Demenz: Angehörige betreuen und entlasten

Imago Hominis (2016); 23(2/3): 129-138
Antonia Croy

Zusammenfassung

Demenzerkrankungen sind die häufigste Ursache von Pflegebedürftigkeit im Alter. 80 Prozent der Betroffenen werden über lange Jahre von ihren Angehörigen zu Hause betreut, sie tragen die Hauptlast der Pflege. Die Angehörigen der Erkrankten müssen lernen, sich an die neue Situation mit ihren vielfältigen Anforderungen anzupassen. Die größte Belastung stellen die häufig auftretenden Verhaltensänderungen dar, die die Betreuer oft bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit führen.
Daher ist es für Angehörige von entscheidender Bedeutung, bereits frühzeitig Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Beratung und Betreuung der Angehörigen erfolgen im Rahmen von Selbsthilfe- oder Angehörigengruppen. Deren Angebote tragen wesentlich zur Entlastung der Familienangehörigen teil und nehmen mittlerweile eine bedeutende Stellung im Gesundheits- und Sozialsystem ein.

Schlüsselwörter: Angehörige, Belastungen, Verhaltensänderungen, Unterstützung, Selbsthilfe

Abstract

Alzheimer’s disease and other dementias are the most common reasons for the elderly to require care. 80 percent of dementia sufferers are looked after, often for many years, by relatives at home. Family carers have to adapt to new situations and challenges. The main burden for these family members is to learn to cope with the new situations and the frequent changes of the sufferers’ behaviour. As a result relatives are often pushed to their limit of tolerance.
It is very important for the carers to get advice and support in the early stages of the disease. Self-help and family support groups can provide counseling and support for the relatives and help to reduce the caregiver‘s burden. Self-help groups have gained an important position within the Health and Social systems.

Key words: relatives, caregiver burden, behavioural changes, support, self-help


Angehörige von Menschen mit Demenz:
Betreuung und Entlastung

Demenzerkrankungen, im speziellen die Alzheimer Krankheit, sind die häufigsten und folgenschwersten Erkrankungen im höheren Lebensalter und zugleich auch die häufigste Einzelursache von Pflegebedürftigkeit im Alter. Die Hauptlast der Pflege und Betreuung von an Alzheimer erkrankten Menschen tragen in unserer Gesellschaft, meist unter schwierigen Bedingungen, noch immer die Familien. 80 Prozent der Betroffenen werden über lange Jahre von ihren Angehörigen betreut und gepflegt. 25 Prozent der erkrankten Menschen leben auch noch im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung zu Hause im familiären Umfeld.1

Pflege und Betreuung werden in erster Linie von Kindern oder Schwiegerkindern und den meist selbst schon betagten Ehepartnern erbracht, im Weiteren von anderen Verwandten, Freunden oder Nachbarn. Die Mehrheit der pflegenden Angehörigen ist älter als 50 Jahre.2 80 Prozent der Pflegepersonen sind Frauen, die diese Tätigkeit meist neben Beruf und eigener Familie ausführen. Betreuung und Pflege gelten demnach auch weiterhin als „Frauensache“.

Belastungen der pflegenden Angehörigen

Zu Beginn und im Verlauf einer Demenzerkrankung sind die Angehörigen der Erkrankten mit vielen unerwarteten Situationen und Problemen konfrontiert. Sie müssen lernen, mit den vielfältigen Anforderungen, die plötzlich an sie gestellt werden, fertig zu werden und die unterschiedlichsten Aufgaben zu bewältigen. Der Ausbruch bzw. die Diagnose einer Demenzerkrankung verunsichert auch die Angehörigen: Anfangs ist ihnen nicht klar, ob es sich um den normalen Alterungsprozess handelt oder ob die auftretenden Veränderungen einer Krankheit zuzuordnen sind.

Angehörige spielen von Beginn an eine wesentliche Rolle im Diagnose- und Therapieprozess. Sie sind es, die die Betroffenen – oft gegen deren Willen – das erste Mal einem Arzt vorstellen, und sie sind die wichtigsten Informanten des Arztes zur Objektivierung einer Hirnleistungsstörung und zur Beobachtung des Krankheitsverlaufes.

Die Betroffenen selbst fühlen sich meist nicht krank, verleugnen ihre Defizite oder wollen diese nicht wahrhaben. Meist obliegt es den Angehörigen zu entscheiden, ob und wie die Diagnose einer dementiellen Erkrankung den Betroffenen mitgeteilt wird. Oft wird diese schwierige Aufgabe ihnen überlassen.

