Umgang mit Demenzkranken: ein tugendethischer Ansatz

Imago Hominis (2016); 23(2/3): 149-158
Enrique H. Prat

Zusammenfassung

Der Beitrag versucht, die Beziehung zwischen professionellen Pflegepersonen oder selbst pflegenden Angehörigen und Menschen mit Demenz aus dem Blickwinkel der Tugendethik zu betrachten. Ethik will gelebt sein. Mit ethischem Wissen allein lässt sich das Gute nicht tun. Ethik ist eine praktische Wissenschaft. Die ethische Kompetenz besteht deshalb nicht nur aus persönlichem ethischem Wissen (praktische Prinzipien, Handlungstheorie und Handlungstypologie), sondern vor allem im persönlichen Umsetzungsvermögen dieses Wissens. Dieses Können wird klassisch als Tugend bezeichnet. Es soll versucht werden, diese ethische Kompetenz auf konkrete Tugenden herunter zu brechen und so ein Tugendprofil für die Betreuer von Menschen mit Demenz zu entwerfen.

Schlüsselwörter: Demenz, Tugendethik, Pflegeethik, Pflegebeziehung

Abstract

This contribution concerns the interrelation of professional caregivers or caregiving relatives with dementia patients in the framework of virtue-
ethics. Ethical knowledge alone does not bring about good practice. Ethics is a practical science. Ethical competence depends largely on the perso-
nal abilities to convey principals, theory and typology of acting, but even more on personal input. This ability is classically known as virtue. This ethical competence has its impact on concrete virtues, forming a basis for the profile of virtues of care-
givers for patients with dementia.

Keywords: dementia, virtue ethics, care ethics, care relationship


1. Die Welt der Demenz

Die ungeteilte Menschenwürde des an Demenz erkrankten Menschen und der Anspruch, dass diese uneingeschränkt respektiert werden muss, gehört zum allgemeinen Konsens unserer Gesellschaft. Was aber in der Theorie, d. h. auf der Ebene der Prinzipien klar zu sein scheint, bereitet Angehörigen und Pflegepersonen in der Praxis, also in der Umsetzung, durchaus Schwierigkeiten. Denn „Demenz kennt keine Benimmregeln, folgt ihren eigenen Gesetzen, ihrer eigenen Ordnung und setzt die althergebrachte Ordnung außer Kraft“.1 Die von Menschen mit Demenz erzeugte „Unordnung“ kann betreuende Angehörige und Pflegende überfordern. Unerwartete und unverständliche Haltungen von demenzerkrankten Menschen wie Angst, Verlorenheit, Widerstand und Verweigerung, Aggressionen oder Gewalt sind Verhaltensweisen, die auf Dauer nicht selten pflegende Angehörige und professionelle Betreuer an ihre Grenzen führen.

In der Pflegewissenschaft steht außer Streit, dass „eine Ethik der Sorgenden von Menschen mit Demenz die Bedürfnisse der Menschen mit Demenz ebenso wie die Bedürfnisse der An- und Zugehörigen und der professionell Sorgenden“2 berücksichtigen muss.

Arno Geiger schreibt in seinem Buch „Der alte König in seinem Exil“ über seinen demenzerkrankten Vater: „Der tägliche Umgang mit ihm glich immer öfter einem Leben in der Fiktion. Wir richteten uns in all den Erinnerungslücken, Wahnvorstellungen und Hilfskonstruktionen ein, mit denen sein Verstand sich gegen das Unverständliche und die Halluzinationen wappnete. Der einzige verbliebene Platz für ein Miteinander, das sich lohnte, war die Welt, wie der Vater sie wahrnahm. Wir sagten so oft wie möglich Dinge, die seine Sicht bestätigen und ihn glücklich machten. Wir lernten, dass die Scheinheiligkeit der Wahrheit manchmal das Allerschlimmste ist. Sie brachte die Sache nicht weiter und diente allen schlecht. Einem Demenzkranken eine nach herkömmlichen Regeln sachlich korrekte Antwort zu geben, ohne Rücksicht darauf, wo er sich befindet, heißt versuchen, ihm eine Welt aufzuzwingen, die nicht die seine ist.“3

