Autonomie und asymmetrische Kommunikation in der Pflege

Imago Hominis (2016); 23(4): 223-234
Stefan Heuser

Zusammenfassung

Dieser Beitrag geht der Frage nach, was es heißt, Selbstbestimmung unter den Bedingungen asymmetrischer Kommunikation in der Pflege zu achten. Dazu beschreibt er die Kennzeichen asymmetrischer Kommunikation mithilfe der Phänomenologie, der Alteritätsphilosophie und der politischen Theorie und entwickelt einen Begriff von Autonomie im Gespräch mit T. L. Beauchamp und J. F. Childress. Der Beitrag kommt zu dem Schluss, dass die Selbstbestimmung eines pflegebedürftigen Menschen an seiner Einbeziehung in eine dichte Form von verbaler und nonverbaler Verständigung hängt, in der er vor Vereinnahmung geschützt ist und zugleich mit dem, was ihn als ein Selbst ausmacht, zur Geltung kommt.

Schlüsselwörter: Autonomie, Selbstbestimmung, Pflege, Asymmetrische Kommunikation, Macht

Abstract

This paper examines the question of what autonomy is under the conditions of asymmetric communication in nursing care. Characteristics of this asymmetric communication can be derived from phenomenology, the philosophy of alterity, and political theory. The author develops a concept of autonomy in conversation with T. L. Beauchamp and J. F. Childress. The paper concludes that the autonomy of a person in need of care requires his close and intensive participation by means of verbal and non-verbal communication. This will protect him/her against usurpation and provide him/her with a means to support his own self.

Keywords: autonomy, self-determination, care, asymmetric communication, power


So unscheinbar es auch daherkommt – das Wörtchen „und" im Titel dieses Beitrags hat es in sich: In der Pflegepraxis markiert diese Konjunktion zwischen der Autonomie der beteiligten Personen und der asymmetrischen Kommunikation ein vielschichtiges Spannungsfeld. Die Komplexität dieses Spannungsfeldes wird noch dadurch gesteigert, dass die Kommunikation in der Pflege eine Vielzahl unterschiedlicher Asymmetrien aufweist, unter denen Autonomie realisiert werden muss und oft nur mit viel Einsatz, Empathie, Geduld, Respekt, pflegerischer Kunst und in komplexen Formen von Zusammenwirken und Zusammenleben realisiert werden kann.

Viele Pflegefachkräfte kennen Paul Watzlawiks kommunikationswissenschaftlichen Blick auf die asymmetrische Kommunikation zwischen einem „Sender"1 und einem „Empfänger". Nach Watzlawik bestimmt die Gleichheit bzw. die Ungleichheit der Kommunikationsteilnehmer, ob Interaktionen eine „symmetrische" oder eine „komplementäre" Gestalt annehmen. Gleiche bzw. Ebenbürtige kommunizieren spiegelbildlich, Ungleiche – einander in einer superioren und in einer inferioren Position begegnende – ergänzen einander.2 Es ist kein Zufall, dass Watzlawik als Gegenbegriff zur symmetrischen Kommunikation nicht etwa von „Asymmetrie", sondern von „Komplementarität" spricht und dieses Gegensatzpaar als eines von fünf pragmatischen Axiomen von Kommunikation versteht. Sein Interesse richtet sich primär auf die Ereignisfolgen der binären Kommunikation zwischen Sender und Empfänger und auf die möglichen Beziehungskonflikte, die sich daraus ergeben, nicht auf mögliche Brüche und Überschüsse in der Kommunikation, die das binäre Kommunikationsmodell selbst infrage stellen. Gleichheit bzw. Ungleichheit sind für Watzlawik Ausgangspunkte und Bestimmungsfaktoren kommunikativer Abläufe, die Einsichten in kommunikative Dynamiken gewähren. Was bei diesem Zugang kaum in den Blick kommt, sind Brüche in der Vergleichbarkeit von Sender und Empfänger, die das Phänomen der Komplementarität überschreiten und die Kommunikation als radikale Asymmetrien begleiten.

Für die Ethik gibt der Begriff der asymmetrischen Kommunikation daher Anlass, auch Phänomene der Verflechtung von Eigenem und Fremden3 und der in der Kommunikation beständig in Form des Entzugs präsenten Andersheit des Anderen4 in den Blick zu nehmen. Insbesondere in der Pflegeethik sind radikale Asymmetrien und Transformationsprozesse in der Kommunikation zu thematisieren, die binäre Kommunikationsmodelle nicht abbilden. Die Kommunikation enthält in der Pflege nicht selten eine symbiotische Dimension, die über eine formale Achtung der Individualität des Anderen hinausgeht. Nicht immer ist im Vorgang des Pflegens klar, wo das Eigene aufhört und das Fremde anfängt. Zugleich bleibt der Andere auf eine radikale Weise fremd, die sich nicht einfach als Ungleichheit beschreiben lässt. Der Andere entzieht sich und steht dabei unter Schutz – umso mehr, als die Proximität in Pflegebeziehungen eine enorme Vulnerabilität mit sich bringt. Unter diesen gegenüber einer rationalisierenden Überführung in Symmetrien und Ordnungen widerspenstigen Bedingungen realisiert sich in der Pflege ein selbstbestimmtes Entscheiden und Leben, kurz: die Autonomie.

Um ein solches Verständnis des Zusammenhangs von Autonomie und asymmetrischer Kommunikation anzubahnen, wende ich mich in einem ersten Teil dem Begriff der asymmetrischen Kommunikation aus einer ethischen Perspektive zu. Dabei werde ich Hannah Arendts Unterscheidung von Macht und Gewalt, Einsichten aus Bernhard Waldenfels‘ Phänomenologie des Fremden sowie Aspekte der Alteritätsphilosophie von Emmanuel Lévinas aufnehmen. Im Fokus stehen dabei ausschließlich Asymmetrien in der Kommunikation zwischen Pflegekräften und Pflegebedürftigen. Im zweiten Teil werde ich ausführen, was sich aus pflegeethischer Sicht mit dem Begriff der Autonomie verbindet. Dazu werde ich vor dem Hintergrund der im ersten Teil beschriebenen leibphänomenologischen und machttheoretischen Einsichten das Gespräch mit dem neueren bioethischen Autonomiediskurs aufnehmen. Im abschließenden dritten Teil werde ich die Frage beantworten, was es heißt, die Selbstbestimmung zu achten.

