Der Todeswunsch aus psychiatrischer Sicht

Imago Hominis (2003); 10(1): 37-44
Raimund Klesse

Zusammenfassung

Der Begriff „Todeswunsch“ ist missverständlich. Es ist ein natürliches Bedürfnis des Menschen, leben zu wollen. Die Aufgabe des Psychiaters besteht darin, dem Suizidenten auf dem Weg konstruktiver Lösung für anstehende Lebensprobleme zu helfen, denn Suizidalität entsteht aus der Konfrontation eines Lebensstils mit der Realität. Sie ist Ausdruck eines „So-nicht-mehr-Leben-Wollens“ und Ausdruck einer mangelnden Perspektive für eine gemeinschaftsbezogene Bewältigung der Lebensaufgaben. Aus zahlreichen Arbeiten wird deutlich, dass soziale Isolation und mangelnde Behandlung des älteren Menschen Wegbereiter für eine suizidale Entwicklung sind. Die entscheidende Hilfe für den suizidalen Menschen liegt in der Durchbrechung seiner inneren und äußeren Isolation und dem Aufbau einer tragfähigen Beziehung. Einen eigentlichen Bilanzsuizid gibt es nicht.

Schlüsselwörter: Suizidalität, Voraussetzungen, Suizidforschung, Bilanzsuizid

Abstract

The term "wish for death" is misleading. It is a natural instinctive desire for human beings wanting to stay alive. The task of the psychiatrist is to help the patient on his way to finding a constructive solution to his problem. Suicidal tendencies arise due to a direct confrontation of ones life style with reality. It is a method of expressing the conviction that "I can no longer live in this manner" and also of the lack of prospectives for a partnership like handling of the chore of just living. Many studies have shown very clearly that social isolation an lack of proper treatment are very often the cause of an elderly person developing a suicidal tendency. The decisive help for a suicidal person is getting him or her to break out of his or her isolation and of strengthening his or her capability of building up social relationships. In reality a so called bankruptcy suicide does not exist.

Keywords: tendency to suicide, suppositions, suicidal research, bancruptcy suicide


1. Einführung

Der Begriff „Todeswunsch“ ist missverständlich. Vor allem bei alten Menschen kann es vorkommen, dass aufgrund eines langen, erfüllten Lebens und der altersbedingten Gebrechen und Einschränkungen Bemerkungen fallen wie „es wäre mir auch gleich zu sterben“. Sie würden aber niemals Hand an sich legen und denken auch nicht ernsthaft an einen unnatürlich herbeigeführten Tod.

Der Begriff Suizid (sui caedere = sich selbst töten) und die davon abgeleitete Suizidalität dagegen beinhalten einen Gemütszustand, in dem Gefahr besteht, dass der betroffene Mensch sich selbst etwas antut, was möglicherweise zum Tode führt.

Jeder Mensch möchte aber leben. Der Psychiater oder Psychologe ist hier gefordert herauszuarbeiten, welche Züge im individuellen Seelenleben einen Menschen dazu bewegen, Lebensprobleme nicht mutig und mit Unterstützung anderer zu bewältigen, sondern sich stattdessen Gedanken über eine Selbsttötung zu machen. Seine Aufgabe ist es, dem Suizidenten auf den Weg einer konstruktiven Problemlösung zu helfen.

2. Suizidalität und die menschliche Entwicklung

Durch die moderne Anthropologie, Biologie, Psychologie und Soziologie ist gut belegt, dass der Mensch mit einer hochdifferenzierten Disposition zur sozialen Lebensweise auf die Welt kommt. In einer vertrauten Wechselbeziehung zur Mutter, zum Vater, Geschwistern, Grosseltern und weiteren Beziehungspersonen kann er in „lernendem Reifen und reifendem Lernen“ (Portmann) zur eigenständigen, beziehungsfähigen Persönlichkeit heranwachsen.

