Zulassung fremdnütziger Forschung an nichteinwilligungsfähigen Personen - ein Zivilisationsbruch?

Imago Hominis (2016); 23(4): 185-187
Brigitte Huber

Der Deutsche Bundestag hat am 11. November 2016 in namentlicher Abstimmung der Abgeordneten (ohne Fraktionszwang) eine Änderung des geltenden Arzneimittelgesetzes beschlossen, deren Tragweite für das Schutzniveau besonders vulnerabler Personengruppen nicht unerheblich ist. Das Datum des Inkrafttretens steht noch nicht fest.

Worum geht es? Laut EU-Verordnung Nr. 536/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2016 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG sollen die Anforderungen an klinische Studien innerhalb der Mitgliedstaaten harmonisiert werden. Ziel ist es, die „Regeln für die Genehmigung, Durchführung und Überwachung von klinischen Prüfungen nun europaweit verbindlich vorzugeben".1 Für die Umsetzung in deutsches Recht waren dazu einige Anpassungen des deutschen Arzneimittelgesetzes notwendig.

Die beschlossenen Gesetzesänderungen2 ermöglichen in Zukunft die Teilnahme an gruppennütziger Forschung insbesondere von volljährigen Menschen mit neurodegenerativen Erkrankungen (gemeint sind vor allem Menschen mit demenziellen Erkrankungen). Von einer gruppennützigen Forschung wird dann gesprochen, wenn die klinische Prüfung keinen unmittelbaren Nutzen für den einzelnen Probanden bringt, sondern nur ein Nutzen für Dritte, also in diesem Fall der Gruppe derjenigen erhofft, bei denen das gleiche Krankheitsbild vorliegt. Bisher ist in Deutschland die klinische Forschung an nichteinwilligungsfähigen Personen, also Demenzkranken oder anderen Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen, nur dann erlaubt, wenn zu erwarten ist, dass die Probanden selbst unmittelbar einen (potentiellen) Nutzen davon haben werden.

Voraussetzungen zur Anwendung der neuen Regelung sind:

  1. Die betroffenen Personen müssen noch im Zustand der Einwilligungsfähigkeit eine entsprechende schriftliche Verfügung abgefasst haben.
  2. Sie müssen von einem Arzt über Bedeutung und Tragweite der Studie aufgeklärt werden, besonders über Wesen, Ziele, Nutzen, Folgen, Risiken und Nachteile des Forschungsvorhabens.
  3. Wenn sie zu einem (noch nicht bekannten) späteren Zeitpunkt als nicht (mehr) einwilligungsfähige Probanden in eine gruppennützige klinische Prüfung einbezogen werden sollen, muss der Betreuer bzw. Bevollmächtigte prüfen, ob die Festlegungen auf die aktuelle Situation zutreffen (ähnlich wie bei der Patientenverfügung nach §1901a BGB) und nach Aufklärung über Zweck und Umfang ausdrücklich einwilligen, ebenso in die Erhebung, Verarbeitung und Nutzen von personenbezogenen Daten.
  4. Der Proband darf nur minimalen Risiken und Belastungen ausgesetzt werden. Er hat jedoch die Möglichkeit, in der aktuellen Situation verbal oder nonverbal abzulehnen.
  5. Eine Ethikkommission sowie die Bundesoberbehörde müssen jeden Antrag einzeln prüfen.

Zunächst scheint das Schutzniveau ausreichend zu sein, denn das Gesetz respektiert das Recht auf Selbstbestimmung auch über die Schwelle der Einwilligungsfähigkeit hinaus. Viele Fragen bleiben jedoch unbeantwortet:

Zum einen ist völlig unklar, wie eine solche Aufklärung erfolgen soll. Das Studiendesign kann zum Zeitpunkt der Abfassung der Verfügung noch gar nicht bekannt sein. Freiwillige aktuelle und informierte Einwilligung in klinische Studien, ob fremd-, gruppen- oder eigennützig, setzt voraus, dass der Proband zuvor über Inhalt, aktuelle Ziele, Nutzen und Risiken genauestens aufgeklärt wird und jederzeit widerrufen und abbrechen kann. Einwilligungsfähigkeit ist nicht gleichzusetzen mit Verstehensfähigkeit.3 Kritiker stellen auch in Frage, wie sich Ziele und Risiken hochkomplexer Medikamententests lange (unter Umständen Jahre) im Voraus erahnen und exakt beschreiben lassen sollen. Im Gesetzentwurf findet sich kein Hinweis auf Bedarf und Notwendigkeit für gruppennützige klinische Prüfungen an der genannten Personengruppe. Interessant ist, dass offenbar die forschende Pharmaindustrie weder Bedarf noch eine Notwendigkeit für eine solche Forschung sieht, weil die Ziele auch mit noch einwilligungsfähigen Probanden zu erreichen sind. Selbst die Deutsche Alzheimer Gesellschaft sieht keinen konkreten Forschungsbedarf.4 Noch im Jahr 2013 hat der Bundestag einstimmig gefordert, das Schutzniveau für nichteinwilligungsfähige Erwachsene in Bezug auf gruppennützige Forschung zu erhalten (Bundestag Drucksache 17/12183).

