Erfahrungen mit PatientInnen und Angehörigen auf der Palliativstation

Imago Hominis (2003); 10(2): 99-107
Harald Retschitzegger

Zusammenfassung

Palliativstationen sind wesentliche Elemente für die Integration von Palliativmedizin in einem Gesundheitssystem. Erfahrungen einer seit 1998 bestehenden 10-Bettenstation in einem Akutkrankenhaus werden mit Beispielen von PatientInnen und ihren Angehörigen beschrieben. Unter besonderem Augenmerk auf die unverzichtbare Teamarbeit werden positive Erkenntnisse, aber auch Konfliktbereiche, angeführt. Die insgesamt positive Bilanz der Erfahrungen unterstützt weitere Entwicklungsmöglichkeiten der Palliativmedizin.

Schlüsselwörter: Palliativmedizin, Palliativstation, Teamarbeit, Ileus, Beatmung

Abstract

Palliative wards are essential in order to integrate Palliative medicine into a health system. The experience made since 1998 in a ten bed palliative ward of a hospital for acute medicine and examples of patients and their relations are described. Positive observations as well as conflict situations are listed with especial regard to the absolute necessity of teamwork. The almost total positive balance of experience made here would definitely support the further development of palliative medicine in health systems.

Keywords: Palliative Medicine, Palliative Wards, Teamwork, Ileus, Artificial Respiration


1. Einleitung

„Palliativmedizinische Einrichtungen dienen der Versorgung von unheilbar kranken und sterbenden Personen. Ziele von Palliativeinrichtungen sind die Erhöhung der Lebensqualität der Patienten sowie deren Entlassung in die vertraute Umgebung (...) Inhalte sind die Symptomkontrolle, das heißt die Linderung von Krankheitssymptomen (...), und eine psychosoziale Betreuung, die sich sowohl auf die Patienten als auch auf deren Angehörige erstreckt.“1

Die 1998 eröffnete Palliativstation am Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in Ried/Innkreis war die erste Palliativstation Österreichs außerhalb von Wien.

Palliativstationen sind unverzichtbare Bestandteile für die Implementierung von Palliativmedizin in einem Gesundheitssystem. Alleine die Anzahl von bestehenden Palliativbetten lässt aber noch keinen Rückschluss auf eine flächendeckend hochwertige Palliativbetreuung zu – eine solche kann nur über den Entwicklungsstand einer palliativen Kultur in einer Region definiert werden. Dazu gehören z.B. mobile palliative Betreuungsteams und die kompetente Umwandlung von Schnittstellen zu Nahtstellen – d.h. eine gut funktionierende Zusammenarbeit zwischen mobilen und stationären Diensten.

2. Aufbau, Organisation und Statistik

Die Palliativstation mit 10 Betten ist offiziell an die Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin angegliedert, vom praktischen Ablauf her aber völlig autonom geführt. In den etwas mehr als 4 Jahren des Betriebs wurden ca. 620 Patientenaufnahmen verzeichnet. Die durchschnittliche Verweildauer beträgt ca. 13 Tage, die Zahl der Entlassungen 45 % – das heißt, der manchmal verwendete – falsche – Begriff des gefürchteten Sterbehauses ist auch damit widerlegt.

3. Persönlicher Zugang

Um über Erfahrungen mit Patienten auf der Palliativstation berichten zu können, ist es mir wichtig, meinen persönlichen Zugang zu dieser Thematik anzuführen. Während meiner Zeit als Turnusarzt in Ausbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin erlebte ich viele Situationen mit schwerkranken Menschen, die meiner Vorstellung von einer patientenzentrierten menschlichen Medizin oft nicht entsprachen. Ich darf sie auf drei Bereiche zusammenfassen:

  • ich erlebte viele chronisch schmerzgeplagte Menschen, bei denen auch schon vom damaligen Verständnis her die Möglichkeiten der fachgerechten Schmerzlinderung nicht adäquat und ausreichend angewendet worden sind.
  • Die Visitendauer bei sterbenden Patienten war oft sehr kurz und es war allgemeine „Erleichterung“ zu spüren, wenn diese Patienten bei der Visite schliefen, sodass man der schwierigen Kommunikation mit ihnen aus dem Weg gehen konnte.
  • Die Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, mit der mit schwerkranken Patienten über ihre Diagnosen und/oder Prognosen gesprochen werden durfte, waren allzu oft von stationsführenden Ärzten oder Abteilungsleitern bestimmt und limitiert, und damit ein aufrichtigen Zugang zum Patienten und dadurch wirksame Kommunikation verhindert.