Er ist also von Beginn an auf die Verbindung mit dem Du angelegt und kein per se autonomes (im Sinn von solitär) Einzelwesen. Diese natürliche Verbundenheit bedeutet aber nichts anderes als die innere Ausrichtung des Menschen auf  den anderen und die volle Entfaltung seiner Persönlichkeit mit und durch soziale Kooperation. Diese Kooperation muss schon beim Kind in der zwischenmenschlichen Wechselbeziehung aufgegriffen, gefördert und ausgeformt werden, wobei dieses mit seinem Temperament und seiner Eigenaktivität mitgestaltet.

Nur in und durch die zwischenmenschlichen Beziehungen kann der Mensch eigenständig und frei werden und sein. Zur Selbstständigkeit gehört, soziale Verantwortung zu übernehmen, Mitgefühl zu entwickeln, genauso wie Hilfe als Teil des Lebens annehmen zu können. Der gelungene Prozess der Persönlichkeits- oder Charakterentwicklung gründet auf dem in den ersten Beziehungen erworbenen „Urvertrauen“, das es dem Menschen ermöglicht, später in schwierigsten Lebenslagen auf mitmenschliche Hilfe zu hoffen und diese auch aktiv zu suchen und in Anspruch zu nehmen. Ein solcher Mensch wird seinen Wert und seine Würde auch nicht durch das Annehmen von Hilfe in Frage gestellt sehen.

Es ist ein natürlichen Bedürfnis des Menschen, leben zu wollen. In diesem Sinne ist der Wunsch eines Menschen, seinem Leben ein Ende zu setzen, immer ein pathologischer Zustand, der entsteht, wenn eine äußere Lebenssituation (Verlust, Trennung, finanzielle Problematik, politische Drucksituation, seelische Kränkung, aber auch  Prüfungsangst, Angst vor Bewältigung einer Arbeit o. ä.) einem Menschen mit seiner „inneren Ausrüstung“ nicht bewältigbar erscheint.

3. Psychologische Voraussetzungen des Suizids

Ich möchte Ihnen nun aus individualpsychologischer Sicht die Entstehung der Suizidalität kurz erklären:

Erwin Ringel unterscheidet zwischen Anlass und Ursache des Suizids: „Sicherlich haben nämlich die äußeren Umstände, die sich erfassen lassen, zwar Einfluss auf den Selbstmord, im Grunde aber sind sie nicht imstande, zu erklären, wie es zu Selbstmord kam. Sie sind wichtige auslösende Faktoren (...). Der Selbstmord ist aber letztlich nur durch die menschliche Persönlichkeit zu erklären.“1

Viktor Frankl antwortet auf die Frage: „Was aber ist Selbstmord? Ein Nein auf die Sinnfrage.“ und führt aus, dass diese Frage nicht lauten kann: „Was habe ich vom Leben noch zu erwarten? – sondern nur lauten darf: was erwartet das Leben von mir?“2

Alfred Adler legte als Maßstab für die seelische Gesundheit das Gemeinschaftsgefühl zugrunde. Dieses zeigt sich darin, wie ein Mensch seine Aufgaben in den Bereichen Arbeit, Gemeinschaft und Liebe bewältigt. Warum erwähne ich das?

Weil es auch in der Frage der Suizidalität entscheidend ist, wie ein Mensch mit seinem individuellen Charakter an diese drei Lebensfragen herangeht – insbesondere bei auftretenden Schwierigkeiten. Wenn es durch irgendeine Konstellation in der Familie und im gesamten Erziehungsprozess nicht gelingt, dass sich Aktivität, Ziel- und Sinnsetzung eines Menschen konstruktiv auf das Wohl der Mitmenschen ausrichtet, dann kann dieser Mensch das Gefühl haben, dass das Leben eine „schwierige und gefahrvolle Sache (sei), die wenig günstige Gelegenheiten und viele Misserfolge bereit hält. Man könnte über sein eingeschränktes Betätigungsfeld das Motto setzen: „Leben heißt, mich selbst vor Verletzungen zu schützen, mich einzukapseln, heil davon zu kommen.“3 Dazu entwickelt er zahlreiche Schutz- und Abwehrmechanismen.