Die Beziehung mit einem Demenzkranken ist eine interpersonelle Beziehung, eine dialogische Beziehung von Mensch zu Mensch. Wenn man die Würde des Menschen mit Demenz achtet, sein Selbstbestimmungsrecht ernst nimmt und nicht der Versuchung erliegt, dieses Recht aufgrund des reduzierten mentalen und körperlichen Status zu relativieren, stellen die Kommunikation mit den Pflegebedürftigen und die Implementierung seiner oft nicht nachvollziehbaren Wünsche hohe fachliche und moralische Ansprüche an Angehörige und Pflegende. Spezielle Technik, hohe Geschicklichkeit, Kreativität, Empathie, Geduld, Fleiß und vieles mehr sind notwendig, um sich in die andere Welt hineinzuversetzen. Denn der Umgang mit einem Demenzkranken erfordert ein ständiges Pendeln zwischen zwei Welten, der Welt der „Fiktion“ und unserer Welt. In beiden Welten herrschen andere Kategorien und andere Regeln, eine andere Logik und eine andere Rationalität. Es genügt nicht, in der Welt des anderen ein Zuschauer zu sein. Man bliebe ein Fremder, aber man wird kein „Du“. Der im eigenen Zuhause pflegende Angehörige oder die Pflegeperson in geriatrischen Langzeitpflegeeinrichtungen achtet die Würde des Demenzerkrankten, wenn er/sie bereit ist, die Grenzen zwischen den zwei Welten laufend und kompetent zu überschreiten, um in der Welt, die nicht die eigene ist, zum Begleiter, Coach und Helfer zu werden. Erst so werden der betreuende Angehörige und die Pflegeperson zum „Du“ in der Welt des anderen. Wie die Erfahrung zeigt, kann dieses Hin- und Herpendeln zwischen zwei Welten jedoch physisch und emotional so aufreibend sein, dass selbst die physische und psychische Gesundheit der Betreuer gefährdet werden kann.

2. Asymmetrie und Symmetrie in der Pflegebeziehung

Helfen und Unterstützen steht bei jeder Pflegebeziehung im Vordergrund. Schon aus der Entstehung der Pflegeberufe stellen die Hilfe und der Dienst, die an anderen Personen geleistet werden, die wesentlichen und ureigensten Elemente dieser Profession dar – und dies nicht bloß in den Anfangszeiten, als die Pflege als reiner Dienst der Barmherzigkeit ausgeübt wurde. Als professionelle oder freiwillige Arbeit untersteht die Pflege daher der Fürsorgeethik. Das Helfen ist der zentrale Handlungstypus der Fürsorgeethik.

Helfen und Sich-Helfen-Lassen sind zugleich normale Situationen im Alltag eines jeden Menschen. Allein durch die Tatsache, dass jeder von uns seine natürlichen Grenzen in allen seinen Dimensionen hat, ist jeder auf Hilfe angewiesen und steht somit in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis (Interdependenz) zu seinem Umfeld. Die Interdependenz ist auch im Pflegeheim auf verschiedenen Ebenen erfahrbar: Der Bewohner nimmt die professionelle Hilfe der Pflegepersonen in Anspruch, zugleich wenden sich die Pflegepersonen selbst in bestimmten Situationen hilfesuchend an Kollegen oder die Pflegedienstleitung, auch Angehörige suchen die Hilfe der Pflegenden, usw.

Gerade aufgrund dieses Helfens und Sich-Helfen-Lassens gilt die Pflegebeziehung als asymmetrische Beziehung. Menschen, die der Pflege bedürfen, sind von den pflegenden Angehörigen oder von den professionellen Pflegern abhängig. Sie sind körperlich und/oder geistig nicht mehr imstande, allein für sich zu sorgen. Sie brauchen Hilfe bei lebensnotwendigen Verrichtungen, weil sie vorübergehend oder permanent gewisse vitale Funktionen verloren haben. Dies trifft ganz besonders bei der Pflege jener Personen zu, die an schweren Demenzerkrankungen leiden.

Pflegepersonen und Personen in Pflege sind zuallererst: Personen. Beide haben den gleichen Anspruch auf Achtung ihrer Würde. Bei den Pflegebedürftigen ist diese durch ihre Abhängigkeit in keiner Weise vermindert. Beide – Pfleger und Umsorgter – stehen in einer Beziehung, die im Wesentlichen symmetrisch und nur im Unwesentlichen asymmetrisch ist. Diese Unterscheidung ist anthropologisch wichtig und ethisch relevant.

Für den Betreuer bietet sich in der ersten Wahrnehmung das Bild eines Patienten mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung, die sich z. B. in völliger Zurückgezogenheit oder in abweisenden oder permanent aggressiven Haltungen äußert. Diese äußere Wahrnehmung darf nicht verdecken, dass er es mit einer menschlichen Person zu tun hat, deren Würde bedingungslos zu achten ist.