Angehörige tragen die Verantwortung für die Effizienz einer Therapie, da sie für die Einnahme von Medikamenten sorgen, Arztbesuche und Therapien organisieren und schließlich auch die erforderliche Betreuung und pflegerischen Maßnahmen durchführen. Daher ist es seitens der behandelnden Ärzte wichtig, die Angehörigen von Anfang an in die Therapieplanung mit einzubeziehen und auf ihre Bedürfnisse und Belastbarkeit sowie die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen Rücksicht zu nehmen.

Finanzielle Angelegenheiten, wie z. B. Bankgeschäfte, Amtsgeschäfte, Antragstellungen werden von den Angehörigen übernommen, sie müssen sich auch mit rechtlichen und ethischen Fragen auseinandersetzen. Schließlich gilt es, den Alltag zu bewältigen und mit der neuen Rolle fertig zu werden.

Die Angehörigen müssen lernen, ihre Zeit genau einzuteilen, den Erkrankten eine gewisse Regelmäßigkeit, einen strukturierten Tagesablauf zu ermöglichen und nebenbei noch die alltäglichen Aufgaben erledigen. Der Haushalt muss geführt, Geschäftliches erledigt, die Aufgaben des Partners oder der Partnerin oder des Elternteils zusätzlich übernommen werden. Darüber hinaus sind sie es, die soziale Hilfsangebote ausfindig machen und geeignete Unterstützung organisieren.

Krankheit verändert familiäre Beziehungen

Die Betreuung und Pflege von demenzkranken Menschen erfordert Hilfestellung rund um die Uhr, an 7 Tagen in der Woche über viele Jahre und führt zu zahlreichen körperlichen und psychischen Belastungen der Angehörigen. Sie müssen mit unterschiedlichen negativen Gefühlen wie Unverständnis, Ärger, Wut, Ungeduld, Schuld- und Schamgefühlen fertig werden.
Am Beginn der Erkrankung erleben sie oft ähnliche Gefühle, wie die Betroffenen selbst. Sie sind verunsichert und hilflos, auch sie wollen die Krankheitssymptome nicht wahrhaben, sie reagieren mit Unsicherheit und Unverständnis. Und wer selbst verunsichert ist, kann einem Verunsicherten nicht helfen.

Angehörige leben in ständiger Ungewissheit, wie die Krankheit sich weiter entwickeln wird, müssen mit ansehen wie ein nahestehender Mensch sich verändert, sie sehen und erleben Leiden, Verzweiflung und Trauer. Die gewohnte Welt und das bisherige Leben verändern sich. Das heißt auch Abschied nehmen von einer gemeinsam geplanten Zukunft.

Mit Fortschreiten der dementiellen Erkrankung erhöhen sich die Anforderungen an die Betreuer. Die Auswirkungen der Krankheit verändern die bisherige partnerschaftliche oder elterliche Beziehung. Durch die nachlassenden Fähigkeiten und die zunehmende Abhängigkeit des erkrankten Menschen kommt es zu einem Wandel in den Rollenbeziehungen und einer neuen Rollenverteilung innerhalb der Familie. Partner übernehmen die Aufgaben des Anderen, die Partnerschaft ist nicht mehr gleichwertig, die gesunde Person ist der erkrankten stets überlegen. Der Angehörige muss die alleinige Verantwortung tragen. Kinder übernehmen die Aufgaben und die Position der Eltern, es kommt zu einer Umkehrung der Eltern-Kind-Rolle. Kinder fühlen sich für ihre Eltern verantwortlich, versuchen oft ihr Verhalten zu beeinflussen, sie zu „erziehen“. Spannungen zwischen Betreutem und Betreuer und Spannungen im Familienkontext sind die Folge.

Psychische, physische und finanzielle Belastungen für Angehörige

Für viele Menschen sind diese Verschiebungen in der Familie kaum zu ertragen. Daher ziehen sich einzelne Familienmitglieder oft völlig zurück und brechen sogar jeden Kontakt ab. Auch die Verbindung zu Freunden, Bekannten und Arbeitskollegen bricht mit der Zeit ab, die Betroffenen selbst haben wenig oder kein Interesse an sozialen Kontakten, was wiederum zur zunehmenden Vereinsamung und sozialen Isolation der betreuenden Person beiträgt.

Pflegende Angehörige verzichten auf Freizeit und eigene Interessen, diese werden oft gar nicht mehr wahrgenommen. Viele Angehörige hatten schon jahrelang keinen Urlaub mehr.3 Sie sind teilweise in ihrer Berufstätigkeit eingeschränkt und müssen beträchtliche finanzielle Einbußen hinnehmen.