Aufklärung kann ein zahnloser Tiger, Patienten können grundsätzlich manipulierbar sein. Ein heute gesunder Mensch willigt für einen potentiellen zukünftigen Zeitpunkt, da er selbst sich an nichts Wesentliches mehr erinnern kann, in eine klinische Studie ein, die ihm selbst nichts nützen wird, obwohl er krankheitsbedingt eine veränderte Persönlichkeit geworden ist mit möglicherweise ganz anderen Wünschen und Wertvorstellungen als noch in „gesunden Tagen".

Wer Erfahrung mit Menschen mit schwerer Demenz hat, wird Zweifel haben an einer rein altruistischen Einstellung. Das Wohl anderer oder das Gemeinwohl im Blick zu haben – und dafür geringe Risiken und Belastungen in Kauf zu nehmen – setzt kognitive Fähigkeiten voraus, die dann krankheitsbedingt verloren gegangen sind. Eine altruistische Grundhaltung mag vorhanden sein, aber es muss dafür Indizien geben.5 Diese Menschen sind schwer beeinträchtigt und besonders schutzbedürftig. Scham und irrationale Ängste kommen oft hinzu; außer der sprachlichen Kommunikation kann auch die Fähigkeit zur nonverbalen Kommunikation abhanden gekommen sein. Die Begriffe „minimales Risiko" und „minimale Belastung" sind interpretierbar. Eine Untersuchung kann mit einem minimalen Risiko verbunden sein, aber die Durchführung für die betroffene Person eine mehr als minimale Belastung darstellen. Mediziner tendieren auch dazu, Risiken geringer einzuschätzen als betroffene Patienten.6

Nach dem Betreuungsrecht darf der Betreuer bzw. Bevollmächtigte nur in Eingriffe oder Maßnahmen an seinem Betreuten einwilligen, die zu dessen Wohl geschehen. Gruppen- oder fremdnützige Forschung fallen nicht darunter. Betreuer haben oft nicht eine spezifische Aus- oder Fortbildung erfahren, und es besteht das Risiko, dass auch sie nicht in der Lage sind, die ethische Brisanz einer solchen stellvertretenden Einwilligung zu erkennen und beeinflussbar sind.

Zur Unterscheidung zwischen gruppen- und fremdnütziger Forschung: Es wird suggeriert, gruppennützige Forschung sei ein Akt der Solidarität (oder gar der Nächstenliebe) und daher ein Zeichen hoher Gesinnung, während fremdnützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen als verwerflich gilt. „Nichteinwilligungsfähige dürfen in Deutschland nicht an fremdnützigen Studien teilnehmen. Das soll auch in Zukunft so bleiben", sagte ein Abgeordneter im Deutschen Bundestag am Tag der 2. Lesung.7 Doch der Betroffene ist Subjekt und dürfte sich kaum als Teil einer bestimmten Gruppe fühlen, also handelt es sich für ihn immer um fremdnützige Forschung. Wer das Denken verändern will, der muss die Sprache verändern. Durch die ständige Wiederholung der „Gruppennützigkeit" wird der fremde Nutzen verschleiert.

Wer hat also ein Interesse? Die neue EU-Verordnung, die den Spielraum zur Forschung an nichteinwilligungsfähigen Personen erheblich ausgeweitet hat, lässt den Mitgliedstaaten ihren nationalen Gestaltungsraum, strengere Regelung zu treffen, durchaus zu. Eine Absenkung der ethischen Standards in Deutschland wäre nicht zwingend notwendig gewesen. Gerade aufgrund seiner Geschichte hat Deutschland eine besondere Verantwortung auf dem Gebiet von Medizin und Forschung. Der Änderungsantrag einiger Parlamentarier, wonach klinische Prüfungen an nichteinwilligungsfähigen Personen nur zugelassen werden sollten, „wenn wissenschaftliche Gründe vorliegen, die erwarten lassen, dass die Teilnahme an der klinischen Prüfung einen direkten Nutzen für die betroffene Person zur Folge hat, der die Risiken und Belastungen einer Teilnahme an der klinischen Prüfung überwiegt", wurde nicht angenommen.8

Es gehört zu unserer Zivilisation, dass die schwächeren Glieder der Gesellschaft zu schützen sind. Es ist zu befürchten, dass diese Gesetzesänderung ein Schritt zu einer Verengung der Autonomie am Lebensende führen und ein Türöffner für weitere nichteigennützige Forschung werden könnte – ein Zivilisationsbruch in den Augen vieler Menschen.