In der Palliativen Geriatrie stellt meistens die Kommunikation eine besondere Herausforderung dar, hier liegt oft das Kernproblem für Konflikte. Eine besondere kommunikative Kompetenz ist in der Tat die Voraussetzung für die Achtung der Würde von demenzkranken Menschen, denn wenn sie fehlt, wie Martina Schmidl treffend ausführt, „werden Patientinnen, mit denen man nicht in Beziehung treten kann, allmählich nur mehr als Objekte, ‚als eine Art Werkstück’ wahrgenommen, ihr Leid und ihr nahendes Lebensende gehen ihren Betreuerinnen nicht mehr wirklich nahe und werden kaum registriert.“4 Auch bei pflegenden Angehörigen kann dies zutreffen. Wenn die Kommunikation auf Dauer fehlt, weil z. B. der demenzerkrankte Verwandte nicht mehr spricht oder weil er sich konstant inkohärent ausdrückt oder aggressiv verhält, kann eine Entfremdung in der Beziehung, die zuweilen sogar zur Gewalt führt, auftreten.5 Das sind extreme Fälle, doch gerade für diese Fälle ist in der Pflege eine ethische Kompetenz besonders notwendig.

3. Die ethische Dimension der Pflegebeziehung

Die geriatrische Langzeitpflege begründet ein in die intimen Bereiche des Pflegebedürftigen eingehendes, mehr oder weniger dauerhaftes, intensives und emotional geprägtes Verhältnis. Die Pflegebeziehung besteht daher aus zwei Komponenten: einer fachlichen und einer emotionalen Komponente bzw. Beziehungskomponente. Die fachliche Komponente oder auch fachwissenschaftliche umfasst Aufgaben wie Kommunikation, Körperpflege (Mundpflege, Reinigung usw.), schonende Lagerung, Schmerzlinderung, Vergabe von Medikamenten, Linderung von Atemnot, Beobachtung von Harn- und Stuhlausscheidung usw. Sie haben die Optimierung der Lebensqualität der dementen Personen zum Ziel.

Die Beziehungskomponente wird durch die ausgewogenen affektiven Bande zwischen pflegenden und gepflegten Personen charakterisiert. Diese Bande sind unbedingt notwendig für das Wohl des erkrankten Menschen. Die fachlichen und die emotionalen Komponenten sind an sich nicht zu trennen, sie gehören zu jeder Pflegehandlung. Die Pflegeperson benötigt daher eine Fachkompetenz und eine Sozialkompetenz. Darüber hinaus braucht sie eine ethische Kompetenz. Die ethische Kompetenz ist nicht bloß eine weitere Kompetenz neben der Fach- und Sozialkompetenz, sondern eine alle anderen Kompetenzbereiche integrierende Kompetenz.

4. Die Pflegeethik und Pflegekompetenz

Die Pflegeethik hat sich im Sog der viel älteren ärztlichen Ethik hauptsächlich als eine Sollens-Ethik entwickelt. Durch Prinzipien, Maximen und Handlungsregeln legt sie die Kriterien zur Beurteilung dessen fest, was in einer konkreten Handlung das Gesollte ist. Sie operiert aus der Perspektive der dritten Person („man“): Das reflektierende Subjekt nimmt sich aus der Handlung heraus und stellt nur quasi als neutraler Beobachter fest, ob bei einem bestimmten Handlungstypus eine Handlungsmaxime zum Naturgesetz (Kant’scher kategorischer Imperativ) erhoben werden kann. Diese Perspektive fokussiert nicht auf eine partikuläre Handlung in ihrer faktischen Geschichtlichkeit und gewissermaßen Einzigartigkeit, d. h. gebunden an eine handelnde Person mit einer bestimmten Biografie, die in einer beschreibbaren, real-praktischen Situation mit konkreter Absicht eine Entscheidung trifft, sondern im Mittelpunkt stehen die universell geltenden Normen oder Prinzipien, die zur sittlichen Beurteilung von idealtypischen Handlungen dienlich sind.6 Gerade im Bereich der Pflege will der Pflegebedürftige aber nicht bloß nach allgemeinen Regeln, sondern entsprechend seiner konkreten Situation und seinen Bedürfnissen behandelt werden – was für Pflegende eine besondere Herausforderung darstellt.

Ethik will vor allem gelebt sein. Die ethische Kompetenz besteht deshalb nicht nur aus persönlichem ethischem Wissen (praktische Prinzipien, Handlungstheorie und Handlungstypologie), sondern vor allem im persönlichen Umsetzungsvermögen dieses Wissens, und das ist die Tugend. Ethik ist eine praktische Wissenschaft. Mit ethischem Wissen allein lässt sich das Gute nicht tun. In der Ethik geht es nicht nur um eine theoretische Wahrheit, sondern in erster Linie um eine praktische, letztlich also nicht um Ist-Urteile, sondern um Soll-Urteile der praktischen Vernunft, denn „Handeln entspringt praktischer Vernunft, die selbst wiederum eine im Streben eingebettete und dieses Streben kognitiv leitende Vernunft ist“.7