1. Asymmetrische Kommunikation aus ethischer Perspektive

Aus ethischer Perspektive ist Asymmetrie in der Kommunikation in erster Linie eine Frage der Macht. Ungleiche Voraussetzungen hinsichtlich des sozialen und ökonomischen Rangs, der körperlichen und geistigen Fähigkeiten, der Stärke, des Vermögens, der Bedürftigkeit und Abhängigkeit, der Sprach- und Sprechfähigkeit, der Informiertheit, des Organisationsgrades, der Vertrautheit mit räumlichen und kulturellen Gegebenheiten, der Gruppenzugehörigkeit usw. begründen eine Asymmetrie zwischen den Akteuren in der Pflege, die sich als Machtgefälle beschreiben lässt. Norbert Elias hat Macht aus soziologischer Perspektive sogar als Struktureigentümlichkeit aller menschlichen Beziehungen beschrieben: „Insofern als wir mehr von anderen abhängen als sie von uns, mehr auf andere angewiesen sind als sie auf uns, haben sie Macht über uns, ob wir nun durch nackte Gewalt von ihnen abhängig geworden sind oder durch unsere Liebe oder durch unser Bedürfnis, geliebt zu werden, durch unser Bedürfnis nach Geld, Gesundung, Status, Karriere und Abwechslung."5 Das Phänomen der Macht taucht demnach überall in menschlichen Beziehungen auf: Wer anderen helfen kann, hat Macht. Aber auch derjenige, der einen anderen beauftragt, ihm zu helfen, erzeugt Macht. Indem er ihn damit betraut, etwas an seiner Stelle zu tun, überträgt er Macht auf den anderen.

Macht ist demnach etwas, das jeder Mensch in Beziehungen entfaltet oder dem er unterliegt. Allerdings ist es aus ethischer Perspektive offen, in welche Art von machtvoller Interaktion das aus der Asymmetrie herrührende Machtgefälle mündet, bzw. welche Art von Macht in der asymmetrischen Kommunikation ausgeübt wird. Hier tut sich mit Hannah Arendts Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt eine für die Ethik wichtige Alternative auf: Demnach kann die ungleiche Machtverteilung in einer Beziehungsasymmetrie dazu führen, dass einer seine Interessen gegen den Willen eines anderen durchsetzt bis dahin, dass sich einer des anderen bemächtigt. Ein wie auch immer geartetes Vermögen wird dabei direkt in Handlungsmacht übersetzt. Nach Max Webers klassischer Definition ist Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht".6 Es ist aber nicht ausgemacht, dass Menschen ihre Macht gegeneinander einsetzen und dem vermeintlichen Recht des Stärkeren folgen. Nach Hannah Arendt ist dies geradezu das Kennzeichen von Gewalt, die von Macht zu unterscheiden ist.

Macht und Gewalt in der Pflege

Arendt zufolge entsteht Macht erst da, wo Menschen sich zusammentun und gemeinsam etwas Neues anfangen: „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemand sagen, er ‚habe die Macht’, heißt das in Wirklichkeit, dass er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln. In dem Augenblick, in dem die Gruppe … auseinandergeht, vergeht auch ‘seine Macht’."7 Macht ist demnach dadurch gekennzeichnet, dass Menschen sie nur gemeinsam haben. „Macht entsteht, wann immer Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln, ihre Legitimität beruht nicht auf den Zielen und Zwecken, die eine Gruppe sich jeweils setzt; sie stammt aus dem Machtursprung, der mit der Gründung der Gruppe zusammenfällt."8 Sie kann sich aber auch da realisieren, wo einer den anderen ermächtigt, stellvertretend für ihn zu handeln. Das heißt auch, dass Macht ein identifizierbares Phänomen ist: Sie resultiert anders als die Gewalt nicht aus einer anonymen Willkürentscheidung, sondern aus einer klar benennbaren Ermächtigung.

Diese Macht des gemeinsamen, kommunikativen Handelns ist von der – von Arendt als Gewalt bezeichneten – Macht eines wie auch immer beschaffenen Vermögens oder einer Stärke zu unterscheiden, die jemand bereits hat und mit der er sich gegen andere durchsetzen kann. Der Extremfall der Gewalt besteht laut Arendt in der Konstellation „Einer gegen alle", während Macht im Extremfall „Alle gegen einen" bedeutet.9 Macht beruht auf Freiheit. Sie unterbricht die scheinbaren Gesetzmäßigkeiten der gegebenen Asymmetrien und Zwangsverhältnisse, während die Gewalt diese fortschreibt. Während Gewalt auf der Faktizität asymmetrisch verteilten Vermögens beruht und mithilfe dieses Potentials Effekte erzwingt, entsteht Macht erst dadurch, dass Menschen unter den Bedingungen asymmetrischer Kommunikation gemeinsame Sache machen: Sie wird kommunikativ generiert und als Handlungsmacht ausgeübt.

Asymmetrische Kommunikation kann demnach die Signatur der Macht oder der Gewalt tragen, je nachdem, ob sie zu gemeinsamem oder stellvertretendem Handeln führt oder lediglich faktische Vermögensverteilungen über die Interessendurchsetzung und Selbstbehauptung eines Kommunikationsteilnehmers in die Tat umsetzt, ohne den Anderen in der Willensbildung und im Handeln einzubeziehen. Um zu vermeiden, dass Macht in Gewalt umschlägt, ist es geboten, den Anderen so gut wie möglich einzubeziehen und im Falle des Eindringens in seinen Schutzbereich um sein Einverständnis zu ersuchen. Dieser für die Ethik insgesamt zentrale, aber für die Pflegeethik wegen der besonderen Vulnerabilität der beteiligten Personen besonders vordringliche Grundsatz wird allerdings unter den Bedingungen extremer kommunikativer Asymmetrien auf die Probe gestellt.