Durch direkte Kosten für Hilfen zu Hause, Therapien und Heilbehelfe, sowie schwer erfassbare indirekte Kosten aufgrund von Verdienstentgang, Teilzeitarbeit, frühzeitiger Pensionierung oder Verlust des Arbeitsplatzes und Beeinträchtigung des eigenen Gesundheitszustandes geraten viele Familien in finanzielle Not und können den gewohnten Lebensstandard nicht mehr aufrecht erhalten.

Die größte Belastung für die Angehörigen stellen nicht die kognitiven Einbußen und Gedächtnisstörungen dar, sondern die Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen, die bei mehr als zwei Drittel aller an Demenz erkrankten Personen auftreten. Dazu zählen Misstrauen, depressives oder aggressives Verhalten, ein gestörter Tag/Nachtrhythmus. Unruhe und Umherwandern, ständiges Fragen und Wiederholungen. Wissensdefizite bezüglich der Auswirkungen einer Demenzerkrankung reduzieren das Verständnis für die Krankheit und die Erkrankten. Problematische Wechselwirkungen sind die Folge: Es kommt vermehrt zu Konflikten und Auseinandersetzungen und im schlimmsten Fall zu psychischer und physischer Gewalt, sowohl seitens der Erkrankten als auch der Angehörigen.

Die aufgezeigten Belastungen haben mit der Zeit Auswirkungen auf die Gesundheit der Betreuer. Das Zusammenwirken von dauerndem Betreuungsstress, Verlust persönlicher Entfaltungsmöglichkeiten, körperlicher Pflegebelastung und vorbestehender somatischer Krankheiten erhöhen zusätzlich das körperliche Erkrankungsrisiko der Betreuer. Pflegende Personen haben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein deutlich erhöhtes Sterberisiko. Hoher Pflegeaufwand im fortgeschrittenen Alzheimerstadium mit Verhaltensstörungen der betreuten Patienten, dauerhafter negativer Pflege-Stress und vorbestehende Erkrankungen wirken sich ungünstig aus.4

Ein Großteil der Angehörigen leidet unter Schlafstörungen, körperlichen Beschwerden, Depression und depressiven Verstimmungen, sie benötigen selbst ärztliche Hilfe und nehmen vermehrt Medikamente. Die erwähnten Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen führen die Betreuer oft bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit, und es kommt häufig zum gefürchteten Burnout-Syndrom.

Warnzeichen, die ernst genommen werden müssen, sind:

  • depressive Stimmung, Depression
  • Verbale und physische Aggressionen gegenüber den Erkrankten
  • Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch
  • Sozialer Rückzug
  • Psychosomatische Symptome
  • Suizidgedanken

Hier gilt es, erste Anzeichen zu erkennen und für ehestmögliche Entlastung der Angehörigen zu sorgen. Oft wird erst interveniert, wenn aus einem Pflegefall zwei Pflegefälle geworden sind, weil die Pflegeperson ihre Aufgaben nicht mehr bewältigen kann oder selbst erkrankt. Meistens wird erst dann die Umwelt aufmerksam.

Das Entstehen von Selbsthilfe- und Angehörigengruppen

Die Alzheimer Krankheit hat immer mindestens zwei Opfer – den Erkrankten und seinen ihn pflegenden Angehörigen. Daher ist es für Angehörige von entscheidender Bedeutung, frühzeitig Entlastung und Unterstützung zu erhalten.

Selbsthilfe- oder Angehörigengruppen haben schon früh diese Aufgabe übernommen. Sie bieten pflegenden Angehörigen Information und Beratung und begleiten die betroffenen Familien in den langen Jahren der Krankheit.

1984 wurde in den USA Alzheimer´s Disease international gegründet mit dem Ziel, die Angehörigenvereinigungen der einzelnen Länder auf internationaler Ebene zu unterstützen und zu fördern und so die Lebensqualität von Menschen mit Demenz und deren Familien zu verbessern. Heute sind Alzheimer Organisationen aus 80 Ländern Mitglied von ADI.5

1990 etablierte sich in Europa die Organisation Alzheimer Europe, die heute 37 Alzheimervereinigungen aus 32 europäischen Ländern vertritt. Ziel ist, auf europäischer und nationaler Ebene das Bewusstsein für die Auswirkungen von Demenzerkrankungen auf die betroffenen Menschen und deren Familien, aber auch auf die Gesundheits- und Sozialsysteme der einzelnen Staaten zu erhöhen. Alzheimer Europa unterstützt die Mitgliedsorganisationen in ihren Bemühungen um die Verbesserung der Lebenssituation der Menschen mit Demenz und der pflegenden Angehörigen.6