Die ethische Kompetenz der Pflegeperson ist aber nicht eine neben der fachmedizinischen, ökonomischen, kommunikativen und organisatorischen Kompetenz, sondern eine alle anderen integrierende Kompetenz. Der pflegetechnisch perfekte Pfleger ist noch kein guter Pfleger, wenn er kommunikative Fehler begeht und/oder in seiner Arbeitsweise chaotisch und/oder ökonomisch verschwenderisch ist usw. Die sittliche Kompetenz des Pflegenden integriert alle diese Kompetenzen in der für jede Handlung angemessenen Weise. Und noch mehr: Die sittliche Kompetenz der Pflegeperson fordert alle anderen Kompetenzen, die in der Handlung involviert sind, optimal heraus. Ethische Qualitätssicherung hat alle anderen Dimensionen der Qualitätssicherung zur Voraussetzung. Das führt zu der These, dass das Streben nach ethischer Qualität auch alle sektoriellen Qualitäten im Hinblick auf das Ziel inkludiert. Mit ethischer Kompetenz lässt sich Qualität in jeder Hinsicht am besten sichern.

Im Pflegealltag sind Pflegepersonen und Pflegeteam laufend mit ethischen Problemen konfrontiert, die aus existentiellen „Widerspruchsfeldern“8 oder einfachen Widersprüchen erwachsen. Heimerl9 listet einige dieser existentiellen Widersprüche auf: Pflegeheime als Orte zum Leben und zum Sterben; der Widerspruch zwischen Autonomie und Fürsorglichkeit; Widersprüche, die in den Unterschieden zwischen sozialen Konstellationen begründet sind, systembegründete Widersprüche; entwicklungsbedingte Widersprüche bzw. Widersprüche, die in der speziellen Logik eines Systems liegen. Um mit den konkreten ethischen Problemen umzugehen, genügt es jedoch nicht, ein Wissen über Prinzipien, Maximen und Handlungsregeln, die die Sollensethik vermittelt, erworben zu haben, sondern es ist vor allem erforderlich, jene moralischen Fertigkeiten zu besitzen, die es ermöglichen, diese Prinzipien, Maximen und Handlungsregeln in den ethisch konfliktträchtigen Situationen richtig anzuwenden und umzusetzen. Darüber handelt die Tugendethik.

5. Die Pflegeethik als Tugendethik10

Der Ansatz der Tugendethik unterscheidet sich fundamental von der Sollens-Ethik: Sie reflektiert aus der Sicht der ersten Person. In dieser Perspektive spielt die Vernunft die zentrale Rolle. Sie ist keine reine Vernunft, die immer glasklar erkennt, was nun das Gesollte ist, sondern ist stets in das affektive Vermögen der Menschen eingebettet – und damit auch für Fehleinschätzungen oder -urteile anfällig. Gefühle, Affekte müssen daher in rechter Weise in die ganze handelnde Person integriert werden: „Die vernunftgemäße Verfolgung natürlicher Neigung bedeutet die Integration einer jeden dieser Neigungen und ihrer Ziele in das Gesamtgefüge aller natürlichen menschlichen Neigungen, und dadurch auch ihre Hierarchisierung, Relativierung und wechselseitige In-Bezugsetzung.“11

Die Sollensethik stellt die Frage, was theoretisch in einer Situation zu tun ist, d. h. was das Gesollte ist; die Tugendethik stellt die Frage, was ich als handelndes Subjekt in einer bestimmten Situation, d. h. hier und jetzt, sozusagen im Ernstfall tun soll. Ich werde aber nur dann das Gesollte erkennen können, wenn ich jene Tugenden besitze, die für die Erkenntnis und das Handeln in der konkreten Situation notwendig sind. Wenn das Handlungssubjekt diese Tugenden nicht besitzt, wird die Person nur schwer mit einer Situation fertig werden (Praxis), selbst dann nicht, wenn ihr Prinzipien, Maximen oder Regeln (also die Theorie) bekannt sind. Für die Praxis ist also nicht nur die Prinzipienethik, sondern auch die Tugendethik wichtig. Tugenden sind Fertigkeiten des handelnden Subjekts im Erkennen und in der Umsetzung des ethischen Sollens. Sie bilden den Kern der ethischen Kompetenz.

Tugend kommt im Deutschen von „taugen, tauglich sein für etwas“. Der klassisch-griechische Ausdruck dafür ist areté, worin wiederum mitschwingt: Tüchtigkeit, Tauglichkeit, Vorzüglichkeit und Exzellenz. Der lateinische Terminus für Tugend, „virtus“, leitet sich von „vir“ (lat. Mann) ab und bezeichnet: Tüchtigkeit, Mannhaftigkeit, Kraft, Stärke, Tapferkeit, gute Eigenschaft, Tugendhaftigkeit, Sittlichkeit.