Z. B. kann sich ein Mensch das Lebensziel setzen, immer perfekt sein zu wollen. Dabei kommt er mit dem Gemeinschaftsgefühl, d.h. mit der gleichwertigen Kooperation mit dem anderen und dem Handeln für das Gemeinwohl immer wieder in Widerspruch.

So kann z.B. ein erfolgreicher Manager bei der Bevorzugung eines anderen bei einer Beförderung sich zurückgesetzt fühlen und suizidal werden. Oder ein alter Mensch, der wegen einer Krankheit nicht mehr so leistungsfähig ist wie vorher, hat gemäß seinem Charakter, perfekt sein zu wollen und zu können, dass Gefühl, seinen Wert zu verlieren. So gab ein älterer Herr mit leichtem Parkinsonismus alle Aufgaben, die er in der Gemeinde jahrzehntelang innehatte, auf, obwohl er sich noch lange nützlich hätte betätigen können und ein hoch angesehener Mitbürger war. Der Grund war seine Angst, die Leute könnten darüber reden, dass er seine Aufgaben nicht mehr richtig erfülle. Diese Angst war ausschließlich die Folge seiner Fiktion, alles perfekt machen zu müssen, um geschätzt zu ein. Er wies also alle Anfragen, sich hilfreich zu betätigen, vehement zurück, beschloss zu sterben und zog sich aus dem sozialen Leben und den Beziehungen aktiv zurück. Er plante noch perfekt seinen 80. Geburtstag und seine goldene Hochzeit und erlag 3 Monate später einer Lungenentzündung.

Wenn man das Innenleben dieses Mannes nicht genauer kennt, würde man diesen Vorgang nicht als Suizid werten. Psychologisch gesehen war es aber ein aktives Nicht-mehr-leben-Wollen, weil er keine Möglichkeit mehr sah, seinen Lebensplan des Perfektionismus weiterzuführen.

Motiv für einen Suizid kann aber auch die Verhinderung einer vermeintlichen Herabsetzung sein, z.B. durch eine verschmähte Liebe. Der im Selbstwertgefühl geschwächte Suizident erhebt sich in der Vorstellung, wie die Angebetete und seine Angehörigen um ihn trauern und sich Vorwürfe machen und wegen ihrer ungerechten Haltung ihm gegenüber grämen.

Der Suizid entsteht aus der Konfrontation eines Lebensstils mit der Realität. Einen natürlichen Todeswunsch oder auch den von Freud postulierten Todestrieb gibt es nicht. Die individualpsychologische Betrachtungsweise erklärt, wie sich aus einer Irritation im Charakter des einzelnen eine Tendenz zum Suizid entwickeln kann, die bei Zusammentreffen verschiedener ungünstiger Faktoren schließlich das Blickfeld des Betroffenen immer weiter einengt – wie es Ringel mit dem präsuizidalen Syndrom beschreibt – und letztlich über die Suizidphantasie zur Tat des Suizidversuchs führt.

4. Suizidalität ist heilbar

Suizidalität wird also immer durch eine fehlgerichtete Tendenz im Charakter hervorgerufen, auch wenn dies im ersten Moment vielleicht nicht erkennbar ist. Suizidgedanken oder – versuche entspringen nicht einem eigentlichen Todeswunsch, sondern sind Ausdruck eines „So-nicht-mehr-Leben-Wollens“. Dies zeigt sich auch darin, dass bei Nachuntersuchungen von Menschen, die nach einem ernsthaften Suizidversuch gerettet wurden, 85 bis 100% innerhalb der Nachuntersuchungszeit nicht an Suizid verstarben4 und die überwiegende Mehrzahl froh  über ihre Rettung waren.