Blickt man auf die Voraussetzungen der Kommunikation in der Pflege, insbesondere auf die Pflegenden und Patienten, dann zeigen sich die typischen strukturellen Asymmetrien helfender Berufe. Die vielfältigen Asymmetrien in der Kommunikation mit Angehörigen sowie in der intra- und interprofessionellen Kommunikation im Pflegebereich seien an dieser Stelle bewusst ausgeblendet. Allein schon die Rollenasymmetrie zwischen hilfesuchenden Patienten und fachkundigen, zum Helfen fähigen Pflegenden etabliert zahlreiche Asymmetrien in der Kommunikation. Hinzu kommen Asymmetrien, die durch die institutionellen Rahmenbedingungen erzeugt werden. Einige Kennzeichen „totaler Institutionen"10 inklusive ihrer Abhängigkeits- und Überwachungsmechanismen finden sich auch in den Institutionen des Gesundheitswesens, insbesondere in Krankenhäusern und Heimen.11 Aber auch in der Kommunikationspraxis selbst, im Vollzug der Kommunikation, entstehen vielfältige Asymmetrien, z. B. durch nonverbale Kommunikation, durch die missverständliche Definition von Beziehungen, durch Diskrepanzen in der Interpunktion, durch Manipulation, durch die Vermittlung oder das Vorenthalten von Informationen oder durch die Verwendung von Fachsprache.

Viele Pflegebedürftige haben nur eingeschränkte Möglichkeiten, ihre Anliegen zu artikulieren und kommunikativ zur Geltung zu bringen. Nicht selten können sie keine Gleichrangigkeit in der Kommunikation einfordern und bleiben darauf angewiesen, dass die Pflegenden gemeinsam mit ihnen handeln oder ihre Interessen stellvertretend ausüben. Folgt man Hannah Arendts Unterscheidung von Macht und Gewalt, dann fängt das Problem der Gewalt in der Pflege nicht erst bei unmittelbaren körperlichen Gewaltakten, verbalen Aggressionen, Vernachlässigung, Diebstahl, Veruntreuung und Medikamentenmissbrauch, sondern schon bei der Missachtung der Intimsphäre und psychischer Manipulation an.12 Gewalt entsteht schon da, wo sich einer aufgrund seiner Stärke über die legitimen Interessen eines Schwächeren hinwegsetzt. Anders aber als in Hannah Arendts politischem Modell von kommunikativer Machtgenerierung entsteht die gemeinsame Macht im pflegerischen Handeln wegen der zum Teil extremen Asymmetrien erst durch das Kennen und Verstehen des Anderen, durch Einfühlung, Achtsamkeit und Responsivität.13

Die Entsprechungslogik

Geht man von einer solchen Beschreibung des Verhältnisses von Macht und Gewalt in Asymmetrien in der Kommunikation in der Pflege aus, dann kommt man in der Pflegeethik mit einfachen Handlungsorientierungen wie dem Gegenseitigkeitsgrundsatz der Goldenen Regel schon recht weit. Derartige Reziprozitätsregeln finden sich in unterschiedlicher Form in zahlreichen Religionen und Philosophien. „Wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!", sagt Jesus im Evangelium nach Lukas (6,31). In einer populären Version lautet diese Regel, ins Negative gewendet: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu." Der Philosoph Paul Ricœur sagt, dass es sich dabei um eine „Logik der Entsprechung"14 handelt, die tief in unserer Alltagsethik verankert ist. Die Entsprechungslogik begründet die Einbeziehung des Anderen aber nicht nur im Sinne des Talionsprinzips („Wie du mir, so ich dir") oder des utilitaristischen Kalküls („Ich gebe, damit du gibst"), sondern auch im Sinne des zweiten Gerechtigkeitsprinzips von John Rawls, demzufolge es im Sinne der Gegenseitigkeit gerecht ist, den jeweils geringeren Teil im Rahmen von sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten aufzuwerten.15 Die in der Goldenen Regel angelegte Perspektivenübernahme schließt damit auch extrem asymmetrische Kommunikationssituationen ein. Auch die Interessen von Wachkomapatienten, die nicht mehr auskunftsfähig sind, sind demnach im Sinne der Goldenen Regel zu berücksichtigen: Ethische Forderungen gründen demnach darin, dass alle Menschen im Prinzip einen gleichrangigen Anspruch auf die Berücksichtigung ihrer berechtigten Interessen haben.

Das Inkommunikable

Die Logik der Entsprechung aber reicht dennoch nicht aus, um das Phänomen der ethischen Forderung in der asymmetrischen Kommunikation, mithin die Asymmetrie von Eigenem und Fremdem in ihrer Radikalität sowie die Formen leiblicher Verflechtung von Fremdem und Eigenem zu erfassen. Es macht die Asymmetrie in der asymmetrischen Kommunikation aus, dass sie sich nicht vollständig in eine Ordnung überführen lässt, in der sich eigene und fremde Perspektiven und Ansprüche vergleichen, bemessen und auf eine Stufe stellen ließen. Der Philosoph Bernhard Waldenfels dazu: „Im kommunikationstheoretischen Modell von Sender und Empfänger, im sozialtheoretischen Modell einer Reziprozität der Perspektiven, im Entwicklungsmodell einer zunehmenden Reversibilität der Standpunkte, schließlich in der ethischen Form der Goldenen Regel stecken jeweils zwei mehr oder weniger deutlich entfaltete Voraussetzungen, dass nämlich Eigenes und Fremdes säuberlich zu trennen sind und dass eine symmetrische Verteilung der eigenen und fremden Beiträge ein Höchstmaß gleichzeitiger Rationalität und Sozialität verkörpert."16 Diese Annahmen aber seien spätestens dann fragwürdig, „wenn die gemeinsamen Voraussetzungen der Verständigung selber auf dem Spiel stehen, das heißt, wenn der Dialog nicht bloß der Ordnung eines Diskurses folgt, sondern seine Ordnung ändert. Da in diesem Fall nichts da ist, was einfach weitergegeben werden könnte, lässt sich nicht angeben, wo Eigenes aufhört und Fremdes beginnt. Es gibt hier sozusagen eine dialogische Unschärferelation. (…) Mit Merleau-Ponty sprechen wir in diesem Falle von einer ‚Verflechtung‘ eigenen und fremden Verhaltens, die sich zu einer ‚Zwischenleiblichkeit‘ ausformt."17