Für Aristoteles ist Tugend entscheidend am Weg zum „guten Leben“. Sie steht weder für Belastung noch Einengung der Vernunft oder gar Traurigkeit. Sie hat dagegen mit Wahrheit, mit Befreiung, mit Qualitätsliebe und mit dem Gelingen des Lebens zu tun. Sie ist der Weg zum Guten, ja, das Gute und die Freude selbst. Tugend ist – nach Aristoteles – jene stabile und feste Grundhaltung, „durch welche ein Mensch gut wird und vermöge derer er seine ihm eigentümliche Leistung gut vollbringt.“12

6. Exkurs in die allgemeine Tugendethik – Kultivierung der Vernunft und Kultivierung der Gefühle13

Nach der klassischen Tugendethik sind es also die Tugenden, die das operative Vermögen des Menschen vervollkommnen. Sie sind Fertigkeiten und Geschicklichkeit im Handeln, und sie konstituieren außerdem so etwas wie eine „zweite Natur“, die den Menschen dazu geneigt und zugleich geeignet machen, das Gute gut zu tun und glücklich zu werden.

Die moralische Tugend ist die erworbene stabile Disposition und Neigung, bestimmte Arten von Handlungen mit Vollkommenheit, Treffsicherheit, Leichtigkeit und Spontaneität zu tun.14 Die moralischen Tugenden sind deshalb nicht nur Neigung zum Guten und die Befähigung dazu, sondern auch immer Qualitätsliebe im Sinne einer Prädisposition, das Gute mit Freude zu tun. Mit einem Wort: Sie sichern die Handlungsqualität des Menschen. Obwohl es sehr unterschiedliche moralische Tugenden gibt, bilden sie eine Einheit (connexio virtutum), sodass die Handlung nur dann gut (tugendhaft) ist, wenn sie allen in der Handlung geforderten Tugenden gemäß durchgeführt wird.

In der Pflege würde das etwa bedeuten: Die gute pflegerische Handlung muss nicht nur fachgerecht, sondern auch respekt- und liebevoll, rechtzeitig und pünktlich, sauber und feinfühlig usw. verrichtet werden. Die Liste aller in der pflegerischen Tätigkeit geforderten Fähigkeiten und Tugenden könnte unendlich fortgesetzt werden,15 wie ein Verzeichnis von Handlungstypologien in der Pflege. So gesehen wäre es praktisch unmöglich, auf alle Tugenden zu achten, auf die es ankommt. Bedeutet das aber, dass ein Handeln gemäß den Tugenden somit Utopie wäre – eine schöne, aber in der Praxis undurchführbare Theorie? Dem ist nicht so, denn die erwähnte innere Einheit der Tugenden führt zur Systematik der vier Kardinaltugenden, die bereits in der antiken Philosophie erarbeitet wurde.

Wie werden diese Kardinaltugenden begründet? In der Vernunft und in der Sinnlichkeit sind die Handlungsantriebe der Menschen zu finden. Demnach werden in der klassischen Anthropologie geistige operative Vermögen (Vernunft und Wille) und sinnliche Vermögen (sinnliche Antriebe und Gefühle im Allgemeinen) unterschieden. Das sinnliche operative Vermögen kann in sinnliches Begehren (Tendenz zu haben und zu besitzen) und sinnliches Streben (Tendenz etwas zu erreichen bzw. zu widerstehen) unterteilt werden. Somit hat der Mensch vier Antriebszentren: Vernunft, Wille, sinnliches Begehren und sinnliches Streben. Diese vier Vermögen werden von je einer Kardinaltugend vervollkommnet: Die Vernunft durch die Weisheit, der Wille durch die Gerechtigkeit, das sinnliche Begehren durch die Mäßigkeit und das sinnliche Streben durch den Starkmut.