In fast allen untersuchten Fällen konnte auch für den Zeitpunkt des Suizidversuches eine psychiatrische Diagnose gestellt werden.5 Dies gilt ebenso für alte Menschen und Schwerstkranke, bei denen Suizidversuche nicht wesentlich häufiger vorkommen als in der Allgemeinbevölkerung6 In bis zu 50% der Suizidfälle spielen Alkohol oder Drogen eine Rolle.7

70 bis 80% der Betroffenen teilen aber ihre seelische Not mit8 und geben uns somit die Möglichkeit, helfend einzugreifen. Adäquate Hilfeleistung fordert von den Betreuern und Begleitern ein genaues Verständnis, warum beim einzelnen der Lebenswille geschwächt ist. Psychische Leiden, insbesondere Depressionen müssen erkannt und adäquat behandelt werden. Schmerzen und andere körperliche Symptome müssen ernst genommen und soweit wie möglich behoben oder gelindert werden. Die Bedeutung äußerer Belastungsfaktoren muss erkannt und im Zusammenhang mit der Persönlichkeit des Gefährdeten richtig eingeschätzt werden.

So kann z.B. der Verlust oder die Einschränkung des Sehvermögens für einen belesenen und politischen interessierten Menschen eine für ihn schwer verwindbare Einbusse seines Geltungsbereichs mit sich bringen. Zunehmende Schwerhörigkeit kann einen Menschen, der nicht zur Last fallen will, isolieren, da er an vielen Gesprächen nicht mehr teilhaben kann, wenn er nicht auf sein Leiden aufmerksam macht. Das Wegsterben von Freunden kann zur Vereinsamung führen und der Tod des Partners kann für einen Menschen plötzlich neue Anforderungen mit sich bringen, denen er sich nicht gewachsen fühlt. Besonders bei Tüchtigen birgt die Einbusse an Leistungsfähigkeit durch Alter oder Krankheit die Gefahr des sich minderwertig und unnütz Fühlens.

Man muss wissen, dass die heutige gesellschaftliche Entwicklung einen enormen äußeren Druck erzeugen kann, in dem auch Menschen, die ihr Leben sonst durchaus bewältigt hätten, suizidal werden können. Oder wie Alfred Adler es formuliert hat: „Der Selbstmord ist ein individuelles Problem, welches aber soziale Ursachen und Folgen hat.“9

Einer meiner Patienten, ein 50jähriger Mann, der ein versteiftes Knie hat, musste sich bei der Stellensuche anhören, dass er ein Auslaufmodell sei. Die öffentliche Kostendiskussion im Gesundheitswesen legt alten und kranken Menschen geradezu nahe, dass sie finanziell und menschlich eine Belastung für die Allgemeinheit seien. Euthanasie und Beihilfe zum Suizid werden durch die Medien ständig thematisiert und als akzeptabel, wenn nicht gar wünschenswert suggeriert.

Auf höchster Ebene wird aktive Euthanasie im Zusammenhang mit der Kostenfrage diskutiert. So war der berüchtigte „Euthanasiephilosoph“ Peter Singer („Ein fünfjähriges Schwein ist mehr Person als ein menschliches Neugeborenes“) am Weltwirtschaftsforum 2000 in Davos zusammen mit Bill Clinton und anderen Mächtigen zur Mitarbeit in der Arbeitsgruppe „Was ist uns unser Gesundheitswesen wert?“ eingeladen.10

Eine Gesellschaft, die sich dem Suizidwilligen nicht mehr konsequent und mit allem Einsatz entgegenstellt, verliert ihre Humanität und geht psychologisch gesehen in eine kranke Richtung. Nur die Sicherheit, dass alle Anstrengungen unternommen werden, jedem Menschen, sei er alt, schwach, krank oder verzweifelt, adäquate Hilfe zukommen zu lassen, ermöglicht ein ruhiges und friedliches Zusammenleben aller.

Eine gesellschaftliche Billigung des Suizids wie auch der aktiven Euthanasie würde zu verheerenden psychologischen Folgen in allen Gemütern führen. Eine klare Stellungnahme zu diesen Fragen ist auch gegenüber dem Patienten von äußerster Wichtigkeit. Wenn der Betreuende auch nur im Entferntesten den Suizid als „rationale und gangbare Lösung“ ansieht oder diesen sogar nahe legt, kann er dem Todeswilligen nicht helfen, sondern bestärkt im Gegenteil dessen Suizidwunsch.