Ebenfalls im Jahr 1990 gründeten pflegende Angehörige von an Alzheimer erkrankten Menschen in Wien die Selbsthilfegruppe Alzheimer Angehörige Austria.7 Bereits damals bedeutete die Alzheimer-Krankheit für alle Beteiligten, für die Betroffenen, die Hilfsorganisationen und sozialen Einrichtungen eine große Herausforderung, weil hilfreiche Strukturen nicht vorhanden waren und erst aufgebaut werden mussten. Selbsthilfegruppen boten ein niederschwelliges Angebot, um in einem kleinen, geschützten Rahmen auf die individuellen Bedürfnisse der betroffenen Angehörigen einzugehen, Information und Beratung anzubieten und Aussprachemöglichkeit und Erfahrungsaustausch zu gewährleisten. Im Jahr 2012 hat die Gruppe ihren Namen in Alzheimer Austria geändert, um auch die wichtige Rolle der Betroffenen und ihre zunehmende Einbeziehung hervorzuheben. Immer häufiger suchen Menschen bereits in den Anfangsstadien der Erkrankung Rat und Unterstützung in der Gruppe. Alzheimer Austria sieht sich daher auch als Interessenvertretung der von Demenz betroffenen Menschen und bietet ihnen eine Plattform, ihre Wünsche und Anliegen zu formulieren und nach außen zu vertreten. Die Gruppe tritt engagiert für die Rechte von dementiell erkrankten Menschen und deren Angehörigen sowie für die Erhaltung der Würde dieses Personenkreises ein. Sie setzt sich für eine Gesellschaft ein, in der Menschen gleichwertig und gleich geschätzt miteinander leben. Sie versucht, ein besseres Verständnis der Krankheit in der breiten Öffentlichkeit zu bewirken und übernimmt im sozialpolitischen Umfeld die Stellvertreterfunktion für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Die Verbesserung der Lebensqualität für die erkrankten Personen und deren Angehörigen hat oberste Priorität.

Angebote der Selbsthilfegruppe

Die Angebote der Selbsthilfegruppe sind auf die Bedürfnisse und die bestmögliche Unterstützung der pflegenden Angehörigen ausgerichtet. Sie umfassen mehrere Aspekte, die im folgenden kurz dargelegt werden sollen.

Information und Wissensvermittlung: Die Angehörigen erhalten Information über die Krankheit, über aktuelle Therapiemöglichkeiten, den Verlauf der Erkrankung und welche Probleme in den verschiedenen Stadien auftreten können. Das gibt den Angehörigen mehr Klarheit, sie wissen, dass sonderbar erscheinende Verhaltensweisen der Krankheit zuzuschreiben sind und sich nicht gegen sie persönlich richten. Sie sind besser auf Veränderungen vorbereitet und können leichter damit umgehen.

Beratung in sozialen Fragen: Die Selbsthilfegruppe bietet den Angehörigen auch praktische Hilfestellung. Sie unterstützt die Familien beim Aufbau eines Helfernetzes und stellt Kontakte zu Hilfsorganisationen und gemeindenahen Einrichtungen her. Angehörige müssen lernen, selbstbewusst aufzutreten und Hilfe einzufordern. Vielen fällt es schwer, sich ihre Belastungen bewusst zu machen und Hilfe von außen anzunehmen. Auch die Betroffenen lehnen Hilfe von Außenstehenden ab und können fremde Personen nur schwer akzeptieren.

In der Gruppe erhalten Angehörige praxisbezogene Hinweise für die Betreuung und Pflege der Erkrankten, Sicherheit und Schutz vor Gefährdungen innerhalb und außerhalb der Wohnung, Struktur des Tagesablaufes, Ernährungs- und Inkontinenzberatung.

In speziellen Trainingskursen und Workshops werden Wissen und Möglichkeiten für den Umgang mit den betroffenen Menschen vermittelt. Angehörige können ihr Wissen über die Krankheit erweitern, sie lernen die Krankheit als Tatsache wahrzunehmen, ihre eigenen Ressourcen und Grenzen realistischer einzuschätzen, auf ihre eigenen Bedürfnisse zu achten und Hilfe anzunehmen.

Die monatlichen Treffen im Alzheimer Café bieten die Möglichkeit zu Gedanken- und Erfahrungsaustausch sowie zum Beisammensein mit anderen Betroffenen und Angehörigen in entspannter Atmosphäre. Seit zwei Jahren gibt es auch regelmäßig Treffen der Gruppe von Menschen mit Vergesslichkeit -„ProMenz“.