Die Klugheit – recta ratio agibilium16 (das Handeln nach der rechten Vernunft) – vervollkommnet die Vernunft. Aber der Mensch ist nicht nur Vernunft. Die Vernunfturteile eines Menschen stehen immer in einem Zusammenhang mit Akten der sinnlichen Wahrnehmung und dem sinnlichen Strebevermögen – und diese „Prämissen“ praktischer Vernunfturteile können fehlerhaft sein.17 Die drei anderen Kardinaltugenden vermag der Mensch zu entwickeln, indem er seinen eigenen Neigungen und seinem eigenen Streben mit Vernunft begegnet. Wenn der Mensch seinem Willen vernünftig begegnet, sodass er auch das Wohl der Mitmenschen und nicht nur das eigene anstrebt, dann entsteht Gerechtigkeit, die Vervollkommnung des Willens.18 Mäßigkeit, die Vervollkommnung des sinnlichen Strebevermögens, entfaltet sich dadurch, dass der Mensch mit Vernunft der Anziehungskraft begegnet, die von den sinnlich-wahrnehmbaren Dingen ausgeht. Tapferkeit bzw. Starkmut, die Vervollkommnung des Mutes, entsteht, wenn der Mensch den Triebkräften, mit denen er nach schwierigen Dingen strebt bzw. Gefahren widersteht, vernünftig begegnet. In jedem Fall geht es darum, unsere Natur so effizient zu „regeln“, dass wir mit der für die Tugend charakteristischen Natürlichkeit das Gute tun, eine Natürlichkeit, die der Ordnung der Vernunft folgt.

Alle anderen moralischen Tugenden lassen sich diesen vier Grundtugenden als deren Bestandteil bzw. als verwandte Tugenden zuordnen. Wie bereits erwähnt besteht zwischen allen Tugenden eine innere Einheit und eine Systematik, die von der Tugend der Klugheit gesichert wird,19 sodass eine Handlung nur Akt einer Tugend, d. h. erst tugendhaft sein kann, wenn sie gegen keine andere Tugend steht. Diese Systematik der Tugenden soll anschließend im Abschnitt beim Tugendprofil der Pflege gezeigt werden.

7. Das Tugendprofil für der Umgang mit Menschen mit Demenz

Wie bereits erwähnt, stellt der Pflegeberuf ganz besondere Anforderungen bezüglich der organisatorischen, der pflegefachlichen und der sozialen-kommunikativen Kompetenz, die auch in der ethischen Kompetenz zusammengefasst werden können.20 An anderer Stelle21 habe ich versucht, auf Grund der besonderen Kompetenzanforderungen in der geriatrischen Langzeitpflege ein Tugendprofil für diese Pflege abzuleiten. Für die Pflege von schwer demenzkranken Menschen ist auch dieses Tugendprofil gültig: Weisheit (Klugheit), Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit, Sachlichkeit, Wohlwollen, Geduld, Selbstbeherrschung, Empathie, Wahrhaftigkeit, Ausdauer, Gelassenheit, Aufmerksamkeit, Verfügbarkeit, Mut, Demut, Lernfähigkeit, Loyalität, Standhaftigkeit, Flexibilität, Wachsamkeit, Dialogbereitschaft, Großmut, Fleiß, Ordnung, Voraussicht, Vorsicht, Mitleid, Freude, Vertrauen, Duldsamkeit und Optimismus.

Diesen 32 Haltungen können auch in der Systematik der Kardinaltugenden wie in der Tabelle 1 geordnet werden.22

In Tabelle zwei wird versucht, den Inhalt der einzelnen Haltungen im Zusammenhang mit der Pflege von Menschen mit Demenz darzustellen, wobei es nicht um Definitionen der einzelnen Tugenden geht, sondern um konkrete Verhaltensweisen der Pflegepersonen, zu denen diese Tugenden in der Beziehung zum Bewohner anleiten. Das gleiche würde natürlich auch für betreuende Angehörige gelten. Diese Tugenden spielen aber nicht nur in der Beziehung Pflegeperson-Bewohner eine Rolle, sondern auch in der Beziehung zu den Angehörigen und im Pflegeteam untereinander, wo diese ethischen Anforderungen (Tugenden) gefordert sind.

Sind alle Tugenden gleich relevant? Ganz allgemein muss man sagen, dass alle Tugenden wichtig sind. Dennoch: Je nach Situation und Persönlichkeitsstruktur der Pflegeperson und des Bewohners bekommen die einzelnen Tugenden im konkreten Pflegefall eine besondere Relevanz. So sind z. B. beim äußerst liebenswürdigen Bewohner das Wohlwollen, Empathie und Geduld viel weniger herausgefordert als bei aggressiv reagierenden Bewohnern.