Diese drei Problemfelder veranlassten mich, einen medizinischen Weg zu suchen, der mit diesen Fragestellungen kompetent umzugehen weiß. Ich stieß auf die Idee der Palliativmedizin, die zu diesem Zeitpunkt (ca. 1993) in Österreich vom Begriff her praktisch noch unbekannt war, aber seither eine sehr erfreuliche und fruchtbare Entwicklung genommen hat.

4. Team

Wesentliche Voraussetzung für patientenorientiertes Helfen ist eine funktionierende interdisziplinäre Zusammenarbeit. Palliativmedizinischen Teams gehören je nach Möglich- und Verfügbarkeit in unterschiedlicher Intensität meist folgende Berufsgruppen an: Krankenpflegepersonen, Ärzte, Seelsorger, Psychologen und/oder Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, Physiotherapeuten und andere. Die verschiedenen Fachkompetenzen wirksam werden zu lassen, die von differenten (berufsspezifischen) Sichtweisen wahrgenommenen Eindrücke der Patientenbeobachtung zu kommunizieren und daraus interdisziplinäre Therapiestrategien abzuleiten, sind Schlüssel für umfassende und wirksame Hilfe für Patienten in fortgeschrittenen Krankheitsphasen. Jeder im Behandlungs- und Betreuungsteam soll auch nachvollziehen können, weshalb bestimmte therapeutische Handlungen gesetzt werden. Erst dann kann erreicht werden, dass die verschiedenen Kompetenzen gebündelt werden und PatientInnen und Angehörigen zum Wohl gereichen können.

Um zu gewährleisten, dass getroffene Entscheidungen im Sinne der PatientIn sind, ist es notwendig, mit ihr frühzeitig offene Gespräche zu führen – auch solche über gewünschte und nicht (mehr) gewünschte Therapieoptionen. Am Beispiel der Flüssigkeitssubstitution stellen wir auch im Team jeden Tag aufs Neue Überlegungen zum ethisch fundierten Handeln an – und evaluieren den Nutzen von der Flüssigkeitssubstitution oder die eventuellen Argumente gegen eine solche (z.B. beginnende terminale Rasselatmung) für jeden individuellen Patienten täglich neu.

Regelmäßige Teamsupervisionen, aber auch z. B. Trauerrituale und permanente, wahrhaftige Intervision und Kommunikation im Team helfen mit, diese Teamarbeit zu ermöglichen und am Leben zu erhalten. Dies hilft uns – und damit der PatientIn!

5. Erfahrungen anhand von Patientenbeispielen2

Beispiel 1: Frau A. B.

Eine 28-jährige jung verheiratete kinderlose Frau mit einem metastasierten Ovarialcarcinom. Der junge Ehemann der Frau war während des ganzen Aufenthaltes als Begleitperson aufgenommen, und die beiden erlebten diese letzte gemeinsame Lebensphase sehr intensiv miteinander auf unserer Station.

Als Frau B. von einem anderen Krankenhaus auf unsere Palliativstation aufgenommen wird, hat sie aufgrund der fortgeschrittenen Peritonealcarcinose seit 4 Wochen einen inoperablen Ileus. Bei der Aufnahme überwiegen die Symptome Übelkeit und Erbrechen. Eine Magensonde wollte die Patientin nicht, sie hatte eine solche schon im vorherigen Krankenhaus abgelehnt. Es ging also einerseits darum, ihre Erbrechensfrequenz auf ein subjektiv „erträgliches“ Maß zu senken (laut Patientenberichten 1 – 2 x täglich), vor allem aber die lang andauernde und quälende Übelkeit hintan zu halten und auch die immer wieder auftretenden Schmerzen effektiv zu kontrollieren. Mit einer subkutan verabreichten Medikamentenmischung aus Morphin, Metamizol, Hyoscinbutylbromid, Levomepromazin und Octreotid gelang es, dass diese Frau für den Zeitraum von sieben Tagen nicht erbrechen musste – und das ohne die von ihr ja nicht erwünschte Magensonde.