Die entscheidende Hilfe für den suizidalen Menschen liegt in der Persönlichkeit des Psychiaters, des Hausarztes, der Krankenschwester und jedes anderen, der sich in einer solchen Situation die Hilfeleistung zur Aufgabe macht. „Wir haben die Pflicht, diese  Isolation (des Suizidalen) zu durchbrechen, indem wir eine gute und tragfähige Beziehung zum Gefährdeten aufbauen.“11 sagt Erwin Ringel. Was heißt das?

Es braucht die Beziehungsfähigkeit und das Einfühlungsvermögen, das Vertrauen des Suizidalen zu erwerben und seine innere Situation zu erfassen. Auf dieser Vertrauensgrundlage geht es darum, mit ihm orientiert an der Realität zu entwickeln, was seine Bedeutung und Aufgabe im Leben ist oder sein kann.

Eine Schülerin reagiert auf ihre Probleme beim Lernen und unter den Gleichaltrigen mit psychosomatischen Beschwerden. Da die Eltern darauf nicht so reagieren, wie sie erhofft, fühlt sie sich gekränkt und missverstanden und steigert sich in die Phantasie, dass diese spätestens nach ihrem Suizid bereuen würden, was sie ihr gegenüber versäumt haben.

Hier geht es darum, zwar die Gefühle der Schülerin zu verstehen, gleichzeitig aber innerlich nicht auf ihren irritierten Weg einzutreten und ihr eine realistische Einschätzung ihrer Person zu vermitteln. Als sie vor der Autoprüfung wieder Bauchweh bekommt, ermutige ich sie, trotzdem anzutreten und die Beschwerden medizinisch abzuklären. Gleichzeitig weiß sie, dass meine Wertschätzung für sie unabhängig vom Ausgang der Prüfung ist. Gestärkt dadurch, dass sie sich dem Problem gestellt hat, können wir weiter die anstehenden Aufgaben besprechen und adäquat in Angriff nehmen. Jede adäquat gelöste Lebensaufgabe stärkt sie, so dass sie zu einem späteren Zeitpunkt mit meiner Hilfe auch in die Lage kommt, ihre Beziehung zu den Eltern zu reflektieren und zu  klären und ihren Wunsch nach Suizid als falschen Lösungsversuch einzuordnen.

Für ältere und kranke Menschen, deren physische Selbstständigkeit abnimmt, besteht die Gefahr, dass sie ein Gefühl der Bedeutungs- und Wertlosigkeit entwickeln und eine Angst, anderen zur Last zu fallen. Diesen Gefühlen können wir entgegenwirken, wenn wir ehrliches Interesse und Freude an ihrer Persönlichkeit empfinden, unabhängig von ihrer noch vorhandenen Leistungsfähigkeit. Im gleichwertigen Umgang erlebt auch der alte kranke Mensch seine Bedeutung als Mitmensch für uns und seine Umgebung.

So empfiehlt ein befreundeter Leiter eines Alters- und Pflegeheimes den Angehörigen, ihre Betagten nicht vor den Problemen der Familie zu schonen, weil er die Erfahrung gemacht hat, dass es die alten Menschen stärkt, wenn sie mit ihrem Gebet ihren Beitrag zur Unterstützung der Familie leisten können. Pflegende und ärztliche Betreuer können bewusst machen, wo der einzelne z.B. als Großvater, als Partner, als Arbeitskollege, als lebenserfahrener Mensch mit seiner Biographie und seinem Wissen über viele Zeitereignisse von Bedeutung ist.

So erinnere ich mich an eine Freundin unserer Familie, die in hohem Alter und schwer krank einmal im Monat zu uns zum Mittagessen kam. Allein durch die Art, wie sie ihre Freude und Dankbarkeit über die Einladung zum Ausdruck brachte, hinterließ sie bei uns einen tiefen Eindruck und wir Kinder freuten uns über jeden Besuch.