Tab. 1: Die Tugenden der Pflege in der Tugendsystematik
Weisheit Gerechtigkeit Tapferkeit Besonnenheit
Sachlichkeit Wohlwollen Geduld Gelassenheit
Voraussicht Empathie Ausdauer Mitleid
Wachsamkeit Wahrhaftigkeit Mut Demut
Vorsicht Dialogbereitschaft Standhaftigkeit Bescheidenheit
Lernfähigkeit Verfügbarkeit Großmut Fleiß
Ordnung Loyalität Selbstbeherrschung Freude
Flexibilität Vertrauen Duldsamkeit Optimismus

8. Schlussbemerkung

Wie oben wiederholt festgestellt wurde, stellt die Pflege von Menschen mit Demenz oft schwierige Anforderungen an die Pflegenden. Die gestellten Aufgaben können nur richtig bewältigt werden, wenn die Persönlichkeit der Pflegepersonen sich durch hohe moralische Ansprüche und durch ein hochkarätiges Tugendprofil auszeichnet. Man wird sich fragen, wer dann einen Pflegeberuf ergreifen will und welche die Motivation dafür sein kann. Die Antwort darauf ist: Die Pflegebeziehung ist an sich eine klare Win-Win-Beziehung. Der normal veranlagte Mensch wird glücklich, wenn er andere glücklich macht. Das Wohlergehen der betreuten Person lässt die Pflegeperson ein Gefühl der Ganzheit und der Fülle erfahren, das sehr beglückend ist. Denn die Tugenden – wie schon Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik erläutert – sind an sich nicht etwas Belastendes, sondern sie konstituieren so etwas wie eine „zweite Natur“, die den Menschen dazu geneigt und zugleich geeignet macht, das Gute gut zu tun, um die anderen glücklich zu machen und selbst damit glücklich zu werden.

Klugheit (Weisheit)Fähigkeit, richtig zu handeln, d.h. die richtigen Entscheidungen im Umgang mit dem Bewohner zu treffen.
SachlichkeitEmotionslos schwierigen Situationen begegnen und sachlich passende Lösungen finden.
VoraussichtFolgen von Handlungen und Risiken für den Bewohner immer in die Entscheidungen einbeziehen.
WachsamkeitAufmerksam die Veränderungen im Zustand des Bewohners beobachten und dokumentieren und notfalls handeln.
VorsichtBei wichtigen Entscheidungen sich beraten lassen bzw. nochmals überlegen. Erste Lösungsansätze.
LernfähigkeitWille zum Lernen. Offen für neue Erkenntnisse. Aus Fehlern lernen. Zurechtweisungen akzeptieren.
OrdnungRichtige Prioritäten setzen und umsetzten. Achtung auf die kleinen Aufgaben des Alltags.Rechtzeitig dokumentieren.
FlexibilitätNotwendige Änderungen und Anpassungen im Stundenplan bzw. im Pflegeplan rasch erkennen und umsetzen.
GerechtigkeitDer Bewohner ist ein "Du" mit der gleichen Würde und den gleichen Rechten.
WohlwollenAn erster Stelle das Wohl des Bewohners um seiner selbst willen anstreben.
EmpathieEinfühlungsvermögen. Sich in die Lage des Bewohners hineinversetzen können.
WahrhaftigkeitMit dem Bewohner immer aufrichtig sein. Immer entsprechend den kognitiven Fähigkeiten des Bewohners.
DialogbereitschaftFür die Kommunikation und Gespräche laufend offen bleiben.
VerfügbarkeitBereitschaft, immer erreichbar zu sein, auch wenn die Aufgaben manchmal sehr unangenehm sein können.
LoyalitätZum Bewohner stehen. Pflegepersonal ist "Anwalt" und Vertrauensperson des Bewohners.
VertrauenDem Bewohner Vertrauen schenken, auch wenn sich der Bewohner manchmal verweigert.
Tapferkeit (Starkmut)Emotionen und persönliche Befindlichkeiten zum Wohl des Bewohners steuern.
GeduldGeriatrische Prozesse können sehr lange dauern, man muss auch viel Geduld mit den Bewohnern aufbringen.
AusdauerBeharrlichkeit bei den getroffenen Entscheidungen, Pflege muss nachhaltig sein.
MutBei Widerständen (z.B. beim Bewohner oder bei einem Angehörigen) nicht zurückstecken. Richtig aufklären und motivieren.
StandhaftigkeitNicht gleich aufgeben, weil Maßnahmen wenig Wirkung zeigen.
GroßmutFähigkeit, größere, außerodentliche Entscheidungen zu treffen, wenn sie notwendig erscheinen.
SelbstbeherrschungEigene Befindlichkeiten werden zum Wohl des Bewohners zurückgestellt.
DuldsamkeitNicht nachvollziehbares Verhalten des Bewohners wird prinzipiell geduldet bzw. hinterfragt.
Besonnenheit (Maß)Emotionen und Begehrlichkeiten mäßigen und zum Wohl des Bewohners steuern.
GelassenheitIn schwierigen Situationen die Fassung, die Ruhe und die unvoreingenommene Haltung zu bewahren. Keine Nervosität aufkommen lassen.
MitleidDie Fähigkeit mit zu leiden, aber auch die notwendige Distanz zu wahren.
DemutTiefe Haltung des Bewusstseins der eigenen Grenzen und Fehlerhaftigkeit, die dazu führt, sich im Vergleich zum Bewohner, aber auch zu anderen im Team nicht besser vorzukommen.
BescheidenheitUnscheinbar nach außen auftreten. Unbemerkt helfen, ohne es zur Schau zu stellen.
FleißArbeitsam und zielstrebig die anfallenden Aufgaben erledigen.
FreudeDas Bemühen, eine fröhliche Stimmung zu schaffen. Die Bewohner oft heilsam zum Lachen zu bringen.
OptimismusEine besondere Sensibilität für das Gute jeder Situation zu entwickeln und das Gute hervorzuheben und sich darüber offen zu freuen.
Tab. 2: Die Tugenden der Pflege

