeit und menschliche Zuwendung zum Kranken oder Sterbenden essentiell. Je mehr die moderne medizinische Wissenschaft über Entstehung von Krankheiten forschte und für die Patienten segensreiche Therapien entwickelte, desto mehr trat die reine Linderung in den Hintergrund – möglicherweise auch die menschliche Zuwendung.

Wenn es richtig ist, dass Palliativmedizin stärker patientenorientiert ist als krankheitsorientiert, so tritt in der Palliativmedizin der Mensch mit seinem Leid, mit seinem Symptom und nicht die Krankheit in den Focus – die Krankheit, die es in anderen medizinischen Disziplinen zu besiegen gilt, die in der Palliativmedizin aber allzu oft nicht besiegt werden kann. Palliativmedizin will die Erkrankung nicht besiegen. Sterben und Tod eines Menschen betrachten Palliativmediziner daher auch nicht als Niederlage.

Palliativmedizin muss sich dem einzelnen Menschen und seinen Nöten zuwenden, sowohl seinen physischen, als auch seinen psychischen. Palliativmedizin muss sich mit der Biographie des Betroffenen auseinandersetzen, mit seinem Leben. Somit spielt die Wahrnehmung des sozialen Umfelds des Kranken, seiner Angehörigen, seiner Lieben und die Fürsorge für diesen Menschen eine wichtige Rolle in der Palliativmedizin. Als einzige Disziplin aller Spezialgebiete der Medizin schreibt Palliativmedizin in ihre Definition, dass Palliativmediziner sich auch um die Angehörigen des Patienten kümmern müssen.1

Palliativmedizin benötigt Multiprofessionalität, also eine Gemeinschaft von Fachleuten, aufgrund der Komplexizität der Bedürfnisse des Patienten. Neben Krankenpflegern und Ärzten gehören Physiotherapeuten, Sozialarbeiter, Psychotherapeuten, Seelsorger, Musik- und Kunsttherapeuten und Ehrenamtliche zu dieser „unit of care“, also dieser Gemeinschaft, die sich kümmert. Der Begriff von Dame Cicely Saunders „total pain“2 steht paradigmatisch für diese Gemeinschaft der Betreuer. Ein Schmerz eines Patienten, der „total“ ist, weil er seine Körperlichkeit betrifft, aber auch seine Sozialität, seine Emotionalität und seine Spiritualität, benötigt Fachleute für alle diese Aspekte. Um die Bedürfnisse des Patienten wahrnehmen zu können, braucht es neben der Fähigkeit der Beobachtung die Fähigkeit der Kommunikation.

2. Kommunikation

Kommunikation findet in „end of life care“ in einer Situation statt, in der der Patient immer in der schwächeren Position ist. Er ist krank, er geht in eine fremde Umgebung, er ist der Laie bezogen auf seine Erkrankung, er ist der Schwächere. Der Arzt ist nicht krank, bewegt sich in seiner gewohnten Umgebung, er ist (hoffentlich) der Experte für die Erkrankung und somit der Stärkere in dieser Arzt-Patienten Beziehung. Die Kommunikation zwischen Patient und Arzt ist geprägt von einer Asymmetrie zu Lasten des Patienten. Kann und will ein Sterbender überhaupt mit einem Lebenden sprechen?

Umso wichtiger ist es, dass in diesem asymetrischen System das Setting gut gewählt wird und beide sich ausreichend Zeit für intensive kommunikative Begegnung nehmen. Primär muss der Patient zu Wort kommen. Es geht um seine Befindlichkeit, seine Schmerzen, seinen Verlust an körperlicher Integrität, seine Sorgen und Ängste, letztlich um seine Bedürfnisse. Dazu müssen wir Ärzte zuerst einmal zuhören. Zuhören und Zeit haben zum Zuhören ist eine Grundvoraussetzung ärztlichen Handelns. Ohne diese Kunst können Diagnostik, Symptomkontrolle und Behandlung nicht funktionieren. Anders formuliert kann ohne Zuhören die Arzt-Patienten-Beziehung nicht gelingen, die Voraussetzung ist für eine auf den Kranken zentrierte Therapie.