Wenn wir uns sicher sind, dass der Mensch seine Bedeutung für seine Mitmenschen nie verliert, dann wird das auch in unserer Haltung spürbar werden. Für den Suizidalen und all unsere anderen Patienten und nicht zuletzt auch für uns selber ist es wichtig, sich der menschlichen Herausforderung zu stellen, gemeinsam konstruktive und menschliche Wege zur Bewältigung der z.T. schwierigen Aufgaben zu entwickeln, die das Leben stellt und – wie Erwin Ringel sagt: mit all unseren Kräften anwesend zu sein!

5. Anhang: Ergebnisse der internationalen Suizidforschung

Auch ein Zusammenzug der neueren Literatur zum Suizid (ich stütze mich hier v.a. auf eine ausgezeichnete Auswertung der unlängst verstorbenen Cecile Ernst)12 zeigt, dass so gut wie immer diagnostizierbare psychische Erkrankungen einem Suizid oder Suizidversuch zugrunde liegen:

Als Resultat sog. psychologischer Autopsien (d.h. nachträglicher Diagnosestellung bei Suiziden mittels aller verfügbaren Daten und Interviews bei Verwandten und Hausarzt) ergibt sich regelmäßig, dass 90 bis 95% der Suizidierten zur Zeit ihres Todes an einer diagnostizierbaren psychischen Störung gelitten haben.

Psychiatrische Untersuchungen von Menschen, die nach einem schweren Suizidversuch gerettet wurden, zeigten übereinstimmende Ergebnisse. In einzelnen Untersuchungen (z.B. Suominen K et. al13) ergab sich sogar eine Zahl von 98%. Die meisten der Suizidenten litten unter Depressionen, Suchterkrankungen, Psychosen (Schizophrenien) und Persönlichkeitsstörungen, sehr häufig wurden mehreren Diagnosen gestellt (Komorbidität) (vgl. Abb.1).

Auch in Längsschnittuntersuchungen zeigte sich, dass die späteren Suizidtoten bei der Erstuntersuchung in 75 bis 91% der Fälle bereits eine psychiatrische Diagnose erhalten hatten. Aus den Daten der Kindheit und Jugend wiesen Neelemann et al.14 einen Zusammenhang der Suizide mit männlichem Geschlecht, verzögerter Entwicklung in der Kindheit, Verhaltensstörungen im Jugendalter, charakterlicher Impulsivität und Labilität sowie Schulschwierigkeiten nach.

Dieselben Risikofaktoren waren mit geringerer Deutlichkeit auch mit dem Unfalltod verbunden. In der Berliner Altersstudie zeigte sich, dass mit der Intensität und Detailliertheit von Suizidgedanken auch die Häufigkeit von Depressionen und Gedächtnisstörungen linear anstieg. Personen mit lebhaften Suizidvorstellungen erwiesen sich zu fast 100% als depressiv.

Psychiatrische Diagnosen bei erfolgten Suiziden > 90%
Häufigkeit affektiver Störungen bei erfolgten Suiziden* 40 - 70%
Häufigkeit von Sucht (Alkohol, Drogen) bei erfolgten Suiziden* 25 - 50%
Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungen bei erfolgten Suiziden* 30%
Lebenszeitrisiko für Suizid bei Vorliegen einer Major Depression 15%
Lebenszeit-Risiko für Suizid bei Vorliegen einer Schizophrenie 10%
Lebenszeit-Risiko für Suizid bei Vorliegen einer Sucht 5%
Abbildung 1: Suizid und psychiatrische Diagnosen15; * Komorbidität mit mehreren psychiatrischen Diagnosen ist häufig

Soziale Isolation und mangelnde Behandlung – Wegbereiter der suizidalen Entwicklung

Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass vor allem im Alter Vereinsamung, ungenügende palliative Versorgung und mangelnde Behandlung von psychischen Erkrankungen zur Suizidalität führen. Heuft spricht von der „soziokulturellen Verletzbarkeit alter Menschen“ und meint „Abwertung im politischen Raum, Säkularisierung, Partnerverlust, Wegsterben des Freundeskreises, Mobilität der Kinder und Enkel oder Kinderlosigkeit, Wohnungswechsel, geringer Bildungsgrad, materielle Perspektivlosigkeit“.16 Dies ist, v.a. bei älteren männlichen Witwern gehäuft verbunden mit sozialem Rückzug und erhöhter Suizidalität.