Was ich mit dem Beispiel dieser Patientin aufzeigen will, ist, dass es möglich ist, ohne Magensonde, ohne Nahrungskarenz und auch ohne exzessive parenterale Flüssigkeitszufuhr eine gute Lebensqualität für Patienten mit inoperablem Ileus über einen längeren Zeitraum zu ermöglichen.3

Beispiel 2: Herr C. D.

Ein 57-jähriger Mann mit einer weit fortgeschrittenen chronisch obstruktiven Atemwegserkrankung wurde während einer Atemnotattacke zuhause vom verständigten Notarzt intubiert und beatmet. Die künstliche Beatmung wurde dann auf der Intensivstation unseres Krankenhauses fortgesetzt, die festgestellte Lungenentzündung antibiotisch behandelt. In den folgenden Wochen, nach Abklingen der Pneumonie, wurde oftmals versucht, Herrn D. vom Beatmungsgerät zu entwöhnen, was aber nicht gelang. Man kam zu der Erkenntnis, dass die Beatmungspflicht von Herrn D. beibehalten werden musste. Er war zu all dieser Zeit wach und klar orientiert. Da ihn die Atmosphäre der Intensivstation schon zusehends belastete, wurde ihm die Möglichkeit der Verlegung auf unsere Palliativstation und der dort fortzuführenden Beatmung schmackhaft gemacht, ohne zu wissen, dass wir aus verschiedenen Gründen auf der Palliativstation „eigentlich“ keine Beatmungen durchführen können. Da aber dem Patienten eben diese Möglichkeit fälschlich in Aussicht gestellt worden war, suchte ich den Patienten zu einem ersten Gespräch auf der Intensivstation auf – um ihm mitzuteilen, dass eine Beatmung auf unserer Station nicht möglich sei.

Ich traf einen Mann an, der mit Herzlichkeit und sehr wachen Augen kommunizierte; sprechen war wegen des Beatmungsschlauches nicht möglich, aber ansonsten war es faszinierend, mit welch starkem nonverbalen Ausdruck er sich mitteilte. Ich stellte ihm einige Fragen, worauf er mit Nicken, Kopfschütteln und Händedruck antwortete. Vor allem folgende Fragen waren mir sehr wichtig: wusste der Patient schon, dass er nicht mehr vom Beatmungsgerät entwöhnt werden konnte – und: wollte Herr D. diese dauerhafte Beatmung auch wirklich?

Schon im ersten Gespräch wurde sehr deutlich: Herrn D. war klar, worum es ging. Die Bereitschaft zur dauerhaften Beatmungstherapie war aber keinesfalls vorhanden. Schon in diesem Gespräch drückte Herr D. aus, dass es ihm nicht um weitere Lebenszeit gehe, sondern nur um Linderung von Atemnot – und darum, dass er ohne Angst und ohne Atemnot sterben möchte! Am Ende dieses Gespräches kam die leibliche Schwester von Herrn D. dazu, und er forderte mich sehr offen und vehement auf, auch der Schwester seine bisherigen „Aussagen“ mitzuteilen. Erklärend ist anzuführen, dass diese Schwester Herrn D. 7 Jahre zuvor zuhause aufgenommen hatte, weil schon zu dieser Zeit seine Lungenfunktion so eingeschränkt war, dass seine Lebenserwartung in „Wochen bis Monaten“ eingeschätzt worden war. Seither betreute die Schwester Herrn D., in den letzten Jahren war er schon zuhause immer von zusätzlicher Sauerstoffsubstitution abhängig. Natürlich wurde dieser jetzt von Herrn D. ausgedrückte Wunsch zu sterben auch dahingehend geprüft, ob eine Depression bestehe, die ihn zu diesem Wunsch führt. Die Depression konnte ausgeschlossen werden, im Gegenteil, Herr D. wirkte sehr aktiv, sehr realistisch, freute sich über die offenen Gespräche, und drückte auch sehr intensiv die Dankbarkeit darüber aus, dass er sich ernstgenommen fühlte. Er hatte seit Jahren über das Sterben nachgedacht, weil es ihn jahrelang begleitet hat, und jetzt wollte er es nicht auf diese Art zusätzlich technisch verzögert wissen.