Alzheimer Austria bietet gemeinsam mit Experten Beratung bei finanziellen und rechtlichen Fragen wie Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung, die Möglichkeit einer Angehörigenvertretung oder Sachwalterschaft, Regelung von Vermögensangelegenheiten, Unterhaltspflicht, Anspruch auf Pflegegeld.

Angehörige stehen immer wieder vor schwierigen ethischen Fragen und Entscheidungen, die das Leben des erkrankten Familienmitglieds betreffen. Sie stehen den Betroffenen nahe, kennen ihre Eigenheiten, Ängste, Einstellungen, Fähigkeiten. Sie unterstützen und begleiten die Betroffenen, können aber auch überfürsorglich, bestimmend, bevormundend sein und Macht oder Druck ausüben.

Sie sind sich bewusst, dass sie in vielen Bereichen nicht nach dem Willen oder den Wünschen der Betroffenen handeln. Menschen mit Demenz sind meist gegen ihren Willen in einer Tagesbetreuungseinrichtung, lehnen fremde Betreuungspersonen ab, sind oft wenig wertschätzendem Umgang und mangelndem Respekt ausgesetzt. Ihre finanziellen Angelegenheiten werden von anderen Personen übernommen, sie dürfen nicht mehr Auto fahren und ihr Lebensalltag ist insgesamt fremd bestimmt.

Achtung vor der Selbstbestimmung: Es stellt sich die Frage, wie weit die Eigenverantwortung des Menschen mit Demenz erhalten bleiben kann bzw. welche Bereiche sie umfasst. Das Zugeständnis von Autonomie und Entscheidungsmöglichkeiten hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, wie Krankheitsstadium, Persönlichkeit, Umfeld, persönlichen und gesellschaftlichen Werten und weitgehend auch von den Angehörigen und Betreuungspersonen. Menschen mit Demenz haben ein hohes Schutzbedürfnis. In fortgeschrittenen Stadien, bei der Übersiedlung in eine Pflegeeinrichtung und am Lebensende des kranken Familienmitgliedes brauchen Angehörige intensive Beratung und Unterstützung beim Treffen von rechtsethischen Entscheidungen, auch solchen, die Leben und Sterben betreffen.

Auch diese Fragen werden in Einzelgesprächen oder in der Gruppe diskutiert und gemeinsam, mit Hilfe von Experten wird nach Antworten und Lösungen gesucht.

Angebote von Alzheimer Austria

Die Hauptaufgabe von Alzheimer Austria ist es, die pflegenden Angehörigen in den langen Jahren der Krankheit zu begleiten, darüber hinaus sieht sie sich als Plattform für pflegende Angehörige, um deren Nöte und Sorgen, sowie auch deren Forderungen zu artikulieren und der Öffentlichkeit bekannt zu machen.

Die Gruppe besteht seit 25 Jahren, derzeit gibt es österreichweit ca. 30 Selbsthilfegruppen für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen, die in vielen Bereichen zusammenarbeiten und untereinander gut vernetzt sind. Auch diese regionalen Gruppen bieten zahlreiche Entlastungsangebote, z. B. bietet MAS, Bad Ischl, Urlaubsangebote für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen.

Merkmale von SH Gruppen:

  • Betroffenheit durch ein gemeinsames (gesundheitliches) Problem
  • Bedürfnisse kommen aus der Gruppe
  • es herrscht Freiwilligkeit
  • es bestehen keine kommerziellen Interessen
  • alle Teilnehmenden sind gleichberechtigt
  • gemeinsame Schritte zu Problemlösung
  • wechselseitiger Austausch, Anerkennung und Unterstützung.

In der Gruppe ist es möglich, die eigenen Probleme und Konflikte gemeinsam zu bearbeiten, aus den Erfahrungen der anderen zu lernen, Informationen zu erhalten und auszutauschen, sich gegenseitig zu stützen, seine Gefühle ausdrücken und mit anderen Betroffenen teilen zu können und zu erleben, dass man mit seinem Schicksal nicht alleine ist.

Lernen zu vertrauen und Hilfe anzunehmen

Nahe Angehörige, die völlig in der Pflege und Betreuung aufgehen, haben oft kein Vertrauen, dass andere Personen „ihren Patienten“ genau so gut und liebevoll pflegen können. Aus diesem Grund wird Hilfe von außen oft abgelehnt. Viele fühlen sich verpflichtet, Schwierigkeiten alleine zu bewältigen, manchmal sogar soweit, dass auch andere Familienmitglieder nicht mit einbezogen werden. Sie müssen daher lernen, Hilfe anzunehmen und auf das eigene Leben nicht zu vergessen. Die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe bedeutet oft den ersten Schritt nach außen und kann weitere Schritte der Entlastung nach sich ziehen. Die Angehörigen lernen, sich ihre Überbelastung einzugestehen und zu überblicken, was noch alles auf sie zukommen kann.

