Aktuelle Fragen zur Gewissensfreiheit im Gesundheitsbereich

Imago Hominis (2016); 23(2/3): 079-081
Susanne Kummer

Die Gewissensfreiheit ist ein menschliches Grundrecht. Im Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die in Österreich Verfassungsrang hat, wird die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit für jedermann gewährleistet. Das Europäische Parlament hat die Garantie auf Gewissensfreiheit im medizinischen Sektor in einer eigenen Resolution im Jahr 2010 festgehalten. Dort heißt es unter Punkt 1:1 „No person, hospital or institution shall be coerced, held liable or discriminated against in any manner because of a refusal to perform, accommodate, assist or submit to an abortion, the performance of a human miscarriage, or euthanasia or any act which could cause the death of a human foetus or embryo, for any reason.“

Im § 97 Abs 2 des österreichischen Strafgesetzbuches werden unter der Gewissensklausel betreffend Schwangerschaftsabbruch der Arzt, das Krankenpflegepersonal, der medizinisch-technische Dienst und der Sanitätshilfsdienst genannt, Apotheker genießen diesen Schutz nicht ausdrücklich.

Zugleich stellt die Parlamentarische Vollversammlung des Europarats in Punkt 2 fest, dass die Berufung auf die Gewissensfreiheit nicht auf Kosten des effektiven Zugangs der betroffenen Patienten zur medizinischen Versorgung gehen darf. Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit darf laut Resolution also beschränkt werden, die Frage lautet: Wie weit und mit welcher Begründung? In jüngster Zeit lassen sich Entwicklungen beobachten, die eine weite Interpretation der Resolution des Europaparlaments fördern. Dies wirft Grundfragen auf.

Historisch gesehen ist die Anerkennung der Leistungsverweigerung aus Gewissensgründen eine der bedeutendsten sozialen Erfolge des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Während bis vor nicht allzu langer Zeit Jugendliche wegen ihrer Entscheidung zur Wehrdienstverweigerung, aus moralischen Bedenken zu den Waffen zu greifen oder sich für den Krieg vorzubereiten, mit Haftstrafen bedroht werden konnten, ist dies nicht mehr möglich. Ihre Gewissensentscheidung muss respektiert werden.

Gleichzeitig hat die Debatte um die Leistungsverweigerung aus Gewissensgründen eine bemerkenswerte Wende erfahren, wenn es um den Gesundheitssektor geht. Die Leistungsverweigerung aus Gewissensgründen ist die Nichterfüllung einer gesetzlich vorgeschriebenen Verpflichtung seitens einer Person, wenn sich aus der Erfüllung derselben für diese schwere Gewissenskonflikte ergeben würden. In diesem Fall wird die Gewissensfreiheit geschützt durch das Recht auf Leistungsverweigerung. Worum geht es dabei am medizinischen Sektor im Konkreten? Ärzte und medizinisches Personal haben das Recht, aus Gewissensgründen Leistungen zu verweigern, die die Tötung eines Menschen bedeuten wie im Fall der Euthanasie, Abtreibung oder des assistierten Suizids. Sie sind deshalb auch nicht zur Mitwirkung an diesen Handlungen verpflichtet.

Gerade hier zeigen sich jüngst Tendenzen, den Gewissensvorbehalt einzuschränken. In diesem Kontext wird die Errungenschaft nun als quasi Bedrohung für den Rechtsstaat dargestellt, die Debatte scheint die Einschränkung oder gar die Abschaffung der mit so viel Anstrengung im Rahmen der Menschenrechtsdebatte erkämpften Gewissensfreiheit zum Ziel zu haben. „Jenes Verhalten, das zu anderen Zeiten oder in anderem Zusammenhang als großer Erfolg der demokratischen Gesellschaft gefeiert wurde, versucht man jetzt als reaktionär und subversiv zu brandmarken.“2

So entschied das Zivilgericht in Leuven, dass katholische Krankenhäuser und Pflegeheime in Belgien ihren Patienten den Zugang zur Euthanasie nicht verweigern dürfen. In dem Verfahren ging es um einen Fall aus dem Jahr 2011. Die 74-jährige Mariette Bunt Jens hatte Lungenkrebs und wollte durch Euthanasie ihrem Leben ein Ende setzen. Das Heim erlaubte dem Arzt jedoch nicht den Zugang zur Patientin. Daraufhin brachten die Angehörigen die Frau nach Hause, wo der Arzt ihr die todbringenden Medikamente gab. Die Richter argumentierten, dass sich das Pflegeheim nicht in die Beziehung zwischen der Patientin und dem Arzt hätte einmischen dürfen.3 Der Heimträger wurde zur Zahlung von 6.000 Euro Schadenersatz verurteilt. Wegen der Schwere und Bedeutung des Falles war das Zivilverfahren in einer Besetzung mit drei Richtern verhandelt worden. Während das belgische Gesetz vorsieht, dass sich Ärzte weigern können, aktive Sterbehilfe auszuführen, ist dies für Pflege- und Gesundheitseinrichtungen nicht klar im Gesetz festgelegt. Gesetzesvorschläge zur Ausweitung aktiver Sterbehilfe liegen vor, darunter die Forderung nach der Abschaffung der institutionellen Freiheit z. B. eines Altenheims oder eines Krankenhauses. Damit könnten etwa katholische Institutionen nicht mehr selbst bestimmen, ob Euthanasie in ihren eigenen Räumlichkeiten durchgeführt wird. Die Frage, ob Institutionen sich ebenfalls wie Personen auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit berufen dürfen, wird die Gerichte noch beschäftigen.