Ich will die Gespräche, die in weiterer Folge geführt worden waren, hier nicht im Detail anführen – wir haben Herrn D. nach einiger Zeit mit einem Heimrespirator auf die Palliativstation übernommen. Sein Ziel war klar ausgedrückt: einige Zeit wollte er noch haben, um Abschied zu nehmen, dann wollte er die Respiratortherapie reduziert haben, aber immer nur so, dass er keine Atemnot leiden müsse! Auf seinen Wunsch hin begannen wir nach ca. einer Woche und reduzierten langsam über Tage die Atemfrequenz und die Sauerstoffsättigung – immer im Gespräch mit Herrn D., um auch sicher zu sein, dass er nicht an Dyspnoe litt. Zusätzlich verabreichten wir Bedarfsweise und niedrig dosiert Morphin und Benzodiazepine, um das subjektive Gefühl eventuell entstehender Atemnot lindern zu können.

Herr D. starb 10 Tage nach der Übernahme völlig ruhig, stressfrei, an den Folgen seiner respiratorischen Insuffizienz und der daraus physiologisch resultierenden sogenannten CO2-Narkose. Es war ihm damit möglich geworden, seinen „natürlichen“ Todeszeitpunkt so weit als möglich anzunehmen, seinen Wunsch nach Berücksichtigung seines Willens ernst genommen zu sehen, und trotz begonnener künstlicher Beatmung ohne Atemnot, Stress und Angst sterben zu können. Mir ist bewusst, dass diese Beschreibung vielleicht nicht ausreichend den sorgfältigen Ablauf und die Intensität der Gespräche wiedergeben kann, in denen Herr D. seinen Willen eindeutig ausgedrückt hat. Aus ethischer Sicht ist dieses Vorgehen das einzig zulässige gewesen, da es um eine ausdrückliche Ablehnung einer lebensverlängernden Therapie bei einem bewusstseinsklaren Patienten ging.

Beispiel 3: Herr E. F.

Ein 70-jähriger verheirateter Mann mit einem metastasierten Urothelcarcinom. Als für den Patienten belastendstes Symptom bestand ein sehr hartnäckiger Singultus (Schluckauf). Mit vielen verschiedenen medikamentösen Maßnahmen versuchten wir, diesen Schluckauf zu beenden oder zumindest deutlich zu erleichtern. Für uns, das behandelnde Team, und auch für die Ehefrau, gelang dies nach einigen Tagen recht gut – für den Patienten blieb es gleich belastend, wie er sagte. Wir versuchten noch andere Maßnahmen, andere Medikamente – und wieder hatten wir das Gefühl, der Schluckauf trete nur noch selten anfallsweise auf; aber die subjektive Belastung des Patienten blieb bestehen.

Erst nach einiger Zeit, in einem langen Gespräch meiner Kollegin mit der Tochter des Patienten, konnten wir die Bedeutung, das (auch) Symbolhafte dieses Singultus vielleicht besser verstehen: Die Tochter beschrieb, dass der Vater von Herrn F. vor vielen Jahren nach einem Schlaganfall verstorben ist – mit lang andauerndem Singultus. Wenige Tage nach dieser Information der Tochter verstarb Herr F.; es war nicht mehr möglich, mit ihm darüber zu reden.

Jedenfalls konnten wir jetzt das „Festhalten“ von Herrn F. am Singultus zu interpretieren versuchen: vielleicht war es dieses Wissen, bald sterben zu müssen, dass er eine subjektive Besserung nicht zuließ? Wir führten mit Herrn F. Gespräche in diese Richtung, aber er war dem gegenüber auf verbalem Weg nur schwer zugänglich. Vielleicht war dieser nonverbale Ausdruck des Singultus seine Form sich über das bevorstehende Sterben und die damit zusammenhängende Unsicherheit und Angst auszudrücken?

Beispiel 4: Herr G. H.