Depressionen nehmen im Alter deutlich zu, werden aber selten erkannt und noch seltener (richtig) behandelt.

Bolund zeigte den engen Zusammenhang von Suiziden bei Schwerstkranken mit mangelnder Schmerzbekämpfung und vor allem mit der Entlassung aus dem Gesundheitssystem. Oft handelte es sich um Patienten, die als aussichtslose Fälle von den Ärzten aufgegeben wurden und jegliche Hoffnung verloren hatten.17

Suizid durch Ansteckung (Werther-Effekt) und erhöhte Verfügbarkeit

Es gilt als erwiesen, dass die Suizidhäufigkeit durch Vorbildwirkung und erhöhte Publizität in den Medien zunimmt. Häfner konnte zeigen, dass während und 35 Tage nach der Ausstrahlung der Fernsehserie „Tod eines Schülers“ die Häufigkeit von Eisenbahnsuiziden bei 15-19jährigen um 175% (männlich) und 167% (weiblich) zunahm. Gleichzeitig nahmen andere Suizidformen nicht ab.18 Anderseits gingen nach 1987 die U-Bahn-Suizide in Wien um 80% zurück, nachdem die Wiener Verkehrsbetriebe mit den Medien die Übereinkunft getroffen hatten, nicht mehr darüber zu berichten.19

Die öffentliche Euthanasiedebatte und das medienwirksame Agieren von Sterbehilfeorganisationen wie Exit und Dignitas tragen zum Abbau von natürlicher Abscheu/Ablehnung gegenüber dem Suizid bei. Sie geben Anleitung zum Selbstmord, stellen Hilfsmittel zur Verfügung und üben durch die Bejahung des Suizids als „Lösung“ Druck auf den zweifelnden Suizidalen aus.

So erhöhten sich nach dem Erscheinen des Buches „Final Exit“, in dem zum Suizid durch Ersticken mittels Plastiksack und zur Vergiftung mit Medikamenten angeleitet wird, die Suizide mittels Plastiksack um 31% und die Medikamentenvergiftungen um 5,4% innerhalb eines Jahres. Nach dem medienwirksamen Selbstmord der Schweizer Schriftstellerin Sandra Paretti vervierfachten sich laut Aussage des damaligen Exit-Vizepräsidenten die Exit-Suizide20, ähnliches ist nach dem Doppelsuizid des prominenten Basler Ehepaars M. bekannt.21

Politische Vorgänge wie die Zulassung von geplanten Suiziden durch Sterbehilfeorganisationen in Alters- und Krankenheimen, welche 2001 im Kanton Zürich gegen den Widerstand aller bedeutenden Fachorganisationen durchgesetzt wurde, können daher den Weg für eine Vermehrung der Suizidrate bereiten.

Es gibt keine Bilanzsuizide

Aus der Tatsache, dass bei Nachuntersuchungen von Menschen, die nach einem ernsthaften Suizidversuch gerettet wurden, 85 bis 100% innerhalb der Nachuntersuchungszeit nicht an Suizid verstarben22 und die überwiegende Mehrzahl froh waren über ihre Rettung, zeigt sich, dass Suizidalität in den meisten Fällen etwas Instabiles und Vorübergehendes ist. Weitere Suizidversuche erfolgten – wenn überhaupt – in den Jahren nach dem ersten Versuch, dann fällt die Häufigkeit stark ab. Die suizidale Intention besteht in der Regel also nur während einer kurzen Lebensphase.

Bei alten Menschen, die einen Suizidversuch begangen oder vollendet haben, lassen sich ebenso wie bei jüngeren, in 90 bis 95% psychiatrische Diagnosen feststellen, wobei Depressionen im Alter deutlich zunehmen.

Bei schweren Tumorerkrankungen ist das Suizidrisiko – entgegen anders lautender Behauptungen – nur in geringem Maß erhöht. Es besteht auch kein wesentlicher Unterschied zu anderen belastenden chronischen Erkrankungen. Deutlich höher ist das Risiko dagegen bei Erkrankungen, die das Gehirn oder Nervensystem betreffen oder alkoholbedingt sind.