Die Gruppentreffen geben den Teilnehmenden die Möglichkeit zum Gedanken- und Erfahrungsaustausch und zum Kennenlernen neuer Verhaltensweisen. Da der Austausch unter Gleichbetroffenen stattfindet, können sich die Teilnehmer ernst genommen fühlen und für ihre Tätigkeit verstehende Wertschätzung erhalten. Schließlich erlauben diese Gruppentreffen es den Pflegenden, sich auch wieder als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen und nicht nur über die Pflegetätigkeit definiert zu werden.

Pflegende Angehörige werden von ihrem Umfeld oft im Stich gelassen und kämpfen mit Unverständnis und Fehleinschätzung der Situation durch Außenstehende oder leiden unter „guten“ Ratschlägen von Verwandten oder Freunden.

Pflegende Angehörige haben ein Recht auf Entlastung

Pflegende Angehörige spielen eine tragende Rolle im Gesundheits- und Sozialsystem und sind der größte unentgeltliche Pflegedienst im Land. Sie gehen oft weit über die eigenen Grenzen der Belastbarkeit hinaus. In den vergangenen Jahren haben in vielen Bereichen Entwicklungen stattgefunden; trotzdem finden die Leistungen der pflegenden Angehörigen noch nicht genügend Beachtung und Anerkennung. Der Ausbau der sozialen, pflegerischen und finanziellen Maßnahmen zur Unterstützung der Menschen mit Demenz und deren Familien wird in Zukunft immer wichtiger.

Neben den Angeboten der Selbsthilfegruppen gibt es heute zahlreiche Angebote im Gesundheits- und Sozialbereich. Unterstützung bieten:

  • Hausarzt, Facharzt, Gedächtnisambulanzen, Memory Kliniken
  • Soziale Dienste
  • Psychotherapie, Beratung
  • Pflegetelefon
  • Tagesbetreuung, Nachtbetreuung
  • Urlaubsangebote
  • 24-Stunden-Pflege
  • Kurzzeitpflege
  • Langzeitpflege

Zusätzlich zu einem Gespräch mit dem Arzt des Vertrauens sollten die regional vorhandenen Angebote in Anspruch genommen werden. Ob dies nun Entlastungsgespräche in Angehörigengruppen, vertrauliche Einzelgespräche mit fachlich ausgebildeten und erfahrenen Therapeuten und Beratern, Unterstützung durch mobile Dienste oder die Inanspruchnahme eines Tageszentrums für Menschen mit Demenz sind, Kurzzeitpflege, 24h-Betreuung zu Hause oder Langzeitpflege in einer demenzgerechten Pflegeeinrichtung und vor allem auch finanzielle Unterstützung – Angehörige sollen jede Hilfe erhalten und nutzen können.

Beratungszentren für die Pflege zu Hause und die sozialen Stützpunkte der Gemeinden vermitteln

  • Unterstützung im Alltag durch Besuchsdienste, Heimhilfen, Essen auf Rädern, Kontinenzberatung, Wäschedienst und Reinigungsdienst
  • Pflegeleistungen durch mobile Hauskrankenpflege
  • Beratung zur Wohnungsadaptierung
  • Case Management (Information, Erhebung des individuellen Pflegebedarfs, Kostenberechnung, Beratung bez. Hilfsmittel, Sozialarbeit)

Leider stehen viele Angebote nur in größeren Städten und Gemeinden zur Verfügung. Im ländlichen Raum gibt es immer noch einen Mangel an Tagesbetreuung und Therapieangeboten.

Die Betreuung zu Hause sollte idealerweise patientenorientiert, multiprofessionell, individuell, flexibel und finanziell leistbar sein. Leider trifft dies für viele Angebote nicht zu. Die Familien müssen sich nach den zeitlichen und personellen Möglichkeiten der anbietenden Institutionen richten, die Betreuung ist nicht an die Bedürfnisse der Menschen mit Demenz angepasst und oft finanziell nicht leistbar, da auch die Einstufungen in die Pflegestufen meist nicht dem tatsächlichen Aufwand entsprechen. So werden viele dieser Angebote von den Familien nicht angenommen, obwohl sie die Angehörigen entlasten könnten.