Ein 51-jähriger, in langjähriger Lebensgemeinschaft befindlicher Mann mit weit fortgeschrittenem Enddarmcarcinom, und bestehender Rectovesicalfistel (Verbindung zwischen Harnblase und Darm), der erstmals zur Einstellung der Schmerztherapie zu uns kam. Einige Wochen nach der Entlassung wurde er vom Hausarzt zugewiesen, da er jetzt sterbend und zuhause nicht ausreichend zu versorgen sei. Er kam in sehr schlechtem Allgemeinzustand, nicht ansprechbar, somnolent. Bei der Aufnahme auffällig war in unserem Gespräch mit der Lebensgefährtin, dass sich dieser Zustand in den letzten zwei Tagen so rasch entwickelt habe und sie beide vor drei Tagen noch am Balkon gemeinsam Kaffee getrunken hätten. Ich erinnerte mich an die Aussage von Herrn H. beim ersten Aufenthalt, als er sagte, solange es noch möglich sei, wolle er jedenfalls noch leben, weshalb wir die Einweisungsdiagnose „sterbend" nicht ohne Zweifel hinnehmen wollten. Unsere – wegen der so raschen Verschlechterung des Allgemeinzustandes bei bekannter Rectovesicalfistel – Verdachtsdiagnose einer Urosepsis ließ sich durch Blut- und Harnbefund bestätigen. Wegen des beim Erstaufenthalt geäußerten Wunsches, jedenfalls noch so lange als möglich leben zu wollen, begannen wir mit einer intravenösen antibiotischen Therapie – auch im Wissen, dass wir damit invasiv und aktiv vorgehen und Herrn H. Belastungen in seiner letzten Lebensphase zufügen, die vielleicht sein Sterben nicht mehr verhindern können und ihm unnötig Schmerz und Stress durch regelmäßige Venenpunktionen zufügen.

Erfreulicherweise war es aber so, dass sich dadurch der Zustand von Herrn H. innerhalb einiger Tage so verbesserte, dass wir ihn rasch wieder nach Hause entlassen konnten.

Drei Wochen später kam er wieder in sehr schlechtem Zustand zur Aufnahme – und diesmal konnte auch eine wieder eingeleitete Antibiotikatherapie das Sterben von Herrn H. nicht verhindern.

Mit diesem Patientenbeispiel will ich zum Ausdruck bringen, wie schwierig es sein kann, zu den „passenden“ Entscheidungen zu kommen, und dass „Decision-Making“ ein ganz wesentlicher Teil der Arbeit auf Palliativstationen ist: mit PatientInnen (oder unter Berücksichtigung deren mutmaßlichen Willens), ihren Angehörigen und im Behandlungsteam gemeinsam Entscheidungen zu treffen und diese auch zu verantworten. Und zwar so, dass möglichst wenig unnötige belastende Diagnostik gemacht werden muss und trotzdem jene Therapiemöglichkeiten effektiv angewendet werden, die der PatientIn in dieser Phase ihrer Erkrankung doch noch den Vorteil und Nutzen bringen, den sie auch möchte.

6. Konfliktbereiche

In den mittlerweile mehr als 4 Jahren des Bestehens der Palliativstation lassen sich naturgemäß diverse Konfliktbereiche feststellen und beschreiben.

* Schon die Errichtung einer Palliativstation in einem Krankenhaus ist mit Vorurteilen, Ängsten, Konkurrenzgedanken und Unsicherheiten verbunden. Dazu kam in unserem Fall, dass die Station als eigenständiges Gebäude („Hospiz“) mit großzügigen räumlichen Möglichkeiten konzipiert worden war und dadurch bei weniger gut ausgestatteten Stationen auch Gedanken der Enttäuschung und des Neides wegen der eigenen beschränkten Möglichkeiten auslöste.

* Demzufolge gestaltet sich auch die Zusammenarbeit mit den Stationen des Krankenhauses als dauerhafte Herausforderung: Wie kann man dem bestehenden Vorurteil des „Sterbehauses“ entkommen? Wie kann man ausreichend informieren, dass Zielgruppen und Auftrag der Palliativstation klar werden und auch bleiben? Man hört Aussagen von Kollegen, dass ein Patient „noch nicht für die Palliativstation geeignet sei, weil er noch gehen könne“! Und dies nach einer intensiven Aufklärungs- und Informationsphase innerhalb des Krankenhauses mit Vorträgen, Informationsnachmittagen, Tagen der offenen Tür, schriftlichen Informationsbroschüren und vielen persönlichen Gesprächen ...