In wissenschaftlichen Untersuchungen dieser Art von schwieriger Kommunikation, „breaking bad news“, konnte nachgewiesen werden, dass Gespräche besser gelingen, wenn einige Grundregeln Beachtung finden.3

Kommunikation in „end of life care“ gründet stärker als Kommunikation in anderen medizinischen Feldern auf der medizinischen Situation und der menschlichen Situation des Patienten. Diese Kommunikation findet zu einem Zeitpunkt statt, zu dem seine Existenz unmittelbar bedroht ist, sein Leben auf sein irdisches Ende zugeht und sein Sterben vielleicht schon begonnen hat. Diese Kommunikation ist bei Schwerkranken oft nonverbal, Blicke können hier mehr sagen als Worte. Viele der Schwerkranken sind viel zu schwach, um zu sprechen, können sich dennoch sehr gut mitteilen. Erfahrenes Pflegepersonal ist in der Lage, über nonverbale Kommunikation Bedürfnisse von Kranken wahrzunehmen. Seine Biographie, sein soziales Umfeld, seine Sorgen sind unverzichtbare Grundpfeiler jeder Kommunikation. Aber: Die Biographie des Arztes, sein soziales Umfeld, seine Sorgen sind ebenfalls Grundpfeiler dieser Kommunikation, dieser „Begegnung von Betroffenen“. Wenn Wahrhaftigkeit in „end of life care“ auch mit den Überzeugungen des Arztes zu tun hat, muss dieser Aspekt mehr Beachtung finden. Anders formuliert: Der Arzt sollte seine Rolle in der Kommunikation mit Sterbenden reflektieren.

Ärztliche Kunst ist trainiert und fokussiert auf die Diagnose und Therapie von Krankheiten. Unaufrichtig ist, dass oft von Heilung als Ziel ärztlichen Handelns gesprochen oder sogar ausgegangen wird. Viele Krankheiten, nicht nur die malignen, können Ärzte nicht heilen. Chronische Erkrankungen wie Diabetes, Schilddrüsenunterfunktion oder Depression können Ärzte nur lindern, aber nicht heilen. Sind möglicherweise Grenzen unserer Kommunikation mit Sterbenden Grenzen der Wahrhaftigkeit?

3. Wahrhaftigkeit

Wenn Wahrhaftigkeit zwischen Arzt und Patient in den Fokus gestellt werden soll, ist es sinnvoll, den Begriff der Wahrhaftigkeit näher zu betrachten. Wahrhaftigkeit als ethischer Begriff, der die menschliche Fähigkeit bezeichnet gemäß seinen Überzeugungen zu reden und zu handeln. Dies auch, wenn ihm daraus keine Vorteile erwachsen oder sie sogar auf Irrtümern beruhen.4 Im Unterschied zur Wahrheit, die verstanden wird als inhaltliche Übereinstimmung einer Sache mit dem, was über die Sache gesprochen wird, ist Wahrhaftigkeit eine Haltung, die der Wahrheit verpflichtet ist. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass das Gesagte der Überzeugung des Sagenden entspricht. Wahrhaftigkeit hat also etwas mit dem Sprechenden und seinen Überzeugungen zu tun. Wahrhaftigkeit in „end of life care“ meint, dass der Arzt dem Patienten die Wahrheit über die ihm bekannten Details und Zusammenhänge der Erkrankung sagen muss. Er ist der Wahrheit verpflichtet, hat also eine Aufklärungspflicht. Der Patient hat das Recht, die Wahrheit zu wissen. Andererseits meint Wahrhaftigkeit, dass der Arzt die aus den objektiven Informationen und Details resultierenden Maßnahmen, z. B. Therapien, dem Patienten empfehlen soll. Dies hat in der Art zu geschehen, dass diese Empfehlungen nicht seinen Überzeugungen widersprechen. Ein Arzt sollte also einem Patienten keine Empfehlung einer medizinischen Maßnahme geben, von der er nicht selber überzeugt ist. Eine gute Möglichkeit der Selbsterforschung könnte die Frage sein, ob der Arzt die empfohlene Therapie auch seinen nächsten Angehörigen raten würde. Fatal wäre es, wenn Ärzte wirtschaftliche Gesichtspunkte zur Motivation einer Therapieempfehlung machten und nicht medizinische und menschliche.

Gibt es Grenzen der Wahrhaftigkeit in der Medizin? Sind die Grenzen unseres ärztlichen Wissens eine Grenze der Wahrhaftigkeit? Wie oft hören wir die Frage: „Wie lange lebe ich noch?“ Diese Frage können wir nicht beantworten, und das ist wahrhaftig. Wir wissen den Todeszeitpunkt in den allermeisten Fällen nicht, Ärzte können allenfalls Zeiträume angeben: „Ich denke, wir reden von Monaten“, aber wir müssen dazusagen: „Aber, wir können uns irren.“ Wichtiger als der genaue Zeitpunkt ist die emotionale Aufrichtigkeit, um den Patienten nicht im Unklaren über seine Prognose zu lassen.