Diejenigen Suizide, die bei Tumorkranken vorkommen, sind  fast immer Folge schwerer Depressionen, die z.T. reaktiv, z.T. aber auch durch direkte Wirkung von Tumorstoffen auf das Gehirn oder als Nebenwirkung tumorhemmender Medikamente bedingt sind.23

Es zeigt sich, dass der sog. „rationale“ oder Bilanzsuizid auch statistisch ein unwahrscheinliches Ereignis ist, und weder Alter noch schwere Krankheit einen „normalen“ Grund für einen Suizid darstellt.

Referenzen

  1. Ringel, E., Der Selbstmord, Verlag Dieter Klotz, 6. Aufl., Eschborn (1997), S.11
  2. Frankl, V., Die Sinnfrage in der Psychotherapie, R. Piper Verlag, 6. Aufl., München (1996), S.22 ff
  3. Adler, A., Wozu leben wir?, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a. Main (1987), S.16
  4. Ernst, C., Exposé zu neueren epidemiologischen Studien zum Suizid, Februar 1999, S.5
  5. ebd., S.1
  6. ebd., S.6-11
  7. Hawton K., van Heeringen, K. (Hrsg.),The International Handbook of Suicide and attempted Suicide, Wiley& Sons, Chicester (2000). Zit. nach: Michel, K., Der Arzt und der suizidale Patient, Teil 2, Schweiz Med Forum Nr. 31, 31.Juli 2002, S.732
  8. Ernst, C., Epidemiologie von Suizid und Suizidversuch, Hospitalis 64, Nr. 5 (1994), S.212
  9. Ringel, E., Der Selbstmord, Verlag Dieter Klotz, 6. Aufl., Eschborn (1997), Vorwort
  10. Hippokratische Gesellschaft Schweiz, Ärzte gegen <Sterbehilfe> in Zürcher Kranken- und Altersheimen, Neue Zürcher Zeitung, 23./24. Dezember 2000
  11. Ringel, E., Das Präsuizidale Syndrom, a.a.O., S. 3
  12. Ernst, C., Exposé zu neueren epidemiologischen Studien zum Suizid, Februar 1999
  13. Suominen K et al., Mental disorders and comorbidity in attempted suicide, Acta Psych Scand 94 (1996): 234-40
  14. Neeleman J. et al., Predictors of suicide, accidental death and premature natural death in a general population, Lancet 351 (1998): 93-97
  15. Hawton K., van Heeringen, K. (Hrsg.),The International Handbook of Suicide and attempted Suicide, Wiley& Sons, Chicester (2000). Zit. nach: Michel, K., Der Arzt und der suizidale Patient, Teil 2, Schweiz Med Forum Nr. 31, 31.Juli 2002, S.732
  16. Teising, M., Alt und lebensmüde, Ernst Reinhardt Verlag, München, Basel (1992), S.43
  17. Bolund, C., Suicide and cancer, J. Psychosoc. Onkol 3 (1985): 17-52
  18. Häfner, H., Epidemiologie suizidalen Verhaltes, DIA-GM 13A (1990): 1251-52
  19. Etzersdorfer E., Sonneck, G., Suizidprävention durch Beeinflussung von Medienberichten, CIP-Mediendienst, 30.1.2000
  20. Kuhn, M., in Radio <Z>, 29.9.1997, Talk in Z. Zit. nach: Interdisziplinäres Dossier, Legalisierung der "aktiven Sterbehilfe" in der Schweiz, Hippokratische Gesellschaft Schweiz (1999)
  21. Schenker, T., Exit-Suizide in Basel, Dissertation (1999), S.81
  22. Ernst, C., Exposé zu neueren epidemiologischen Studien zum Suizid, Februar 1999, S.5
  23. ebd., S.6-11

Anschrift des Autors:

Dr. med. Raimund Klesse
Psychiater und Psychotherapeut FMH
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