Neben solchen Verflechtungseffekten gibt es auch Brüche in der Kommunikation, die einer Symmetrisierung in Gestalt einer moralischen Einordnung und Bearbeitung der Kommunikation entgegenstehen. Die Brechung beginnt schon da, wo einer der Kommunikationsteilnehmer aus der Kommunikation ausscheren muss, um den Vergleich von Fremdem und Eigenem vornehmen zu können. Die anhand der Goldenen Regel vorgenommenen Gleichsetzungsbemühungen brechen sich dann vollends daran, dass sich der Andere in seiner überschießenden Andersheit nie abschließend einordnen lässt. Die Beziehung zum Anderen bleibt asymmetrisch, so sehr der eine auch versucht, durch Perspektivenübernahme eine Symmetrie herzustellen. Waldenfels dazu: „Hiermit wird inmitten der Kommunikation ein Inkommunikables sichtbar (…). Wir überschreiten den Diskurs, ohne anderswo anzukommen; einer ist dem andern immer nur auf der Spur."18

Ethik als Anspruch des Anderen

Dass demnach in der Kommunikation das Fremde mit dem Eigenen verflochten ist und dass der Andere zugleich immer auch radikal fremd bleibt, zeigt sich vor allem dann, wenn man den Ausgangspunkt der Ethik nicht beim Handlungssubjekt, sondern beim Anderen verortet. Emmanuel Lévinas zufolge entsteht das ethische Subjekt überhaupt erst durch einen Ruf in die Verantwortung, der vom anderen als dem inkommensurablen Anderen her ausgeht. Lévinas spricht hier von einer „Epiphanie des Antlitzes" des Anderen, auf das wir keinen Zugriff haben, sondern das uns ergreift.19 Die ethische Forderung gründet demnach in einer radikalen Asymmetrie. Ethik setzt damit ein, dass von dem Anderen her ein „absolut heteronomer Appell",20 eine unendliche Forderung an mich ergeht, die sich nicht in Gegenseitigkeit überführen lässt, im Gegenteil: Der Andere begründet in seinem absoluten Anspruch an mich gerade kein reziprokes Verhältnis, sondern bleibt mir als Anderer ein fremdes Gegenüber: „Die Fremdheit des Anderen, der Umstand, dass er nicht auf mich, meine Gedanken und meinen Besitz zurückgeführt werden kann, vollzieht sich nur als Infragestellung meiner Spontaneität, als Ethik."21 Die Ethik gründet in einem Ruf in die Verantwortung, der von außen kommt und nicht in ein Regelwerk integriert werden kann. Sie hängt an der bleibenden Asymmetrie von Ich und dem Anderen.

Blickt man von diesen Überlegungen her auf pflegerische Interaktionen, dann zeigt sich, dass Lévinas Beschreibung der radikalen kommunikativen Asymmetrie ein Phänomen in den Blick rückt, das in der Pflege einen bleibenden Unruheherd bildet. Vom Patienten oder Bewohner, aber auch von Angehörigen und Kollegen – kurz: vom Anderen – geht eine ethische Forderung aus, die sich nicht dadurch stillstellen lässt, dass das Ich sie als legitim oder illegitim abweist. Sie lässt sich in keiner moralischen Regel so abbilden, dass sich das moralische Subjekt je dem Anspruch des Anderen gegenüber vollständig rechtfertigen oder ins Recht setzen könnte. Es bleibt ein Überschuss, der moralisch nicht abgegolten werden kann.

Der Appell, der vom Antlitz des Anderen ausgeht, ruft das Ich in eine unmittelbare und einseitige Verantwortung, die allen moralischen Erwägungen rund um die Gegenseitigkeit vorausgeht. Das ethische Subjekt wird vom Appell des Anderen Lévinas zufolge überhaupt erst hervorgerufen, d. h., dass der Ruf des Anderen nicht nur auf ein moralisches Koordinatensystem trifft, das über seine Berechtigung entscheidet, sondern die Verantwortungsbeziehung überhaupt erst konstituiert. Das ethische Räsonnement, die Suche nach Rechtfertigungen und Gründen für unser Tun und unser Lassen, wird vom Anderen her unterbrochen. So sehr wir uns auch bemühen, die Asymmetrien zwischen Pflegenden und Pflegenehmenden professionell zu bearbeiten und Pflegebeziehungen zu versachlichen, so wenig lassen sie sich doch in Reziprozitätsverhältnisse überführen. Das ethische Subjekt bleibt immer auch die „Geisel" des Anderen.22 Der Ruf in die Verantwortung, der vom Anderen ausgeht, lässt sich abweisen, aber nicht aus der Welt schaffen.

Es ist wichtig, dass diese Asymmetrie nicht leichthin mit der Hilfsbedürftigkeit der Patienten identifiziert wird. Sie ist aber mit ihr verbunden. Die Not des Anderen, die in der Epiphanie des Antlitzes präsent wird, ist immer mehr als der klassifizierbare Grad seiner Pflegebedürftigkeit. Diese Bedürftigkeit ist aber der Kontext, in dem das Ich vom Anderen in die Verantwortung gerufen wird. Gerade in der Proximität pflegerischer Interaktionen bekommen es die Beteiligten demnach mit einer unhintergehbaren Asymmetrie der ethischen Ursituation zu tun, in der die unendliche Bedürftigkeit, Abhängigkeit und Verletzlichkeit des Anderen aufscheint. Zugleich müssen wir damit rechnen, dass alle Versuche, die asymmetrische Kommunikation in der Pflege auszugleichen oder zu kompensieren, von einer bleibenden Andersheit des Anderen affiziert und unterwandert werden. Wie unter diesen Bedingungen Autonomie als normatives Prinzip verstanden und wie Autonomie in Pflegebeziehungen zur Geltung kommen kann, wird im nächsten Schritt zu klären sein.