Referenzen

  1. Pressemitteilung Nr. 11 des Bundesministeriums für Gesundheit, Berlin, 9.3.2016
  2. Gesetzentwurf der Bundesregierung Drucksache 18/8034 vom 6.4.2016: Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften, sowie Änderungsantrag Nüßlein, Lauterbach et al. Drucksache 18/10235 vom 8.11.2016 und Änderungsantrag Hubert Hüppe Drucksache 18/10236 vom 8.11.2016.
  3. Hier zeigt sich u. U. ein mögliches Missverständnis zwischen Forscher und Proband: jeder verfolgt je eigene Interessen.
  4. Stellungnahme DAlzG 18.10.2016; weitere Belege: 1. Bundesverband der Berufsbetreuer/innen in seiner Stellungnahme vom Juni 2016, S. 2, zum Gesetzentwurf der Bundesregierung Drs. 18/8034; 2. Stellungnahme Prof. Dr. med. Martin Hildebrandt, TU München, Fakultät für Medizin, TUMCells Interdiziplinäres Zentrum für zelluläre Therapien, zum Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften, BT-Drs. 18/8034 Gesetzentwurf der Bundesregierung, 3.5.2016, S. 4; 3. Bioethix.de Fachblog zu Medizin und Ethik, Fremdnützige Forschung an Einwilligungsunfähigen nicht erlauben, 2.6.2016, bioethix.de/fremdnuetzige-forschung-an-einwilligungsunfaehigen-nicht-erlauben (letzter Zugriff am 25.11.2016), darin Punkt 1: Kein Bedarf gruppennütziger Forschung; 4. Kathrin Vogler, MdB, Protokoll der 198. Sitzung des Deutschen Bundestages am 9.11.2016, S. 19700, Sp. 2
  5. Maio G., Ethik der Forschung am Menschen. Zur Begründung der Moral in ihrer historischen Bedingtheit, Stuttgart (2002), S. 157
  6. Eine Darmspiegelung kann für einen Patienten eine erhebliche Belastung darstellen. MRT- oder PET-Untersuchungen sind ein geringes Risiko, können aber vom Individuum als extrem belastend empfunden werden.
  7. Georg Nüßlein, Protokoll der 198. Sitzung 9.11.2016, S. 19698, Sp. 1
  8. Änderungsantrag der Abgeordneten Uwe Schummer, Ulla Schmidt, Kathrin Vogler, Kordula Schulz-Asche et al., Drucksache 18/10233 vom 8.11.2016.

Weiterführende Literatur

  • Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Demenz-Report. Wie sich die Regionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf die Alterung der Gesellschaft vorbereiten können, Berlin (2011)
  • Hassemer W., „Selbstbestimmung – noch zeitgemäß?" Münchner Kompetenzzentrum Ethik LMU Heft 1 (2006)
  • Jonas H., Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, suhrkamp taschenbuch, Frankfurt am Main (1979)
  • Maio G., Medizin in einer Gesellschaft, die kein Schicksal duldet. Eine Kritik des Machbarkeitsdenkens der modernen Medizin, in: Zeitschrift für medizinische Ethik (2011); 57: 79-97
  • Maio G. (Hrsg.), Abschaffung des Schicksals? Menschsein zwischen Gegebensein des Lebens und medizin-technischer Gestaltbarkeit, Freiburg, Basel, Wien, 2. Aufl. (2013)
  • Stolze C., Verdacht Demenz – Fehldiagnosen verhindern, Ursachen klären und wieder gesund werden, Herder, Freiburg (2016)
  • Wetzstein V. (Hrsg.), Ertrunken im Meer des Vergessens? Alzheimer-Demenz im Spiegel von Ethik, Medizin und Pflege, Freiburg i.B. (2005)

Anschrift der Autorin:

Mag. theol. Brigitte Huber
Ökumenischer Arbeitskreis Ethik und Menschenrechte
Eversbuschstr. 46 a, D-80999 München
brigitte.k.huber(at)gmx.de

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