Patienten müssen primär informiert werden, ihre Situation und den medizinischen Sachverhalt zu „verstehen“. Ohne eine objektive Information können sie keine Entscheidungen treffen. Die Übereinkunft des „informed consent“ basiert in Deutschland auf dem Nürnberger Codex von 1948.5 Aus gutem Grund wurde in Nürnberg nach den Kriegsverbrecherprozessen festgelegt, dass ein Arzt an einem Patienten nur dann eine medizinische Maßnahme durchführen darf, wenn der Patient den Sachverhalt verstanden hat und freiwillig seine Zustimmung gibt. Ob ein Patient den Sachverhalt versteht und ob immer eine eigenverantwortliche Entscheidung möglich ist, hat mit dem Patienten und seiner kognitiven und emotionalen Situation, aber entscheidend auch mit der Kommunikation durch den Arzt zu tun. Eine sachliche Aufklärung mit der Aufforderung, zwischen Behandlungsoptionen zu wählen, bringt den Patienten in eine Lage, die er nicht abschließend beurteilen kann. Der Patient kann regelhaft aufgrund seines „Nichtwissens“ eine sachlich fundierte Entscheidung nicht treffen. Der Patient befindet sich in der Situation, in der wir alle in unterschiedlichen Lebenslagen sind, in denen wir den Sachverhalt nicht überblicken können und uns auf den Rat eines Fachmanns verlassen müssen. Der Unterschied liegt darin, dass diese Entscheidungen von uns nicht in lebensbedrohlichen Lagen getroffen werden müssen. Um wie viel stärker muss dieses Vertrauen in Fragen von Weiterleben sein. Der Patient kann in Deutschland jede medizinische Maßnahme ablehnen. Eine nicht indizierte Maßnahme kann er aber vom Arzt nicht verlangen. Gerade am Ende des Lebens entstehen aufgrund unterschiedlicher Informationen und Erwartungen Konflikte. Diese werden zwischen Arzt und Patient, häufig aber auch zwischen Angehörigen und Arzt ausgetragen. Die Ermittlung des Patientenwillens bezogen auf lebenserhaltende Therapien, hat eine große Bedeutung in „end of life care“. Eine Möglichkeit, diesen Konflikt aufzulösen, kann über fünf grundsätzliche Fragen gelingen:

Wie effektiv ist die geplante Maßnahme? Wie ist das Verhältnis von Vorteil zu Nachteil für den Patienten? Wie ist das Verständnis des Patienten bezogen auf seine medizinische Situation? Möchte der Patient eine Behandlung, auch nachdem die Analyse der Vorteile/Nachteile gemacht worden ist? Spielt der Verbrauch von Ressourcen eine Rolle für die Entscheidung?6

Kommunikation am Lebensende beschränkt sich nicht nur auf Übermittlung von Information, sondern muss die Bedeutung dieser Information für den Patienten würdigen. Insofern sind das Einfühlungsvermögen und das Vertrauen zwischen den Gesprächspartnern essentiell. Der Patient hat aber auch ein Recht auf Nichtwissen – wenn es seiner Würde entspricht, Informationen nicht zu erhalten, dann dürfen wir sie ihm nicht aufdrängen. Es ist würdelos, einem schwer kranken Patienten täglich ins Gesicht zu sagen, dass er sterben werde, wenn er diese Information oder diese Wahrheit nicht hören, nicht wahrhaben möchte.

Kommunikation am Lebensende als eine Interaktion zwischen Arzt und Patient über das emotional Aushaltbare.

Entscheidend für das Gelingen dieser Kommunikation ist, was der Kranke aushalten kann. Darüber hinaus ist wichtig, was der Therapeut aushalten kann – was er sagen kann oder nicht sagen kann. Die Unfähigkeit, etwas Belastendes nicht sagen zu können oder nicht hören zu wollen, hat nichts mit Unwahrhaftigkeit zu tun. Patienten, denen die Angehörigen immer wieder sagen, dass sie gesund werden, dass es „wieder besser wird“, fühlen sich oft sehr allein. Aus Furcht vor der Wahrheit wird ihnen nicht nur die Chance genommen, sich mit dem eigenen Tod zu befassen, sondern aus Furcht werden ihnen Mitmenschlichkeit und Respekt verweigert. Müssen wir Dinge aus Mitmenschlichkeit sagen, oder müssen wir Dinge aus Mitmenschlichkeit nicht sagen?