* Daraus ergibt sich das Problem, dass sehr oft Patienten zu spät auf unsere Station zugewiesen bzw. transferiert werden. Die Möglichkeiten einer umfassenden palliativen Betreuung mit all ihren Kompetenzen im Bereich der körperlichen, psychischen, sozialen und auch spirituellen Symptomlinderung können so oft gar nicht mehr wirksam werden, weil Patienten innerhalb weniger Tage, oder oft sogar innerhalb weniger Stunden nach Verlegung sterben, was natürlich nicht Sinn und Zweck einer Palliativstation ist und sein kann. Terminal Care ist nur ein kleiner Bestandteil von Palliativ Care! Wenn es nur um Terminalbetreuung ginge, wären der Aufwand und auch die Kosten von Palliativstationen nicht zu rechtfertigen.

* In engem Zusammenhang mit dieser Schwierigkeit der zeitgerechten Verlegung4 steht jedenfalls die Tatsache, dass das Thema fortgeschrittene Erkrankung, Sterben und Tod jedem Menschen in gewissem Maß Unbehagen bereitet – und besonders ist dies von Ärzten bekannt, deren ganzes Augenmerk auf Heilen ausgerichtet ist. Sie betrachten das Sterben als persönliche Niederlage und weichen deshalb dem Thema auch insofern aus, indem sie bis zuletzt die kurative Haltung aufrecht zu erhalten versuchen und auch in der Kommunikation mit dem Patienten und ihren Angehörigen Wahrhaftigkeit schmerzhaft vermissen lassen und bis zuletzt Vertröstungsformeln bis zum „wird schon wieder“ verwenden.5

* Als stationsinternes Problemfeld möchte ich die manchmal unterschiedliche Einschätzung des Patientenzustandes durch unterschiedliche Berufsgruppen nennen. Dies bestätigt die absolute Notwendigkeit regelmäßiger interdisziplinärer Patientenbesprechungen6, bei denen die unterschiedliche Sichtweise von z.B. Pflegepersonal und Ärzten zur Sprache kommen, und in weiterer Folge zu einem gemeinsamen Bild führen soll, von dem die PatientIn profitiert, weil nicht konkurrierend, sondern kongruent behandelt und betreut wird. Gemeint ist damit v.a. auch die Vorgangsweise bei Fragen von Flüssigkeitssubstitution in der letzten Lebensphase, künstlicher Ernährung etc.

Wir erlebten z.B. diese Differenz bei Herrn H. (Patientenbeispiel 4): Nachdem der Patient als „sterbend“ angekündigt worden war und sich sein Allgemeinzustand als sehr schlecht präsentierte, war die Antibiotikagabe in diesem Zustand nicht für alle Teammitglieder leicht nachzuvollziehen. Das gemeinsame interdisziplinäre Gespräch hat mit Anführen aller Pro- und Contra-Argumente ein gemeinsames Verständnis geschaffen, sodass die Therapie von allen im Team mitgetragen wurde, was mit der Besserung des Zustandes von Herrn H. nach einigen Tagen „belohnt“ wurde.

Unterschiedliche Einschätzung geschieht auch insofern, als sich Patienten bei ärztlichen Visiten in einem „besseren, beschwerdeärmeren“ Zustand zeigen wollen, als dies dem durchschnittlichen Zustand tagsüber entspricht, den das Pflegepersonal aufgrund des zeitlich viel längeren und häufigeren Patientenkontaktes oft viel besser adäquat einschätzen kann. Hier gilt es wiederum, die anderen Kompetenzen zu achten und aus den verschiedenen Eindrücken eine passende Gesamteinschätzung vorzunehmen.

7. Positive Erkenntnisse

Aufgrund der Aufzählung der Konfliktbereiche soll nicht der Eindruck entstehen, dass die negativen Erkenntnisse überwiegen. Dies ist erfreulicherweise eindeutig nicht der Fall. Wie in den Patientenbeispielen gezeigt, gelingt es mit dem teamorientierten Ansatz und der gleichberechtigten Berücksichtigung von körperlichen, seelischen, sozialen und spirituellen Problemen von PatientInnen und ihren Angehörigen sehr oft, die vielfältigen Probleme bei weit fortgeschrittener Erkrankung effizient zu lindern. Einige positive Erkenntnisse möchte ich noch anführen.

* Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Palliativmedizin haben bei vielen Krankheitsverläufen und Symptomen medizinisch-therapeutische Möglichkeiten geschaffen, die eine bessere Lebensqualität vieler PatientInnen zur Folge haben. Hingewiesen sei auf das Vorgehen bei inoperablem Darmverschluss (siehe Patientenbeispiel 1). Eine zunehmende Anzahl von Patienten wird mit dieser Fragestellung und Indikation uns zugewiesen – sozusagen als „Spezialabteilung“ für diese Problematik.

Andere Beispiele sind die symptomatische Linderung von Atemnot mit dem sorgfältig titrierten Einsatz von Morphinen auch bei nicht-onkologischen Erkrankungen (z.B. fortgeschrittener Herzinsuffizienz, irreversibel fortgeschrittenen Atemwegserkrankungen, Motoneuronenerkrankungen).

* Die starke Berücksichtigung der psychosozialen Komponente eröffnet breite Möglichkeiten. Das Verständnis für Reaktionen von Patienten und Angehörigen kann mit dem Wissen einer ausführlichen psychosozialen Anamnese um vieles leichter gelingen und bietet damit auch oft Möglichkeiten zum therapeutischen Handeln im Sinne von wirksamer Kommunikation. Seit einiger Zeit wenden wir die Darstellung von Familienstammbäumen (Genogrammen7) zur Dokumentation an, woraus sich die Berücksichtigung der psychosozialen Hintergründe im therapeutischen Prozess viel effektiver einsetzen lässt.

* Die gemeinsam durchgeführte Aufnahme von Patienten durch Pflegeperson und Ärztin führen zu einer Reduktion der doppelt gestellten Fragen, was PatientInnen als angenehm erleben. Für das Betreuungsteam ergibt sich daraus von Anfang an eine gemeinsame Basis des Patientenverständnisses.

* Die gemeinsame und interdisziplinäre Dokumentation (jede involvierte Berufsgruppe dokumentiert ihre Maßnahmen und ihr Vorgehen in einer gemeinsamen Spalte der Fieberkurve) ermöglicht eine sehr genaue Darstellung der komplexen Symptomatik, die in diesen Lebensphasen häufig anzutreffen ist.

Mit einem speziellen Dokumentationsinstrument, dem sogenannten Edmonton Symptom Assessment System (ESAS)8, gelingt es auf sehr anschauliche Weise, die häufigsten Symptome (z.B. Schmerz, Atemnot, Übelkeit, Depression, Schläfrigkeit) auch graphisch darzustellen, um einen raschen Überblick über die Effizienz der Symptomkontrolle zu erhalten.

* Das Angebot, Angehörigen auch in ihrer Trauer als Ansprechstelle zur Verfügung zu stehen, wird häufig angenommen und von trauernden Angehörigen als sehr hilfreich beschrieben.

8. Konklusion

Palliativstationen sind unverzichtbare Bestandteile im Medizin- und Gesundheitssystem. Dies möchte ich in dieser Deutlichkeit ausdrücken. Sie sind notwendig, um der kompetenten Symptomlinderung bei Menschen mit weit fortgeschrittenen Erkrankungen umfassend Raum zu geben. Nur die konzentrierte Fachkompetenz, eingebettet in ein interdisziplinäres Team, kann den vielfältigen Problemen von Palliativpatienten mit schwer zu lindernden Symptomen gerecht werden.

Für die nähere Zukunft sehe ich folgende Herausforderungen, um eine weitere Vernetzung von Palliativstationen mit anderen Krankenhausabteilungen und den übrigen Strukturen im Gesundheitssystem effektiv vorantreiben zu können.

* Einen Weg zu finden, der weg vom Konkurrenzdenken führt (Wem gehört der Patient?), hin zu einer kooperierenden Sichtweise, die gemeinsam nach den individuell besten Lösungen für individuelle Patienten sucht, und sich damit entfernt von einer Sichtweise, dass nur kurativ „gut“ und palliativ „schlecht“ sei.