2. Autonomie unter den Bedingungen asymmetrischer Kommunikation in der Pflege

Wenn von Autonomie in der Pflege die Rede ist, steht dabei noch immer das von Tom L. Beauchamp und James F. Childress in ihren „Principles of Biomedical Ethics" entwickelte und mehrfach modifizierte Prinzip des „Respekts vor Autonomie"23 im Mittelpunkt. Dieses Standardmodell von Patientenautonomie dient vor allem zur Abwehr eines ärztlichen oder pflegerischen Paternalismus. Es richtet den Fokus vor allem auf die formalen Bedingungen, unter denen Patienten konkrete Entscheidungen über medizinische Behandlungen treffen können, die zu respektieren sind. Autonomie wird dabei einerseits als individuelles Recht auf Selbstbestimmung des Patienten verstanden, andererseits als Fähigkeit dieses Patienten, selbst Entscheidungen zu treffen. Zwischen den beiden Bedeutungsgehalten besteht eine Spannung, da das Recht auf Autonomie einerseits universal gilt, andererseits aber oft nur eingeschränkt wahrgenommen werden kann, wenn beispielsweise Patienten noch nicht oder nicht mehr über die nötige Entscheidungskompetenz verfügen.24

In solchen Fällen lässt sich Autonomie nicht nur als ein Schutzrecht verstehen, dem eine Pflicht entspricht, dieses Recht zu achten, indem nicht in selbstbestimmte Handlungen eingegriffen wird, sondern auch als Gewährleistungsrecht, dem die Pflicht entspricht, Patienten zur Entscheidung zu befähigen oder bei bleibender Entscheidungsunfähigkeit die Durchsetzung ihres mutmaßlichen Willens stellvertretend zu gewährleisten. Beauchamp und Childress beschreiben dies als ein Zusammenspiel von negativen Schutz- und positiven Befähigungspflichten.25

Prozedurale und substantielle Definition von Autonomie

Die Autonomie eines Menschen ist demnach in jedem Fall zu achten, und die Frage ist, nach welchen Kriterien eine Entscheidung als selbstbestimmt gelten kann bzw. ab wann ein Mensch aufgrund seiner physischen und psychischen Disposition als vollumfänglich selbstbestimmungsfähig anerkannt werden soll oder Hilfe zur Selbstbestimmung braucht. Ein großer Teil der Literatur über den Respekt vor der Autonomie des Patienten beschäftigt sich mit diesen Fragen. Man hat hier zwischen eher prozeduralen und eher substantiellen Definitionen von Autonomie unterschieden, wobei Autonomie in prozeduralen Ansätzen eher an dem selbstbestimmten Zustandekommen einer Entscheidung gemessen und deren inhaltliche Begründung zurückgestellt wird, während das Kriterium für eine selbstbestimmte Entscheidung bei substantiellen Ansätzen darin liegt, dass die Person ihre Entscheidung rational begründen kann.26 Nach prozeduralem Verständnis reicht es aus, dass eine Handlung durch den Willen zu wollen bestimmt ist bzw. sich ein Patient mit seiner Entscheidung wirklich identifizieren kann27 oder dass diese Unterscheidung einen kohärenten Zusammenhang zu weiteren Entscheidungen dieses Patienten28 bzw. zu seiner Lebensgeschichte bildet.29 Nach substantiellem Verständnis gehört es zu einer selbstbestimmten Entscheidung, dass die Patienten rationale, intersubjektiv einsehbare Gründe angeben können.30 Die Schwelle, ab der eine Entscheidung als selbstbestimmt gelten kann, wird hier entsprechend höher als bei prozeduralen Ansätzen gelegt.

In den dichten, verbalen und nonverbalen Kommunikationszusammenhängen der Pflege zeigen sich allerdings schnell die Grenzen eines auf die Entscheidungen, auf die Entscheidungskompetenz und auf den informed consent zugespitzten Autonomiebegriffs.31 Folgt man beispielsweise dem Pflegemodell von Monika Krohwinkel, dann muss die Patientenautonomie auch in der Hilfe bei den Aktivitäten des täglichen Lebens, in den Pflegebeziehungen und in der Begleitung in existentiellen Erfahrungen gewahrt bleiben bzw. gefördert werden.32 Entsprechend realisiert sich Autonomie hier nicht nur in Behandlungsentscheidungen, sondern auch in der gemeinsamen Lebensgestaltung und in den Lebensgestalten, d. h. in der jeweiligen Existenzform, die das menschliche Leben annimmt und innerhalb derer Menschen ihr Leben führen und erleiden.33 Dies hat auch zu einer Weiterentwicklung der Patientenvorsorge im Sinne eines Advance Care Planning geführt.34 Denn selbst der in einer Patientenverfügung schriftlich festgelegte Wille des Patienten muss auf die jeweils vorliegende Situation hin ausgelegt und dazu gegebenenfalls mit weitergehenden Anamnesen seiner persönlichen Werthaltungen und deren möglicher Variabilität in der akuten Situation abgeglichen werden.35 Wie Michael Coors gezeigt hat, ist die Autonomie eines nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten trotz des Vorliegens einer Patientenverfügung nur durch einen Auslegungs- und Urteils-
prozess hindurch zur Geltung zu bringen, der eine Näherbestimmung der Autonomie im Sinne inhaltlich zu bestimmender Werthaltungen und Präferenzen des Patienten nötig macht.36 Dies setzt voraus, dass der Patient in seiner Besonderheit mit vielem von dem, was zu ihm gehört und was ihm wichtig war und ist, präsent wird.

Personale und relationale Autonomie

So wichtig daher ein formales Verständnis von Autonomie als universales Schutz- und Abwehrrecht ist, das allen Patienten unbeschadet ihrer aktuellen Autonomiefähigkeit zukommt, so wichtig ist demnach auch die Weiterentwicklung des Autonomiebegriffs im Sinne einer personalen37 und relationalen38 Autonomie. Entsprechend wird der Autonomiebegriff im Bioethikdiskurs seit Jahren kontinuierlich weiter ausdifferenziert.39 Nimmt man die oben näher erläuterten Phänomene der radikalen Asymmetrie und der Zwischenleiblichkeit in der asymmetrischen Kommunikation und Hannah Arendts Unterscheidung von Gewalt und kommunikativ generierter, gemeinsamer Macht hinzu, sollte Autonomie in der Pflege nicht nur als Schutzbegriff, sondern auch als Anerkennungs- und Befähigungskategorie40 zur Geltung kommen. Vor allem aber gehört zur Verwirklichung der Autonomie von Patienten, die ihre Selbstbestimmung nicht kognitiv und argumentativ, sondern leibsprachlich und affektiv ausdrücken, ein hohes Maß an feinfühliger, tastender und nachgehender Kooperation. Das gemeinsame Handeln, das der Gewalt entgegensteht, wird in der Pflege durch Responsivität für die vielfältigen Formen leiblicher Kommunikation generiert.