Wie viel Wahrheit Patienten vertragen, ist eine wichtige, menschlich wichtige Frage. Wie viel Wahrheit wir, die Therapeuten, vertragen, ist eine nicht minder wichtige Frage. Jeder Patient hat grundsätzlich ein Recht auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit, es entspricht seiner Würde, die wichtigen Dinge seine Gesundheit oder seine Krankheit betreffend zu kennen. Erst diese Kenntnis befähigt ihn Entscheidungen treffen zu können. Entscheidungen zu treffen, über sich und sein Leben, sein Weiterleben, sein würdevolles Weiterleben und seine ureigenen Bedürfnisse: Dies ist etwas spezifisch Humanes.

4. Suizid

Die Diskussion über den ärztlich assistierten Suizid wird in Deutschland intensiv geführt. Suizid, so das Argument, sei ein Menschenrecht, anders gesagt, die Freiheit des Menschen müsse den Menschen auch befähigen, sein Leben zu beenden. In Deutschland töten sich mehr als 10.000 Menschen jährlich, mehr als 100.000 versuchen sich zu töten.7 Diese Menschen sind in der Mehrheit ältere Menschen. Möglich ist, dass ältere Menschen sich nicht mehr gebraucht fühlen, überflüssig, zur Last fallend. Sicher ist, dass überhäufig Suizid das Ergebnis von Einsamkeit, Verzweiflung und Angst vor der Zukunft ist.8

Im amerikanischen Bundesstaat Oregon gibt es die Möglichkeit, sich bei Vorliegen einer unheilbaren Erkrankung ein Rezept über eine hohe Dosis Schlafmittel von Ärzten ausstellen zu lassen. Diese Schlafmittel können dann zuhause zur Selbsttötung eingenommen werden. Die Psychiaterin
Linda Ganzini, die jahrzehntelang für dieses Recht von Schwerkranken gekämpft hat, sagt selbst: „Diese Patienten haben keine Angst, qualvoll allein zu sterben. Es ist umgekehrt: Sie haben Angst, dass andere sich zu viel um sie kümmern müssen.“

Nach Untersuchungen der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin betrifft der Wunsch, sich mit Hilfe eines Arztes selbst zu töten, weniger als 1% der Schwerstkranken. Dies ist in Einklang mit den Zahlen aus Ländern wie Schweiz, Niederlande oder Belgien, in denen ärztlich assistierter Suizid erlaubt ist und praktiziert wird. Es scheint Menschen wichtig zu sein, am Ende des Lebens die Möglichkeit zu haben, sich selbst zu töten. Die Organisation EXIT, die Schweizer Bürgern begleiteten Suizid ermöglicht, hat mehr als 90.000 Mitglieder. Im Jahr 2014 töteten sich nach Berichten von EXIT 583 Menschen, 124 mehr als im Jahre 2013.9 In den Niederlanden waren es nach offiziellen Berichten der Regionalen Kontrollkommission Sterbehilfe10 im Jahr 2012 185 dokumentierte Fälle von ärztlich assistiertem Suizid. In den Niederlanden ist darüber hinaus die Tötung auf Verlangen erlaubt. Die Anzahl der Fälle von Tötung auf Verlangen betrug 2012 ein Vielfaches der Fälle des ärztlich assistierten Suizids, insgesamt waren es 3.956. Diese veröffentlichten Zahlen zeigen eindrucksvoll, dass der Wunsch, getötet zu werden, um ein Vielfaches größer ist als der Wunsch nach ärztlicher Assistenz beim Suizid. Es stellt sich die Frage, ob Menschen diese Wahl treffen, oder ob sie gedrängt sind so zu handeln. Wenn sie gedrängt sind, muss unsere Gesellschaft intensiver reflektieren, woher diese Sterbewünsche kommen.