Referenzen

  1. Heimerl K., Widersprüche im Pflegeheim balancieren, in: Kojer M., Schmidl M. (Hrsg.), Demenz und Palliative Geriatrie in der Praxis, Springer (2011), S. 322
  2. Heimerl K., Ethische Herausforderungen für die Sorgenden von Demenzerkrankten, Imago Hominis, (2015); 22(4): 267-276, hier S. 269
  3. Geiger A., Der alte König in seinem Exil, 6. Auflage, dtv (2015), S. 117
  4. Schmidl M., Die Letzte Lebensphase, in: Kojer M., Schmidl M. (Hrsg.)., Demenz und Palliative Geriatrie in der Praxis, Springer (2011), S. 118
  5. Hörl J., Gewalt gegen alte Menschen als ethisches Problem in der Pflege, Imago Hominis (2012); 19(1): 39-49
  6. Prat E. H., Kardinaltugenden und Kultivierung des Gewissens, Imago Hominis (2001); 8(4): 265-274
  7. Rhonheimer M., Die Perspektive der Moral. Philosophische Grundlagen der Tugendethik, Akademie Verlag, Berlin (2001), S. 151
  8. Heintel P., Widerspruchsfelder, Systemlogiken und Grenzdialektiken als Ursprung notwendiger Konflikte, in: Falk P., Heintl P., Krainz E. (Hrsg.), Handbuch Meditation und Konfliktmanagement. Schriften zur Gruppen- und Organisationsdynamik, VS Verlag für Sozialwissenshaften, Wiesbaden (2005), S. 15-33
  9. Heimerl K., siehe Ref. 1, S. 313-325
  10. González A. M., Prinzipien und Tugenden in der Bioethik, Imago Hominis (2000); 7(1): 17-33; Maio G., Mittelpunkt Mensch: Ethik der Medizin. Ein Lehrbuch, Schattauer, Stuttgart (2012), S. 47-82; Prat E. H., Bioethik: Konsens und Tugendethik, Imago Hominis (2000); 7(2): 125-138; Rhonheimer M., siehe Ref. 7, S. 169-225; Schweidler W., Zur Aktualität des Begriffs der Tugend, Imago Hominis (2000); 7(1): 35-48
  11. Rhonheimer M., Praktische Vernunft und das von Natur aus Vernünftige, ThPh 75 (2000), S. 508
  12. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1106a, 22-24
  13. Müller A. W., „Was taugt die Tugend? Elemente einer Ethik des guten Lebens“, Kohlhammer, 1998
  14. Rhonheimer M., siehe Ref. 7, S. 172
  15. Bonelli J., Mader H., Qualitätssicherung im Krankenhaus und Tugenden. Ein Fragenkatalog, Imago Hominis (2000); 7(3): 189-197
  16. Aquin T. v., Summa theologiae, I-II, q. 56, a. 2 ob. 3 und Expositio in decem libros ethicorum Aristoteles ad Nichomacum, nn 1916, 1445
  17. Rhonheimer M., siehe Ref. 7, S. 148
  18. vgl. Aquin T. v., De Virt., q.un., a. 5, sol.
  19. Aquin T. v., siehe Ref. 18, I-II, q. 65, a. 1; q. 58, a. 4 und II-II, q. 47 a. 6 und 7; Prat E. H., Qualitätssicherung und Tugenden im Gesundheitswesen: Begründung des Zusammenhangs, Imago Hominis (2000); 7(3): 199-211
  20. Prat E. H., siehe Ref. 19
  21. Prat E. H., Exzellenz und Leadership in der Altenpflege. Ein tugendethischer Ansatz, Imago Hominis (2012); 19(2): 115-128
  22. Die Zuordnung der einzelnen Tugenden ist zum Teil eine Ermessensfrage.

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. Enrique H. Prat
IMABE
Landstraßer Hauptstraße 4/13, A-1030 Wien
ehprat(at)imabe.org

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: