Gibt es doch noch Grenzen bei internationalen Leihmutterschaftsverträgen?

Imago Hominis (2017); 24(2): 098-104
Stephanie Merckens

Mit der Entscheidung Paradiso und Campanelli gegen Italien vom 24. Jänner 20171 hob die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Entscheidung der ersten Instanz2 auf und bestätigte die Verhältnismäßigkeit der Kindsabnahme und Freigabe zur Adoption des betroffenen Kindes im Fall eines internationalen Leihmutterschaftsvertrages. Entgegen der Ansicht der ersten Instanz lehnte die Große Kammer das Vorliegen eines Familienlebens ab, weswegen bloß ein Eingriff in das nach Art 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) geschützte Recht auf Privatleben geprüft werden musste. Zur Debatte stand damit nicht mehr der Eingriff in eine Familieneinheit bzw. deren Erhalt, sondern nur mehr die Frage, wie schützenswert die Absicht der Beschwerdeführer war, ihre persönliche Lebensführung durch die Beziehung zu einem Kind weiterzuentwickeln.

Eine genaue Betrachtung dieser Entscheidung lohnt, ergibt sie doch ein differenziertes Anforderungsprofil an die Frage, ab wann von einem Familienleben auszugehen ist. Zudem lässt sie erkennen, dass das Kindeswohl nicht stereotyp über generalpräventive Interessen einer Rechtsordnung gestellt werden kann, wann immer ein Kind konkret betroffen ist, sondern es auch dann einer individuellen Überprüfung der Situation des Kindes und einer Abwägung der betroffenen Interessen bedarf, insbesondere wenn diese – zwar generalpräventiv, aber doch explizit – den Schutz von Frauen und Kindern bezwecken.

Zum Ausgangssachverhalt

Das italienische Ehepaar Donatina PARADISO und Giovanni CAMPANELLI hatte über Vermittlung einer russischen Agentur eine russische Leihmutter beauftragt, das Kind T. C. auszutragen. Nach der Geburt von T. C. übernahm PARADISO es sofort in ihre Obhut. Mit Zustimmung der Leihmutter, die auf sämtliche Rechte gegenüber dem Kind verzichtete, wurden PARADISO und CAMPANELLI in der russischen Geburtsurkunde als Eltern angeführt. Auf Basis dieser Urkunde wurden vom italienischen Konsulat Einreisedokumente ausgestellt, sodass PARADISO nach zwei Monaten mit T. C. nach Italien einreisen konnte. Bereits zwei Tage nach der Einreise informierte das italienische Konsulat in Moskau die italienischen Behörden, dass die Geburtsurkunde falsche Angaben im Hinblick auf die Elternschaft der Beschwerdeführer enthielt, und es wurde gegen diese ein Strafverfahren wegen illegaler Einreise, Verwendung gefälschter Dokumente und Verletzung der Verfahrensbestimmungen für internationale Adoptionen eingeleitet. T. C. wurde unter die Obhut der Jugendwohlfahrt gestellt. Trotz positivem Zeugnis durch die überprüfenden Sozialarbeiter wurde den Beschwerdeführern das Kind am 20.10.2011 im Alter von acht Monaten abgenommen und sämtlicher Kontakt unterbunden. Das Kind wurde unter neuer Identität zur Adoption freigegeben und ist mittlerweile in einer neuen Familie untergebracht. Im Verfahren über die Anerkennung der russischen Geburtsurkunde bestätigte das Gericht in zweiter Instanz die Nichtanerkennung derselben und ließ eine neue Geburtsurkunde für das Kind unter neuem Namen und unbekannter Eltern ausstellen. Den Beschwerdeführern wurde im Verfahren betreffend die Freigabe zur Adoption des Kindes sodann die Parteistellung abgesprochen, da sie nicht mehr als Eltern des als ausgesetzt geltenden Kindes anzusehen waren. Das Ergebnis des Strafverfahrens war zum Zeitpunkt der Entscheidung der Großen Kammer noch nicht bekannt.

Zu den relevanten Rechtsfragen

Die Beschwerdeführer PARADISO und CAMPANELLI erachteten sich durch die Kindsabnahme und Freigabe zur Adoption in Folge der Nichtanerkennung der russischen Geburtsurkunde in ihrem nach Art 8 EMRK geschützten Recht auf Familien- und Privatleben verletzt. Zu prüfen war daher eingangs, ob überhaupt ein Familien- respektive Privatleben im Sinne des Art 8 EMRK anzunehmen war, welches durch das behördliche Vorgehen verletzt werden könnte. In Folge war zu prüfen, ob der Eingriff in diese Grundrechte innerhalb des materiellen Gesetzesvorbehaltes des Art 8 Abs 2 EMRK Deckung finden kann oder die Grundrechte verletzt. Während die erste Instanz noch zu dem Schluss kam, dass das Kindeswohl „ungeachtet elterlicher, genetischer oder anderer Bande“3 in der gegebenen Konstellation überwiege und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung nicht als „Freibrief für die Rechtfertigung jedweder Maßnahme“ dienen könne, kam die Große Kammer zu einem anderen Schluss. Wesentlich für dieses Ergebnis war dabei die Beurteilung der Frage, ob im vorliegenden Fall von einem Familienleben ausgegangen werden könne.

Zum Begriff des Familienlebens

a. biologische Verbindung

Gemäß den Ausführungen des EGMR könne von einem Familienleben im Sinne des Art 8 EMRK dann ausgegangen werden, wenn es entweder a) eine direkte biologische Verbindung oder b) eine familienrechtlich anerkannte Beziehung zwischen den Beteiligten gibt oder c) die Beteiligten ein de facto Familienleben führen.

Wie sich in den Vorverfahren herausstellte, gab es entgegen den früheren Behauptungen oder auch des vermeintlichen Glaubens der Beteiligten keine biologische Verbindung zwischen den Beschwerdeführern und dem betroffenen Kind. Das italienische Ehepaar PARADISO und CAMPANELLI hatte nach erfolglosen Versuchen, auf natürlichem oder auch künstlich unterstütztem Wege selbst ein Kind zu bekommen, über Vermittlung einer russischen Agentur gegen Entgelt die Dienste einer Leihmutter in Anspruch genommen. Dabei wurden zur Befruchtung weder – wie anfangs behauptet – die Eizellen von PARADISO, noch – wie vermeintlich gutgläubig gedacht – die Samen von CAMPANELLI verwendet. Das Kind T. C entstand daher aus den Gameten unbekannter Spender und steht in keiner genetischen Verbindung zu den Beschwerdeführern. Von einem Familienleben aufgrund biologischer Verbindung konnte daher nicht ausgegangen werden.

b. familienrechtliche Zuschreibung

Die in Russland ausgestellte Geburtsurkunde wies die Beschwerdeführer zwar als rechtliche Eltern aus, nachdem die Leihmutter auf sämtliche Rechte gegenüber dem Kind T. C. verzichtet hatte und der Eintragung der Beschwerdeführer als rechtliche Eltern zugestimmt hatte. Allerdings wurde die Geburtsurkunde auf Basis der Annahme ausgestellt, dass die Gameten der Beschwerdeführer für die Befruchtung verwendet worden seien. Im Zuge eines der Vorverfahren wurde die Geburtsurkunde daher aufgehoben und eine Neuaustellung der Geburtsurkunde für das Kind T. C. beantragt. Aus dieser ergibt sich, dass das Kind von unbekannten Eltern in Moskau geboren wurde und einen neuen Namen bekam.

Unerheblich war, dass das russische Recht zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes rechtliche Elternschaft nach der Inanspruchnahme von Leihmutterschaftsverträgen zuließ, ohne zu präzisieren, dass dabei die Gameten der Wunscheltern verwendet werden sollten. Die Beschwerdeführer argumentierten daher auch, dass ihre Vorgehensweise in Russland zum entscheidenden Zeitpunkt legal gewesen sei. Da sie aber in den Vorverfahren zustimmten, dass die russische Rechtsordnung auch vor der Konkretisierung des Gesetzes bei der Verwendung des Begriffs der Leihmutterschaft (surrogate motherhood) von Fällen gestationaler Leihmutterschaft (“gestational surrogacy“), also vom Austragen eines Embryos aus den Gameten der Bestelleltern, ausging, konnte der Verweis auf eine andere Rechtsinterpretation nicht mehr durchdringen.

Von einer familienrechtlichen Zuschreibung zur Annahme der Existenz eines Familienlebens konnte daher ebenfalls nicht ausgegangen werden.

c. de facto Familienleben

Zuletzt prüfte die Große Kammer das Vorliegen eines de facto Familienlebens, da das Kind vom Zeitpunkt seiner Geburt in der Obsorge der Beschwerdeführer war. Die Beschwerdeführerin war am Tag vor der Geburt nach Russland gereist, hatte das Kind sofort von der Leihmutter übernommen und zwei Monate mit dem Kind in Russland gelebt. Bis zur Abnahme des Kindes durch das Jugendamt lebten die Beschwerdeführer weitere sechs Monate gemeinsam mit dem Kind in Italien. Für die Annahme eines de facto Familienlebens bedürfe es nach der bisherigen Judikatur einer Zusammenschau der Qualität der Beziehung, der Rolle bzw. des Verhaltens der Beschwerdeführer gegenüber dem Kind sowie der Dauer des Zusammenlebens.

Im Hinblick auf die Dauer des Zusammenlebens stellt der Gerichtshof zwar fest, dass es nicht angemessen wäre, eine minimale Dauer für das Zusammenleben zu verlangen, befand aber, dass die Kürze des gemeinsamen Zusammenlebens eine Folge des illegalen Verhaltens der Beschwerdeführer war, deren sie sich bewusst gewesen sein mussten. Hinsichtlich der Qualität der Beziehung beachtete der Gerichtshof zwar das positive Zeugnis der Sozialarbeiter, welche eine Überprüfung der Situation vor Ort durchgeführt hatten, und berücksichtigte auch ein von den Beschwerdeführern vorgelegtes höchst positiv ausfallendes psychologisches Gutachten. Die Große Kammer anerkannte aber die Erwägungen des Jugendgerichts, welches dem illegalen Verhalten der Beschwerdeführer eine große Bedeutung zusprach und es als Zeichen eines eher narzisstischen Vorgehens zur Erfüllung eines elterlichen Projektes beurteilte. Den Beschwerdeführern war die Illegalität ihres Verhaltens bewusst gewesen. Sie hatten sich zuvor bereits für Auslandsadoptionen beworben und waren als theoretisch geeignet eingestuft worden.4 Die Bestimmungen für Auslandsadoptionen, insbesondere die Abwicklung über die entsprechende Behörde, war ihnen daher bekannt. Da sie auch schon mehrere reproduktionsmedizinische Maßnahmen in Anspruch genommen hatten, musste ihnen auch bekannt sein, dass Italien die Inanspruchnahme von Leihmüttern verbot und mit Sanktionen bis hin zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren sanktionierte. Auch die angebliche Gutgläubigkeit des Wunschvaters konnte nicht zugunsten der Beschwerdeführer verwendet werden, da es bei der Prüfung der biologischen Verwandtschaft auf die tatsächliche genetische Beteiligung ankommt und zudem nicht der Beweis erbracht werden konnte, dass die Samen von CAMPANELLI tatsächlich nach Russland überführt worden waren. Der EGMR folgerte daher in zweiter Instanz – entgegen den Schlussfolgerungen der Kleinen Kammer –, dass auch von einem de facto Familienleben nicht ausgegangen werden könne. Demnach blieb zu prüfen, ob das streitgegenständliche Verhalten der Behörden in das Privatleben der Beschwerdeführer im Sinne des Art 8 EMRK eingriff.

Zum Begriff des Privatlebens

Der Begriff des Privatlebens im Sinne des Art 8 EMRK ist entsprechend der entwickelten Rechtsprechung sehr viel weiter zu verstehen als der Begriff des Familienlebens. Insbesondere bestätigte der Gerichtshof, dass die Absicht der Beschwerdeführer, Eltern zu werden, und die Fragen der Identität einer Person und ihrer Beziehung zu einem Kind in den Bereich des Privatlebens im Sinne des Art 8 EMRK fallen. Die Kindswegnahme und Freigabe zur Adoption als Folge der Nichtanerkennung der rechtlichen Elternschaft der Beschwerdeführer waren daher als Eingriff in den Schutzbereich des Art 8 EMRK und in das Grundrecht auf Privatleben zu beurteilen.

Zur Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs

Allerdings ist nicht jeder Eingriff in ein Grundrecht sogleich eine Verletzung desselben. Grundrechte wirken in den seltensten Fällen absolut. Insbesondere das Recht auf Familien- und Privatleben unterliegt einem materiellen Gesetzesvorbehalt. Der Gesetzgeber ist daher befugt, diesen Freiheitsrechten Grenzen zu setzen, „wenn die Beschränkung der Freiheit einem bestimmten öffentlichen oder individuellen Interesse dient und der Eingriff in eine grundrechtliche Freiheit zur Wahrung dieser Interessen zwingend erforderlich ist“5. Die Entscheidung PARADISO und CAMPANELLI gegen Italien ist ein Lehrbuchbeispiel der Deklination eines materiellen Gesetzesvorbehalts. Sukzessive wird in den Erwägungen herausgearbeitet, ob die Kindesabnahme und Freigabe zur Adoption in Folge der Nichtanerkennung der ausländischen Geburtsurkunde a) gesetzlich vorgesehen war, b) der Wahrung eines in Art 8 Abs 2 EMRK vorgesehenen Schutzgutes diente und c) in einer demokratischen Gesellschaft zur Erreichung dieses Zweckes notwendig6 war.

Zur gesetzlichen Legitimation der Kindsabnahme

Da im Vorverfahren geklärt wurde, dass das Kind aufgrund falscher Angaben in der Geburtsurkunde als von der Leihmutter ausgesetztes Kind unbekannter Eltern angesehen werden musste, folgerte der Gerichtshof, dass die italienischen Behörden zurecht davon ausgehen konnten, dass es als eltern- und staatenloses Kind auf italienischem Boden zu beurteilen war. Es war daher legitim, das Kind unter die Obsorge der Jugendwohlfahrt zu stellen. Da die Beschwerdeführer bewusst die nationalen Bestimmungen für internationale Adoptionen missachtet hatten und in Umgehung der strafrechtlich bewährten Bestimmungen des italienischen Fortpflanzungsrechts Leihmutterschaft im Ausland in Anspruch genommen hatten, erachtete der EGMR die Kindsabnahme auch als gesetzlich legitimiertes Vorgehen, einer illegalen Situation ein Ende zu bereiten. Diese Vorgehensweise war nicht nur gesetzlich vorgesehen. Es konnte den Antragsstellern auch zugerechnet werden, dass die Übertragung einer ausländischen Geburtsurkunde bloß ihre Echtheit, nicht aber ihre Richtigkeit feststellte und aufgrund unbekannter Gametenspende daher die rechtliche Situation des betroffenen Kindes unsicher sein werde. Gemäß dem nationalen Adoptionsrecht ist bei einem ausländischen Minderjährigen in Italien italienisches Recht anzuwenden. Die rechtliche Beurteilung des Kindes als „ausgesetzt“ war daher vorhersehbar. Die Beschwerdeführer mussten sich die Vorhersehbarkeit der Folge der Kindsabnahme folglich zurechnen lassen, weswegen der Gerichtshof den Eingriff als im Rahmen der gesetzlichen Legitimation gedeckt erachtete.

Zu den anerkannten Schutzgütern des Art 8 Abs 2 EMRK

Aus den Erwägungen des Jugendgerichts ist deutlich erkennbar, dass es im Wesentlichen darum ging, einer illegalen Situation rasch ein Ende zu bereiten. Ein Gewährenlassen des tatsächlichen Zusammenlebens der Beschwerdeführer mit dem Kind wäre aus Sicht des Gerichtes gleichzusetzen gewesen mit dem Genehmigen eines illegalen Verhaltens in offenem Verstoß gegen die einschlägigen Bestimmungen der italienischen Rechtsordnung.7 Wie der Europäische Gerichtshof anerkannte, ging es dabei nicht nur allein um die Wahrung der öffentlichen Ordnung, sondern auch um den Schutz von Kindern. Das Interesse des italienischen Staates, die Entscheidungshoheit über die Einräumung rechtlicher Elternschaft zu behalten und diese nur für die Fälle der biologischen Verbindung bzw. der rechtlich anerkannten Adoption vorzusehen, solle ja gerade diesem Schutz von Kindern dienen. Sowohl die Wahrung der öffentlichen Ordnung als auch der Schutz der Rechte anderer sind Schutzgüter im Sinne des Art 8 Abs 2 EMRK.

Zur Verhältnismäßigkeit des Eingriffs

Abgesehen von der rechtlichen Legitimation des Eingriffs und der Wahrung anerkannter Schutzgüter muss der Eingriff aber auch zur Erreichung dieses Zwecks (im Konkreten der Wahrung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der Rechte Dritter) in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein. Damit kommt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ins Spiel, der in zahlreichen Judikaten ständig verfeinert wird. So auch hier. Denn gerade bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit zeigen sich die Vielschichtigkeit der Entscheidung der Großen Kammer und ihr Abweichen von der ersten Instanz. Während die erste Instanz etwas stereotyp noch das Kindeswohl des betroffenen Kindes in den Vordergrund rückte und das Vorgehen der Behörden als überschießend beurteilte, kam die Große Kammer zu einem anderen Schluss, ohne dabei den Behörden einen „Freibrief“8 für die Rechtfertigung jeglicher Maßnahme zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auszustellen.

Hier zeigt sich nun auch die Relevanz der Unterscheidung von Familien- und Privatleben: Die erste Instanz ging von einem de facto Familienleben aus und sah daher den Erhalt der familiären Einheit als vordergründiges Ziel. Da die Große Kammer ein de facto Familienleben ablehnte, musste sie die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs nur mehr am Recht der Beschwerdeführer auf Privatleben, konkret an ihrer Absicht, ihre persönliche Lebensführung durch die Beziehung zu einem Kind weiterzuentwickeln, prüfen. Das Kind selbst hatte in dem Verfahren keine Parteistellung, sodass ein Eingriff in sein Privatleben nicht zur Beurteilung stand.

Um die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs zu beurteilen, muss entsprechend der entwickelten Rechtsprechung des EGMR geprüft werden, ob der Eingriff in das Freiheitsrecht a) geeignet und b) erforderlich war, um den legitimen Zweck zu erreichen und ob er c) im Hinblick auf die sich widersprechenden Interessen adäquat war.

a. zur Eignung und Erforderlichkeit des Eingriffs

Primäres Ziel des Jugendgerichtes war es, den illegalen Zustand, der durch die Einreise mit einem biologisch nicht verwandten Kind nach Italien unter Umgehung der nationalen Adoptionsbestimmungen und die Verletzung der nationalen Verbote im Bereich der Reproduktionsmedizin entstanden ist, ein Ende zu setzen und damit die Wahrung der rechtlichen Ordnung wieder herzustellen. An der Eignung des Eingriffs (nämlich der Kindsabnahme in staatliche Obsorge) bestand daher kein Zweifel. Auch wurde nicht bestritten, dass nur durch die Abnahme des Kindes dem illegalen Zustand ein Ende gesetzt werden konnte und auch die Dringlichkeit gegeben war, um nicht durch puren Zeitablauf Fakten entgegen der Intention der Rechtsordnung zu schaffen. Der Eingriff war daher auch erforderlich.

b. zur Adäquanz (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn) des Eingriffs

Die erste Instanz kam jedoch zu dem Schluss, dass bei Abwägung der öffentlichen Interessen (Wahrung der öffentlichen Ordnung) mit dem Kindeswohl des betroffenen Kindes (damals noch unter dem Aspekt des Erhalts der Familieneinheit) letzteres überwiege und einen Verbleib bei den Wunscheltern erfordere. Auch die Große Kammer berücksichtigte das Kindeswohl des betroffenen Kindes bei der Abwägung öffentlicher mit privaten Interessen, stützte sich dabei aber auf die Erwägungen des Jugendgerichts, die sie als ausreichend beurteilte. Demnach erkannte dieses sehr wohl, dass das Kind unter der Trennung von den Antragsstellern leiden würde. Allerdings ging es entgegen dem von den Beschwerdeführern vorgelegten psychologischen Gutachten davon aus, dass die Folgen nicht irreparabel wären, gerade weil das Kind erst acht Monate alt war. Das Jugendgericht führte seine Erwägungen dazu detailliert aus und konnte sich aufgrund seiner Zusammensetzung auch auf die Erfahrung und einschlägige Kompetenz seiner (Laien-)Richter stützen. Bei der Beurteilung des Kindeswohls spielte auch das illegale Verhalten der Beschwerdeführer eine große Rolle. Insbesondere äußerten die Richter angesichts der bewussten Umgehung diverser nationaler Schutzbestimmungen der Beschwerdeführer, Befürchtungen dahingehend, dass das Kind bloß Mittel zur Erfüllung narzisstischer Wünsche oder der Lösung individueller oder gemeinsamer Probleme sein könne. Auch werfe das Verhalten der Beschwerdeführer einen konsistenten Schatten über die Beurteilung ihrer elterlichen Fähigkeiten und ließ bezweifeln, ob sie sich im Besitz jenes menschlichen Solidaritätsgefühls befänden, das vorhanden sein sollte, wenn man Kinder anderer in sein eigenes Leben als die Seinen übernehmen wolle.9

Die Große Kammer bestätigte, dass grundsätzlich eine Kindsabnahme von den Eltern nur dann erfolgen sollte, wenn Gefahr für die physische oder psychische Gesundheit des Kindes bestand. Der Gerichtshof anerkannte aber, dass im vorliegenden Fall sehr schwerwiegende öffentliche Interessen am Spiel standen, die insbesondere auch dazu dienen sollten, Frauen und Kinder gegen Missbrauch und illegale Praktiken bis hin zum Menschenhandel zu schützen. Die privaten Interessen der Beschwerdeführer wurden überschattet von ihrem illegalen Verhalten und fielen in der Abwägung daher nicht ins Gewicht. In Bezug auf das Wohl des betroffenen Kindes anerkannte die Große Kammer, dass dieses im Ausgangsverfahren ausreichend berücksichtigt wurde, da auf seine besondere Situation eingegangen worden war. Angesichts seines jungen Alters und der kurzen gemeinsamen Zeit konnte davon ausgegangen werden, dass die Trennung von den Beschwerdeführern zu keinen irreparablen Schäden führen würde, insbesondere da umgehend eine neue passende Adoptionsfamilie gesucht wurde. Da die Beschwerdeführer das erforderliche Alter für eine Adoption bereits überschritten hatten, wäre eine Adoption des Kindes durch sie – selbst wenn man ihr illegales Verhalten unberücksichtigt ließe – nicht mehr in Frage gekommen. Das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit war aus Sicht der Großen Kammer daher erfüllt.

Zusammenfassung und Ausblick

Zusammenfassend befand der Europäische Gerichtshof in zweiter Instanz daher, dass die im konkreten Fall betroffenen öffentlichen Interessen sehr viel schwerer wogen, als der Wunsch der Beschwerdeführer auf die weitere persönliche Lebensführung in Beziehung zu dem biologisch nicht verwandten Kind. Ein Verbleib des Kindes bei den Beschwerdeführern, etwa auch im Hinblick auf eine Adoption durch dieselben, hätte zu einer de facto Anerkennung einer Situation geführt, in welche diese nur durch Verletzung gewichtiger italienischer Gesetze gekommen sind. Da die nationalen Gerichte berücksichtigt hatten, dass das Kind nicht über Gebühr leiden wird müssen bzw. keine irreparablen Schäden durch die Trennung zu befürchten waren, anerkannte der Gerichtshof die Erwägungen als ausgewogen innerhalb eines weiten Beurteilungsspielraums und die Kindsabnahme daher als rechtmäßigen Eingriff in das Privatleben der Beschwerdeführer.

Damit setzte der Europäische Gerichtshof in der sich rasant entwickelten Problematik um internationale Leihmutterschaftsverträge wesentliche Akzente. Insbesondere fällt auf, dass dem öffentlichen Interesse nach Einhalt ethisch fundierter, bewusst gesetzter nationaler Verbote große Bedeutung zugemessen wurde. In diesem Zusammenhang zeigt sich auch die Doppelbedeutung des Begriffs „Kindeswohl“, der nicht bloß konkret individuell im Rahmen der privaten Interessen zu sehen ist, sondern auch generalpräventiv für Kinder allgemein in der Beurteilung des öffentlichen Interesses zu berücksichtigen ist.

Dennoch müssen zu hohe Erwartungen im Hinblick auf die Unterbindung der rechtlichen Anerkennung von Eltern-Kind Verhältnissen aus internationalen Leihmutterschaftsverträgen gebremst werden. Zum einen lässt die Judikatur erkennen, dass dem Moment der genetischen Beteiligung im Zusammenhang mit Leihmutterschaftsverträgen wesentliche Bedeutung zukommt. So kann man den Eindruck gewinnen, dass – über den Umweg der familienrechtlichen Anerkennung – die Inanspruchnahme einer Leihmutter bei gleichzeitigem Zur-Verfügung-Stellen der eigenen Gameten für die Befruchtung bloß als eine Unterform reproduktionsmedizinischer Maßnahmen angesehen wird, während bei fehlender genetischer Beteiligung der Besteller scheinbar eher von einer Form des Kinderhandels ausgegangen wird.

Zum anderen muss hervorgehoben werden, dass im konkreten Fall die nationalen Behörden besonders schnell agiert haben, die Beschwerdeführer wenig glaubwürdig schienen und auch dem konkreten Kindeswohl starke Berücksichtigung geschenkt wurde. Im Umkehrschluss: Das konkrete Kindeswohl bleibt – entgegen der Kritik der ersten Instanz – auch in dieser Entscheidung der determinierende Faktor. Andererseits zeigt das Ergebnis, dass die Tatsache allein, dass ein Kind bereits mit den Bestelleltern zusammenlebt, nicht schon die Anerkennung der rechtlichen Elternschaft erfordert, sondern jeder Fall einzeln geprüft werden muss.

Im Hinblick auf die österreichische Rechtslage ist schließlich noch auf einen weiteren wesentlichen Unterschied hinzuweisen. Das österreichische Fortpflanzungsmedizingesetz sieht zwar ein Vermittlungs- und Kommerzialisierungsverbot für Gameten und Leihmütter vor, und ein Vertrag über Leihmutterschaft würde an der Sittenwidrigkeitsklausel des Zivilrechts scheitern. Im Gegensatz zum italienischen Recht wird die Vermittlung bzw. Verwendung einer Leihmutter aber nicht mit Gefängnisstrafe sanktioniert. Die österreichischen Verbote des Fortpflanzungsmedizingesetzes gelten als Verwaltungsstrafrecht, dessen Wirkung nicht über die österreichischen Grenzen hinausgeht. Angesichts dessen, dass entsprechend der bisherigen Judikatur des österreichischen Verfassungsgerichtshofs10 das österreichische Verbot der Leihmutterschaft verfassungsrechtlich nicht geboten sei und daher nicht unter den ordre public unserer Rechtsordnung falle, ist fraglich, ob der gleiche Fall in Österreich vom Europäischen Gerichtshof ähnlich entschieden worden wäre.

Inwiefern die Entscheidung der Großen Kammer die nationale Rechtsprechung in Fragen der Leihmutterschaft beeinflussen wird, wird sich jedenfalls schon in Kürze zeigen. Das OLG Braunschweig hat in seiner Entscheidung vom 12.4.201711 die Anerkennung einer US-Gerichtsentscheidung zur rechtlichen Elternschaft mit der Begründung abgelehnt, dass kommerzielle Leihmutterschaft gegen wesentliche Grundsätze des deutschen Rechtes verstoße, und sich dabei direkt auf die Erwägungen des EGMR in der Entscheidung Paradiso und Campanelli bezogen. Aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung des Falles wurde die Rechtsbeschwerde an den deutschen Bundesgerichtshof zugelassen.

Referenzen

  1. Paradiso und Campanelli gegen Italien, EGMR GK vom 24.1.2017, hudoc.echr.coe.int/fre (letzter Zugriff am 12. Juli 2017)
  2. Paradiso und Campanelli gegen Italien, EGMR, Kammer II vom 27.1.2015, NLMR 1/2015
  3. ebd.
  4. Allerdings schloss die Adoptionsgenehmigung die Adoption eines Kindes im Babyalter aus, Schöpfer in Paradiso und Campanelli gegen Italien, siehe Ref. 2
  5. Berka W., Verfassungsrecht, 5. Auflage, Rn 1292
  6. ebd., Rn 1293
  7. Paradiso und Campanelli gegen Italien, siehe Ref. 1, Rn 37
  8. Paradiso und Campanelli gegen Italien, siehe Ref. 2 (Schöpfer)
  9. “In the light of the conduct … all of this throws a consistent shadow over their possession of genuine affective and educational abilities and of the instinct of human solidarity which must be present in any person wishing to bring the children of others into their lives as their own children.“, Paradiso und Campanelli gegen Italien, siehe Ref. 1, Rn 37
  10. VfGH v 14.12.2011, B 13/11-10; VfGH v 11.10.2012, B 99/12
  11. OLG Braunschweig, 1. Senat für Familiensachen, Beschluss vom 12.4.2017, 1 UF 83/13

Anschrift der Autorin:

Stephanie Merckens
Juristin am Institut für Ehe und Familie, Wien
Mitglied der österreichischen Bioethikkommission am Bundeskanzleramt
stephanie.merckens(at)ief.at

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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