Zahlreiche therapeutische Angebote, wie Validation, Musiktherapie, Musik- und Singgruppen, Ergotherapie, Kunsttherapie, Bewegungsgruppen, Aromatherapie, Erinnerungsarbeit und kognitives Training in verschiedenen Schwierigkeitsstufen stehen den Betroffenen zur Verfügung. Die meisten dieser Therapien sind aber privat zu bezahlen und sind somit wiederum nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich. In späteren Stadien bieten sich verschiedene Pflegemodelle, wie aktivierende Pflege oder basale Stimulation, an. Diese therapeutischen Möglichkeiten bieten einerseits Anregung und Förderung für die Kranken, sollen Freude machen und die Gemeinschaft fördern. Andererseits stellen sie für die pflegenden Angehörigen Entlastung und Abwechslung im Alltagsleben dar, erschließen auch ihnen neue Kontakte und bewirken meist einen verständnisvolleren Umgang mit den Erkrankten. Die tatsächliche Pflege zu Hause kann durch gezielte Information und Anleitung durch Fachkräfte verbessert werden. Das Angebot von demenzgerechten Tagesbetreuungseinrichtungen ist aus der Versorgungslandschaft nicht mehr wegzudenken.

Mittlerweile gibt es zahlreiche Beratungsangebote und professionelle Hilfsangebote durch öffentliche oder private Einrichtungen. Auch hier werden meistens kostenlos Information und entsprechende Beratung geboten.

Die Kommunikation zwischen Angehörigen und Ärzten, Therapeutinnen, professionellen Pflegepersonen und in Institutionen tätigen Personen muss gefördert und verbessert werden. Pflegende Angehörige sind keine Bittsteller und müssen als kompetente Partner gesehen werden

  • sie sind wesentliche Partner im Betreuungssystem
  • sind oft gut informiert, auch durch das Internet, tauschen Erfahrungen aus, beurteilen Qualität
  • fordern Therapie
  • verdienen Anerkennung ihrer Tätigkeit
  • sind emotional stärker betroffen
  • fühlen sich stärker verantwortlich
  • leiden unter psychischen und physischen Belastungen, unter eigener Hilflosigkeit
  • haben eine subjektive Sicht der Probleme, eigene Ängste, Befürchtungen
  • haben eine persönliche Beziehungsgeschichte mit dem erkrankten Familienmitglied

Psychotherapie, psychologische Beratung und psychosoziale Interventionen für Angehörige von Menschen mit Demenz sind weitere Säulen in der Entlastung pflegender Angehöriger.

Beratungsgespräche können im Rahmen telefonischer Beratung, von Hausbesuchen im Umfeld der Familien, in den Räumen einer Institution, Beratungsstelle, Praxis, Ambulanz oder in einem Lokal (z. B. Alzheimer Café), bei öffentlichen Veranstaltungen, oft auch im Beisein der Betroffenen stattfinden.

Therapie findet in unterschiedlichen Settings statt: Einzeltherapie, Paartherapie, Therapiegruppen und Familiengespräche – hier geht es meist um die Klärung innerfamiliärer Konflikte, um unterschiedliche Anliegen der einzelnen Familienmitglieder, negative Familienmuster und die individuelle Familiengeschichte.

Im Gespräch ist darauf zu achten, dass die Klienten ihre Probleme, ihre Anliegen, ihre Erwartungen definieren, dass die individuelle Situation wahrgenommen wird und generelle Annahmen vermieden werden.

Es gilt zu erfassen, was sie im Moment brauchen. Sachliche Information, Bestätigung des eigenen Tuns oder das Aussprechen-Dürfen von Gefühlen? Vorschnelle Ratschläge und Lösungsvorschläge sind nicht hilfreich.

Die Methode der personenzentrierten Psychotherapie eignet sich besonders für die therapeutische Arbeit mit Angehörigen von Menschen mit Demenz. Die Grundhaltungen der positiven Wertschätzung, Akzeptanz, Zuwendung, einfühlendes Verstehen und Achtsamkeit vermitteln den Angehörigen das Gefühl „ich werde verstanden, nicht bewertet“, „ich werde nicht kritisiert, sondern erhalte Anerkennung“.

Die Echtheit und Authentizität des Therapeuten zeigen sich in seiner Haltung, Einstellung und Glaubwürdigkeit.

In der Therapie geht es für Angehörige darum, Gefühle wahrzunehmen und ansprechen zu können. Belastende Gefühle wie Schuldgefühle, Angst zu versagen, vor der Zukunft, vor dem Tod, Einengung, Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, Ärger, Wut und Trauer sind allgegenwärtig im Leben pflegender Angehöriger.

Überforderung, Aggression, innere und äußere Konflikte, verbale oder physische Gewalt können besprochen und bewältigt werden.