* Möglichkeiten zu schaffen, dass Palliativpatienten bei Bedarf rechtzeitig, d.h. frühzeitig, mit Palliativstationen in Kontakt kommen – und nicht erst dann, wenn die palliative Aufgabe nur mehr in der Begleitung des Patienten in den letzten Lebenstagen oder gar Lebensstunden besteht.

* Weiters gilt es, die Entwicklung einer wahrhaftigen, kommunikativen Medizin voranzutreiben. Solange wir Ärzte schwierigen Fragen von PatientInnen in schweren Lebensphasen ausweichen, wird es nicht in bestem Maß möglich sein, die uns anvertrauten Menschen ernst zu nehmen und ihnen bei ihren Sorgen, Ängsten und Nöten wirklich hilfreich zur Seite zu stehen.

* Insofern gilt es, die fachliche und kommunikative Kompetenz aller an der Betreuung von PalliativpatientInnen beteiligten Berufsgruppen in Aus-, Fort- und Weiterbildung effektiv und kontinuierlich weiter zu steigern.

* Im Vordergrund jeder Zusammenarbeit möge immer die Überzeugung offen spürbar und bemerkbar sein, dass alle beteiligten Personen jeder Berufsgruppe ein gemeinsames zentrales Ziel haben: die bestmögliche Betreuung dieser jeweils einzigartigen PatientIn und ihrer Angehörigen!

Ich bin überzeugt, dass die Entwicklung der Palliativmedizin in Österreich sehr fruchtbar vorangehen wird. Möge auch die Multiplikatorwirkung von Palliativstationen dazu beitragen, dass wir immer mehr erkennen, dass nicht nur Heilung Hilfe bedeutet, sondern dass es bei sehr vielen PatientInnen – bei denen die Heilung nicht möglich ist – um umfassende kompetente Hilfe geht. Hilfe, die Schmerzen effektiv reduziert, Leiden kompetent lindert, PatientInnen empathisch, kommunikativ und wahrhaftig begleitet und Angehörige tröstet. Damit kann es Heilung des Leidens geben – auch wenn am Ende der Tod steht.

Referenzen

  1. ÖBIG (Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen): Auszug aus dem ÖKAP/GGP 2001, Wien
  2. Der Begriff „Fallbeispiel“ wird bewusst nicht verwendet, weil meiner Meinung nach die Gefahr der Reduktion der menschlichen Ganzheit auf einen „Fall“, gerade in der Palliativmedizin keinen Platz haben darf.
  3. Baines, M.J., Oliver, D.J., Carter, R.L., Medical management of intestinal obstruction in patients with advanced malignant disease: a clinical and pathological study, Lancet (1985) ii: 990-993
  4. Es geht natürlich nicht darum, alle Patienten an eine Palliativstation zu verlegen, wenn sie sterbend sind. Hier gemeint sind die Patienten, die aufgrund einer komplexen Symptomatik von der interdisziplinären speziellen Kompetenz des Teams einer Palliativstation eindeutig profitieren würden.
  5. Diese Aussage mag übertrieben klingen, ich weiß. Die Erfahrung in der Zusammenarbeit mit vielen Kollegen zeigt leider das Gegenteil. Es ist mir nicht möglich, diese schmerzhafte – und für viele Patienten merkbar zum Schaden gereichende Tatsache – in einer solchen Beschreibung zu beschönigen.
  6. Die aus meiner Sicht auch auf jeder anderen Krankenhausstation als verpflichtend einzuführen wären.
  7. Liossi, Ch., Hatira, P., Mystakidou, K., The use of the genogram in Palliative care, Palliative Medicine (1997) 11: 455-61
  8. Bruera, E., MacDonald, S., Audit methods: The Edmonton Symptom Assessment system. In: Higginson, I. (Hrsg.), Clinical audit in Palliative Care, Radcliffe Medical Press, Oxford (1993)

Danksagung

Ich möchte diesen Artikel in Dankbarkeit allen meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Teams der Palliativstation am Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern Ried widmen. Nur durch die Fachkompetenz und Humanität jeder/s Einzelnen und die gute interdisziplinäre Zusammenarbeit ist es möglich, den uns anvertrauten Menschen die adäquate Form der Hilfe individuell zukommen zu lassen.

Anschrift des Autors:

Dr. Harald Retschitzegger, Leiter der Palliativstation
Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern
Schloßberg 1, A-1030 Ried im Innkreis

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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