In Großbritannien hatte 2014 ein Beschluss des Obersten Gerichtshofes für eine breite Debatte gesorgt: Zwei Hebammen mit katholischen Werteüberzeugungen wurden verurteilt, weil sie aus Gewissensgründen weder bereit waren, direkt bei Abtreibungen mitzuwirken noch in deren Vor- oder Nachbereitung. Dazu seien sie aber verpflichtet, so der Supreme Court in seinem Höchsturteil. Die British Medical Association-Leitlinien zum Gewissensvorbehalt anerkennen den Gewissensvorbehalt nur noch unter wenigen Umständen. Der Jurist John Olusegun Adenitire von der University of Cambridge vertritt in einem pointierten Kommentar4 die Ansicht, dass die Europäische Menschenrechtskonvention offenbar derzeit nicht hoch im Kurs stehe. Dennoch müsse auch er als Nicht-Katholik, aber Verfechter des Rechtsstaates dafür eintreten, dass jedermann, „auch katholische Krankenschwestern“, sich am „Recht der Gewissenfreiheit erfreuen dürfen“, so der Rechtswissenschaftler.

In Kanada geht man noch einen Schritt weiter. Hier forderte das Parlament im Februar 2016 in einer Empfehlung dazu auf, dass Ärzte, die selbst keine Euthanasie durchführen, per Gesetz dazu verpflichtet werden sollen, Sterbewillige an Kollegen weiterzuvermitteln, die Tötungen auf Wunsch durchführen oder bei Selbsttötungen kooperieren. Ärzte hatten dagegen im Vorfeld des neuen Gesetzes Einspruch erhoben.5

Im liberal-demokratischen Schweden wurde eine Hebamme entlassen, weil sie sich aus Gewissensgründen geweigert hatte, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken. Sie klagte, das Gericht im Kreis Jönköping gab am 12. 11. 2015 jedoch dem Krankenhaus recht:6 Hebammen müssten auch bereit sein, bei Abtreibungen mitzuwirken, weil die Region verpflichtet sei, dafür zu sorgen, dass Frauen effektiven Zugang dazu hätten.7 Ellinor Grimmark entgegnete, dass sie „als Hebamme Leben schützen will und nicht töten“. Da sie aber unter diesen Umständen in Schweden keinen Job mehr fand, musste sie emigrieren und arbeitet heute als Hebamme in Norwegen.

Die aktuellen Beispiele zeigen: Es muss ein Ausgleich gefunden werden zwischen der Autonomie des Patienten, dem persönlichen Recht auf Gewissensfreiheit des medizinischen Personals und dem Versorgungsauftrag des Gesundheitswesens. Angesichts der beschriebenen Fälle muss allerdings die Grundfrage offen angesprochen und diskutiert werden, ob man rechtens davon sprechen kann, dass es sich bei Euthanasie, Beihilfe zur Selbsttötung oder Abtreibungen überhaupt um Heil- und nicht viel eher um „Wunschbehandlungen“ handelt. Die jüngsten Entscheidungen zeigen, dass sich hier ein ungeahntes Feld noch zu lösender Grundfragen aufgetan hat.

Referenzen

  1. Resolution 1763 (2010): The right to conscientious objection in lawful medical care assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-XML2HTML-en.asp
  2. vgl. Guzmán J. L., Gewissensvorbehalt im Gesundheitswesen und die europäischen Gesetzgebungen, Imago Hominis (2008); 15(2): 101-119
  3. vgl. Le Soir, 29. 6. 2016 sowie www.kerknet.be/kerknet-redactie/artikel/rechtbank-leuven-wzc-moest-euthanasie-laten-gebeuren, 30. 6. 2016
  4. Adenitire J. O., Nurses Cannot be Good Catholics, Journal of Medical Ethics Blog, 31. 3. 2016, blogs.bmj.com/medical-ethics/2016/03/31/nurses-cannot-be-good-catholics/
  5. More Safeguards are needed of the Vulnerable, Special Joint Committee on Physician-Assisted Dying: Dissenting Report, www.parl.gc.ca/HousePublications/Publication.aspx
  6. vgl. ausführliche Analyse in Diritti Comparati, 22. 6. 2015 (online)
  7. Aftonbladet, 12. 11. 2015 (online)

Letzter Zugriff auf sämtliche Internetseiten am 8. August 2016.

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Mag. Susanne Kummer
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