5. Ausstieg

Kunst des Ausstiegs: Heißt das Sterbenlassen oder besser Sterben zulassen? Die Patienten, die sich den Tod wünschen, sind schwer krank. Ihre Krankheit führt zum Tod, und Palliativmedizin steht dafür, dass Sterben ein würdevolles Sterben ist. Die Kunst, den Tod nicht herauszuzögern, ist die palliativmedizinische Kunst. Viel zu oft verlängern wir Ärzte das Sterben – und das ist würdelos. Wenn häufige Motive für einen selbstbestimmten Tod die Angst vor den Apparaten und den sie bedienenden Menschen sind, scheint es der Gesellschaft und uns Ärzten nicht gelungen zu sein, diese Ängste zu nehmen. Warum schaffen wir es nicht, unseren Patienten nachhaltig zu vermitteln, dass ihre Wünsche, ihre Vorstellungen, ihre Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht von uns respektiert werden? Das Weglassen von medizinischen Maßnahmen ermöglicht Sterben. Maßnahmen zur Lebensverlängerung werden in Übereinstimmung mit dem Willen des Patienten weggelassen. Dies ist im besten Sinne des Wortes eine „Sterbehilfe“. Also ärztliche Kunst als Hilfe beim Sterben. Hierzu braucht es keine Tötung und auch keine Selbsttötung, zumindest nicht bei Schwerkranken. Appetitlosigkeit oder besser Mangel an Hunger ist ein häufiges Symptom bei Patienten mit weit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen. Die Patienten sind nicht nur zu schwach zu essen, ihnen fehlt jeglicher Appetit. Dies kann als eine physiologische Reaktion des Körpers auf die Erkrankung und den bevorstehenden Tod gesehen werden. Eine sog. „künstliche Ernährung“, also die Gabe von Nahrung durch einen Magenschlauch oder eine Vene, wäre in dieser Situation eine Lebens- und möglicherweise eine Leidensverlängerung. Das Hören des Arztes auf die Bedürfnisse des Patienten, die Kommunikation darüber, dass er sich nicht zwingen muss zu essen, stellt oft eine große Erleichterung für den Betroffenen dar. Die nächsten Angehörigen sind diejenigen, die mit solchen Entscheidungen des Patienten emotionale Schwierigkeiten haben: „Sie können meine Mutter doch nicht verhungern lassen“, ist ein häufiger „Vorwurf“, den wir Ärzte hören, wenn wir Sterbende nicht mehr „künstlich“ ernähren. Die empathische Kommunikation, das Erklären der Bedürfnisse von Sterbenden und Zeit für die Angehörigen, muss ebenfalls zu der ärztlichen Kunst gehören, wie die Therapie von Symptomen.

Patienten sind oft erleichtert, wenn eine offene Kommunikation darüber geführt wird, dass sie in naher Zukunft sterben werden. Ihr körperliches Empfinden hat ihnen schon eine geraume Zeit sig-
nalisiert, dass ihre zunehmende Schwäche dafür ein Zeichen ist. Wenn Möglichkeiten der Palliativ-
medizin offen kommuniziert werden, Leiden so verringern zu können, dass Patienten damit gut leben und sterben können, nimmt es den Patienten und ihren Angehörigen Angst. Angst vor Autonomieverlust, Angst vor Schmerzen und unerträglichem Leid, Angst vor Ausgeliefertsein.

Aber auch die beste Palliativmedizin kann nicht alles Leid lindern. Seelische oder spirituelle „Schmerzen“ können nicht immer besprochen und noch seltener gelöst werden. Sterben ist schmerzlich. Wenn nicht für die Patienten, für die Sterben oft das Ende von Leiden bedeutet, dann für ihre Angehörigen, die einen geliebten Menschen gehen lassen müssen. Das gilt in gleicher Weise für das Selbsttöten. Angehörige müssen damit weiterleben, dass ein Angehöriger keinen anderen Ausweg sah, als sich zu töten. Angehörige sind in der Diskussion um den ärztlich assistierten Suizid bisher noch viel zu wenig in den Fokus gerückt worden. Auch hier kann Palliativmedizin dazu beitragen, diese fundamental menschliche Qualität als medizinische Kunst wieder zu beleben.

Referenzen

  1. WHO, Definition Palliativmedizin, www.who.int/cancer/palliative/definition/en/
  2. Saunders C., Care of the Dying (1959), S. 1032
  3. Baile W. F. et al., SPIKES-A six Step protocol for delivering bad news to the patient with cancer, The Oncologist (2000); 5: 302-311
  4. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch IV, Kap. 13
  5. Mitscherlich A. et al., Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt a. M. (1960), S. 272 f.
  6. Winkler E. C. et al., Evaluating a patient’s request for life-prolonging treatment: an ethical framework, J Med Ethics (2012); 38: 647-651
  7. Todesursachen in Deutschland, Fachserie 12, Reihe 4 (2013),  www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Gesundheit/AlteAusgaben/TodesursachenAlt.html
  8. Forschungsgruppe Wahlen, Umfrage Sterben in Deutschland, www.dhpv.de
  9. www.exit.ch, Stand 02/2015
  10. Regionale toetsingscommissies euthanasie Jaarverslag 2012, www.euthanasiecommissie.nl/uitspraken/jaarverslagen/2012/nl-en-du-fr/nl-en-du-fr/jaarverslag-2012


Letzter Zugriff auf sämtliche Internetseiten am
23. Februar 2016.

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