Autonomie als Abwehr- und Anspruchsrecht

Um den Anderen in seiner Besonderheit bis hin zu seiner radikalen Fremdheit vor manipulativen Zugriffen zu schützen, bedarf es gerade im Nahbereich der Pflege einer streng formalen Auslegung von Autonomie als individuelles Schutzrecht. Um des gemeinsamen Handelns, Kooperierens und Zusammenlebens in der Pflege willen aber kann das „Selbst", um dessen Selbst-Bestimmung es geht, nicht anonym bleiben, so dass die Autonomie auch in ihrem personalen und relationalen Charakter jenseits einer kognitivistischen Verengung zur Geltung kommen muss. Autonomie realisieren Menschen nicht alleine, sondern zusammen mit anderen, so wie sich auch ein autonomes Selbst erst in von wechselseitiger Anerkennung geprägten sozialen Interaktionen ausbilden kann. In einem Beitrag der Evangelischen Kirche in Deutschland zum „Leben mit Demenz" schreibt der Theologe Peter Dabrock: „ (…) kein Mensch kann Selbstbestimmung entwickeln, entfalten, bewahren und bewähren, wenn er nicht aus und für Beziehungen lebt. Beziehungen verwirklichen sich aber durch wechselseitige Fürsorge. Fürsorge kommt damit für Selbstbestimmung eine konstitutive Bedeutung zu. Ohne Zweifel können deshalb Würdeprädikate des Menschen wie vornehmlich seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung, die sogleich verfassungsrechtlich und ethisch als Schutznorm verstanden wird (…), kulturell kaum entwickelt, gedeutet und weitergegeben werden, wenn sie nicht in Vorstellungskontexte guten Lebens, wie sie in der Fürsorge praktiziert zum Ausdruck kommen, eingebunden sind."41

Ein Selbst werden Menschen im Zusammenhang einer Lebensgeschichte. Allerdings resultiert das „Selbst" nicht aus der Summe der in dieser Geschichte erfahrenen zwischenmenschlichen Interaktionen, sondern hat einen metasozialen, ursprünglichen Charakter. Schon Paul Ricoeurs grundlegender Hinweis auf die narrative Konstruktion des Zusammenhangs von Derselbe-Sein (idem-Identität) und dem Selbst-Sein (ipse-Identität) setzt dem identifizierenden Denken Grenzen.42 Ein Selbst ist stets mehr als das Bild, das man von sich selbst hat oder das andere sich von einem machen. Was ein Selbst ausmacht, lässt sich demnach auch nicht im historischen, lebensgeschichtlichen Rückblick erfassen, sondern findet seinen Ausdruck in der Auseinandersetzung mit den Lebenserfahrungen, die Menschen mit anderen teilen, z. B. in Form von Erzählungen („Stories"). Stories erschließen das menschliche Leben in der Besonderheit seines Werdens daraufhin, dass sich die Story im Leben der Erzähler und der Hörer fortsetzt.43 Mit der Selbstbestimmung ist demnach auch das Werden eines Selbst zu schützen, das sich nicht nur aus der Summe von Lebensereignissen zusammenfügt, sondern in einer Story präsent wird, in der Menschen sich finden, die Story ihres Werdens. Das Selbst eines Menschen lässt sich demnach nicht aus seiner Lebensgeschichte ablesen, sondern entsteht auf ganz ursprüngliche Weise in dieser Lebensgeschichte. Es ist ein meta-soziales und meta-historisches Selbst.

In der Pflege von Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz oder mit schweren biographischen Brüchen wie beispielsweise einem Unfall, der zu einer Querschnittslähmung geführt hat, ist es wichtig, dass deren Selbst in seinem Werden präsent wird und nicht auf eine Identität festgelegt wird. Oft setzt mit dem, was Menschen widerfährt, eine neue Story ein, in die sich Pflegende mit hineinbegeben, sofern sie sich darauf einlassen, was mit dem Anderen an Erfahrungen ins Spiel kommt. Das Phänomen radikaler Andersheit wird hier in seiner ganzen Dramatik erfahrbar, während zugleich der Bedarf an Zwischenleiblichkeit, Kommunikation, Kooperation und Koexistenz mit den Pflegenden steigt. Die Autonomie von Patienten wird in solchen Fällen in der Kombination eines unbedingten Schutzes der Selbstwerdung auf der einen und in der Artikulation des leiblichen Selbst in seiner Besonderheit im gemeinsamen Handeln von Pflegenden und Patienten auf der anderen Seite zur Geltung kommen müssen.

3. Was heißt: die Selbstbestimmung achten?

Unter den Bedingungen extremer kommunikativer Asymmetrien, wie sie beispielsweise bei einem noch nicht oder nicht mehr einwilligungsfähigen Pflegebedürftigen vorliegen, hängt die Realisierung seiner Selbstbestimmung an seiner Einbeziehung in eine dichte Form von verbaler und nonverbaler Verständigung, in der er vor Vereinnahmung geschützt ist und zugleich mit dem, was ihn als ein Selbst ausmacht und ein Selbst werden lässt, ins Spiel kommt. Der Andere ist nicht nur zu achten, sondern auch in seiner Besonderheit wahrzunehmen und zu verstehen. In dieser Doppelbewegung von Achtung und Einbeziehung soll das Prinzip des Respekts der Autonomie als Abwehrrecht und als Anspruchsrecht gleichermaßen zur Geltung kommen. Die Selbstbestimmung in asymmetrischer Kommunikation in der Pflege achten heißt, dem Pflegebedürftigen als dem Anderen in seiner Besonderheit auf der Spur zu bleiben. Dies geschieht beispielsweise bei einwilligungsunfähigen Patienten nicht nur durch Advance Care Planning oder durch die Rekonstruktion des mutmaßlichen Willens, sondern auch dadurch, dass ein Pflegender darauf achtet, wie sich das Selbst des zu Pflegenden im Medium seiner Leiblichkeit mitteilt. Dabei gilt es, nicht nur kognitive oder affektive Willensäußerungen, sondern auch verbale und nonverbale Äußerungen des Selbstseins und Selbstwerdens wahrzunehmen und in gemeinsames oder stellvertretendes Handeln einfließen zu lassen.