Angehörige leiden unter dem ständigen Erleben von Verlust:

  • Verlust der Persönlichkeit des geliebten und vertrauten Menschen
  • Verlust des Partners, des Elternteils, der ein ganz anderer, ein fremder Mensch geworden ist.
  • Verlust des Gesprächspartners
  • Verlust einer Hilfe im Alltag
  • Verlust der Intimität und Sexualität

Durch die ständigen Veränderungen und Verluste sind die Angehörigen einem lange dauernden Prozess des Abschiednehmens ausgesetzt. Die Unterdrückung des Trauer- und Anpassungsprozesses führt zu einer anhaltenden Trauerreaktion. Wird die Trauerarbeit nicht geleistet, oder wird die Krankheit nicht akzeptiert, bleibt die depressive Reaktion unbewältigt und die Trauerarbeit wird häufig erst nach dem Tod des Angehörigen geleistet.

Im Gespräch bzw. der Therapie mit Angehörigen von Menschen mit Demenz ergeben sich spezielle Aspekte.

Angehörige stehen dauernd unter Stress. Die Kranken und deren Befinden und Verhalten stehen im Mittelpunkt, eigene Bedürfnisse werden nicht mehr wahrgenommen und Grenzen nicht erkannt. Sehr oft werden Hilfe von außen und Lösungsmöglichkeiten abgelehnt („Uns kann niemand helfen“). Meist stehen die Defizite des Erkrankten im Mittelpunkt, Ressourcen werden nicht wahrgenommen. Unbewältigte Beziehungskonflikte mit dem Erkrankten können nicht mehr gelöst werden. Der Verlust von Sexualität und Zärtlichkeit wird schmerzlich empfunden.

Die Angehörigen erhalten von ihrem Partner oder dem Elternteil nur wenig Dankbarkeit, und die Situation wird als noch trauriger und belastender empfunden, wenn sie von den Erkrankten nicht mehr erkannt werden.

Oft ist es notwendig, im Rahmen einer Krisenintervention äußere Ressourcen zu mobilisieren und Kontakte zu sozialen Einrichtungen oder psychosozialen Diensten herzustellen.

Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Information, Erfahrungsaustausch, Angehörigenberatung in den Selbsthilfegruppen, Angehörigenschulung, psychosoziale Interventionen und psychotherapeutische Begleitung zu einer deutlichen Entlastung und Verbesserung der Lebensqualität der Betreuer, zu verbesserten Interaktionen mit den erkrankten Personen und dadurch auch zu einer Verbesserung ihrer Lebensqualität führen. In der Folge davon kommt es zu einer späteren Institutionalisierung der Patienten, die Häufigkeit von Pflegeheimeinweisungen wird reduziert und die Kranken können ca. 1 bis 2 Jahre länger in der gewohnten häuslichen Umgebung verbleiben.8

Die Arbeit der Angehörigen darf jedoch nicht auf ökonomische Pflegeleistungen reduziert werden. Die jahrelange Begleitung eines demenzkranken Menschen mit aller Sorge, Zuneigung und Achtung verdient große Aufmerksamkeit und Anerkennung.

Referenzen

  1. Weyerer S., Schäufele M., Services for dementia in Continental Europe. A German view, in: O`Brien J., Ames D., Burns A., Dementia, 2nd edition (2002), S. 303-305
  2. Alzheimer´s Association 2009, Alzheimer´s Disease Facts and Figures, Alzheimer´s and Dementia, Volume 5, Issue 3
  3. Rainer M. et al., Pflegende Angehörige von Demenzerkrankten: Belastungsfaktoren und deren Auswirkung, Psychiatr. Praxis (2002); 29
  4. Österreichische Alzheimergesellschaft, www.alzheimer-gesellschaft.at
  5. Alzheimer`s Disease International, www.alz.co.uk/vision-and-aims
  6. Alzheimer Europe, www.alzheimer-europe.org/Alzheimer-Europe/Who-we-are/Our-members
  7. Alzheimer Austria, www.alzheimer-selbsthilfe.at
  8. Mittelman M. S, Ferris S. H., Steinberg G. et al., An intervention that delays institutionalisation ofAlzheimer’s disease patients: Treatment of spouse-care-givers, Gerontologist (1993); 33: 730-740; Brodaty H., Green A., Koschera A., Meta-Analysis of Psychosocial Interventions for Caregivers of People with Dementia, Alzheimer`s Association, JAGS (2003); 51: 657-664

Letzter Zugriff auf sämtliche Internetseiten am
29. April 2016.

Anschrift der Autorin:

Antonia Croy
Personenzentrierte Psychotherapeutin in freier Praxis
Präsidentin der Selbsthilfegruppe „Alzheimer Austria“
Beatrixgasse 16/3, A-1030 Wien
antonia.croy(at)chello.at

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