Zur Achtung der Selbstbestimmung gehört nicht nur, dass Pflegende das Selbstsein und die Selbstwerdung des Pflegebedürftigen schützen, sondern auch, dass sie in eine gemeinsame Story mit dem Anderen eintreten und aus dieser Story heraus mit dem Pflegebedürftigen gemeinsamer handeln. Indem sich ein Pflegender im Zeichen der Autonomie auf eine Geschichte mit dem Pflegebedürftigen einlässt, stellt er das Werden dieses Menschen in den Horizont einer Story, in der dieser dabei bleiben darf, ein Selbst zu werden, ohne dass ihm andere Menschen ein Selbst zuweisen – auch wenn er sein Vermögen zur Selbstdarstellung und Selbstbehauptung längst verloren haben sollte. Zu dem Prinzip, die Patientenautonomie zu respektieren, gehört demnach, dass Pflegende zusammen mit den zu Pflegenden auch unter den Bedingungen intensiver Fürsorge und großer Abhängigkeit Lebenszusammenhänge erkunden und finden, in denen diese ein Selbst bleiben und werden können, ohne identifiziert, manipuliert, vereinnahmt oder fremdbestimmt zu werden.

Referenzen

  1. Entsprechend den redaktionellen Vorgaben wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten für beiderlei Geschlecht.
  2. Watzlawik P., Beavin J. H., Jackson D. D., Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien, Bern, Huber 12. Aufl. (2011), S. 79 f.
  3. vgl. zum Motiv der „Verflechtung“ von Eigenem und Fremdem im Anschluss an Merleau-Ponty Waldenfels B., Der Stachel des Fremden, Suhrkamp, Frankfurt/Main, 3. Aufl. (1998)
  4. vgl. zur Erfahrung des Fremden ist eine „Form des Entzugs“ beispielsweise Waldenfels B., Fremdheit, Gastfreundschaft und Feindschaft, in: Information Philosophie (2006); 5: 7-17, hier: S. 9, www.information-philosophie.de (letzter Zugriff am 5.9.2016). Vgl. zur Beschreibung von radikaler Fremdheit Waldenfels B., Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Suhrkamp, Frankfurt/Main, 5. Aufl. (2016). Vgl. zu Lévinas Alteritätsphilosophie und der damit verbundenen Ethik und Zeitstruktur exemplarisch: Lévinas E., Die Zeit und der Andere, Wenzler L. (Üb.), Meiner, Hamburg, 3. Aufl. (1995), vor allem: S. 61 ff.
  5. Elias N., Was ist Soziologie?, Juventa, München (1970), S. 77
  6. Weber M., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (1921), 1. Halbband, Winckelmann J. (Hrsg.), Mohr, Tübingen (1980), S. 28
  7. Arendt H., Macht und Gewalt, Piper, München, 15. Aufl. (2003), S. 45
  8. ebd., S. 53
  9. ebd., S. 43
  10. Goffman E., Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1973)
  11. vgl. hierzu die Studie von Heinzelmann M., Das Altenheim - immer noch eine „totale Institution“? Eine Untersuchung des Binnenlebens zweier Altenheime, Cuvillier-Verlag, Göttingen (2004), der vorschlägt, hinsichtlich von Altenpflegeheimen von „Pseudo-Totalen-Institutionen“ (S. 233) zu sprechen.
  12. vgl. hierzu das Internet-Portal „Gewaltprävention in der Pflege“ des Zentrums für Qualität in der Pflege, www.pflege-gewalt.de/index.html (letzter Zugriff am 8.10.2016) sowie die Broschüre: Zentrum für Qualität in der Pflege (Hrsg.), Gewaltprävention in der Pflege, Berlin (2015), www.pflege-gewalt.de/broschuere.html (letzter Zugriff am 8.10.2016).
  13. vgl. Conradi E., Ethik und Politik: Wie eine Ethik der Achtsamkeit mit politischer Verantwortung verbunden werden kann, in: Kohlen H., Remmers H., Bioethics, Care and Gender. Herausforderungen für Medizin, Pflege und Politik, V&R unipress, Osnabrück (2010), S. 89-116
  14. Ricoeur P., Liebe und Gerechtigkeit, Amour et Justice, Raden M. (Üb.), Bayer O. (Hrsg.), Tübingen (1990), S. 51
  15. vgl. ebd., S. 53. Vgl. grundlegend Rawls J., Eine Theorie der Gerechtigkeit, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1975), S. 81 und die Weiterentwicklung des Differenzprinzips exemplarisch in Rawls J., Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978 – 1989, Wilfried Hinsch (Hg.), Frankfurt/Main 1994, S. 255-292, hier: S. 261.
  16. Waldenfels B., siehe Ref. 3, S. 52
  17. ebd, S. 52 f.
  18. ebd, S. 53
  19. Lévinas E., Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Krewani W. N. (Üb.), Karl Alber, Freiburg, München, 3. Aufl. (2002), S. 277 ff., hier vor allem S. 286
  20. Lévinas E., Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Wiemer T. (Üb.), Karl Alber, Freiburg, München (1992), S. 128
  21. Lévinas E., siehe Ref. 19 (2002), S. 51
  22. Lévinas E., Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Engelmann P. (Hrsg.), Schmidt D. (Üb.), Passagen Verlag, Wien, 3. Aufl. (1996), S. 77
  23. vgl. Beauchamp T. L. und Childress J. F., Principles of Biomedical Ethics, Oxford University Press, Oxford, 6. Aufl. (2008)
  24. vgl. zur Diskussion Steinfath H., Pindur A.-M., Patientenautonomie im Spannungsfeld philosophischer Konzeptionen von Autonomie, in: Wiesemann C., Simon A., Patientenautonomie. Theoretische Grundlagen – Praktische Anwendungen, mentis, Münster (2013), S. 27-41
  25. Beauchamp T. L. und Childress J. F., siehe Ref. 23, S. 104
  26. vgl. Wiesemann C., Die Autonomie des Patienten in der modernen Medizin, in: Wiesemann C., Simon A., siehe Ref. 24, S. 13-26, hier: 15f.
  27. vgl. Frankfurt H. G., The Importance of What We Care About, Cambridge University Press, Cambridge (1988) sowie die theoretische Weiterentwicklung in: Frankfurt H. G., Autonomy, Necessity, and Love, Cambridge University Press, Cambridge (1999)
  28. vgl. Ekstrom L. W., Autonomy and Personal Integration, in: Taylor J. S. (Hrsg.), Personal Autonomy. New Essays on Personal Autonomy and Its Role in Contemporary Moral Philosophy, Cambridge University Press, Cambridge: (2005), S. 143-161
  29. vgl. Christman J., The Politics of Persons. Individual Autonomy and Socio-historical Selves, Cambridge University Press, Cambridge, New York (2011)
  30. vgl. Oshana M., Personal Autonomy in Society, Ashgate, Aldershot, Hampshire (2006)
  31. vgl. Riedel A., Wirkungslosigkeit von Patientenverfügungen in der stationären Altenpflege – Einflussfaktoren und Postulate, in: Coors M., Jox R. J., in der Schmitten J. (Hrsg.), Advance Care Planning. Von der Patientenverfügung zur gesundheitlichen Vorausplanung, Kohlhammer, Stuttgart (2015), S. 62-74. Vgl. grundlegend Jox R. J., in der Schmitten J., Marckmann G., Ethische Grenzen und Defizite der Patientenverfügung, in: Coors M., Jox R. J., in der Schmitten J. (Hrsg.), S. 23-38. Vgl. auch in der Schmitten J. et al., Patientenverfügungsprogramm – Implementierung in Senioreneinrichtungen: Eine inter-regional kontrollierte Interventionsstudie, Deutsches Ärzteblatt (2014); 4: 50-57
  32. vgl. Krohwinkel M., Fördernde Prozesspflege mit integrierten ABEDLs. Forschung, Theorie und Praxis, Huber, Bern (2013). Vgl. auch Krohwinkel M., Rehabilitierende Prozesspflege am Beispiel von Apoplexiekranken. Fördernde Prozesspflege als System, Huber, Bern, 3., durchges. Aufl. (2007)
  33. vgl. zum Zusammenhang von Ethik als Gestaltung und Ethik der Gestaltwerdung Bonhoeffer D., Ethik.
  34. vgl. hierzu die Beiträge in: Coors M., Jox R. J., in der Schmitten J. (Hrsg.), siehe Ref. 31
  35. vgl. zum Zusammenhang von Autonomie und Person und dem Konzept personaler Autonomie:
  36. Coors M., „Was würdest du wollen?“ Patientenverfügung und vermuteter Patientenwille – Zum praktisch-hermeneutischen Problem von Patientenverfügungen, Zeitschrift für Evangelische Ethik (2012); 56: 103-115
  37. vgl. Quante M., Personales Leben und menschlicher Tod. Personale Identität als Prinzip der biomedizinischen Ethik, Suhrkamp, Frankfurt/Main (2002). Vgl. auch Quante M., In defense of personal autonomy, Journal of Medical Ethics (2011); 37: 597-600
  38. vgl. die Beiträge in: Mackenzie C., Stoljar N. (Hrsg.), Relational Autonomy. Feminist Perspectives on Autonomy, Agency, and the Social Self, Oxford University Press, Oxford, New York (2000)
  39. vgl. zum Überblick über neuere Konzeptionen von Autonomy: Christman J., Anderson J. (Hrsg.), Autonomy and the Challenges to Liberalism. New Essays, Cambridge University Press, Cambridge (2005). Vgl. Graumann S., Assistierte Freiheit: Von einer Behindertenpolitik der Wohltätigkeit zu einer Politik der Menschenrechte, Campus, Frankfurt/Main (2011). Vgl. auch den ausgezeichneten Sammelband: Wiesemann C., Simon A., Patientenautonomie. Theoretische Grundlagen – Praktische Anwendungen, mentis, Münster (2013). Vgl. auch Anderson J., Regimes of Autonomy, Ethical Theory and Moral Practice 3 (2014); 3: 355-368
  40. Anderson J., Honneth A., Autonomy, Vulnerability, Recognition, and Justice, in: Christman J., Anderson J. (Hrsg.), siehe Ref. 38, S. 127-149
  41. Dabrock P., Patientenverfügung und Demenz. Theologisch-ethische Reflexionen zwischen Menschenbildern und Rechtsgestaltung, in: Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Leben mit Demenz. Beiträge aus medizinisch-pflegerischer, theologischer und lebenspraktischer Sicht, Hannover (2008), S. 81-98, hier: S. 86
  42. vgl. hierzu Ricoeur P., Das Selbst als ein Anderer, Greisch J. (Üb.), Wilhelm Fink Verlag, München 2. Aufl. (2005), S. 144 ff. Vgl. auch die Rezeption Paul Ricoeurs in der Pflege- und Medizinethik bei Coors M., Altern und Tod. Zur narrativen Refiguration der Endlichkeit menschlicher Lebenszeit in Gerontologie und Theologie, in: Hofheinz M., Coors M. (Hrsg.), Die Moral von der Geschicht‘ … Ethik und Erzählung in Medizin und Pflege, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig (2016), S. 185-200
  43. vgl. zum Zusammenhang von Erzählung und Ethik Hofheinz M., Mathwig F., Zeindler M. (Hrsg.), Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik, TVZ, Zürich (2009)

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. Stefan Heuser
Evangelische Hochschule Darmstadt
Fachbereich Pflege- und Gesundheitswissenschaften, RII 9
Zweifalltorweg 12, D-64293 Darmstadt
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