Der moralische Status des menschlichen Embryos

Imago Hominis (2005); 12(2): 109-115
Günther Pöltner

Zusammenfassung

Der moralische Status des menschlichen Embryos lässt sich nur in transdisziplinärer Zusammenarbeit von Naturwissenschaft und philosophischer Anthropologie ermitteln. In Anbetracht der Unteilbarkeit menschlichen Lebens umfasst der Würdeschutz und das daraus sich ergebende Instrumentalisierungsverbot alle Lebensphasen eines Menschen von Anbeginn an. Der Dissens über den moralischen Status lässt sich nicht im Rückgriff auf sogenannte metaphysikfreie Argumente beheben, weil diese Position auf Dissens erzeugenden Voraussetzungen beruht. Angesichts der Grauzone, in der sich eine zeitliche Fixierung des Existenzbeginns eines Menschen bewegen muss, muss der tutioristische Grundsatz ‚In dubio pro embryone’ gelten.

Schlüsselwörter: Status des Embryos, Würdeschutz, Instrumentalisierungsverbot, Existenzbeginn

Abstract

The moral status of human embryos can only bei ascertained in a transdisciplinary co-operation between natural science and philosophical anthropology. Concerning the nondivisiability of human life, dignity and the resulting prohibition of instrumentalising must be upheld in all phases of human life from the beginning to the natural end. The failure to agree on the moral status cannot be achieved by the use of the so-called metaphysic argument because this position is based on a failure of agreement. Due to the border line situation in finding a reliable beginning of a human being, one must rely on the axiom ‚in dubio pro embryone‘.

Keywords: status of human embryos, dignity, prohibition of instrumentalisation, beginning of a human being


1. Problemlage

Mit der Verfügbarkeit menschlicher Embryonen im Reagenzglas und den damit eröffneten neuen medizinischen Handlungsmöglichkeiten ist das Menschsein auf eine neue Weise zum Problem geworden. Gefragt wird, wer oder was überhaupt als Mensch gelten kann, und ab wann wir es mit einem Menschen zu tun haben. Über diese Fragen wird weltweit debattiert. Es sind dies Fragen, die zwar nicht ohne naturwissenschaftliche Erkenntnisse, aber wegen deren Interpretationsbedürftigkeit nicht schon durch sie beantwortet werden können. Naturwissenschaftliche Befunde müssen in denjenigen Kontext re-integriert werden, durch dessen methodische Ausblendung sie überhaupt erst möglich geworden sind. Dieser Kontext ist unser lebenspraktisches Selbstverständnis. Dessen methodisch-kritische Reflexion ist Sache einer philosophischen Anthropologie. Soll solch eine Reflexion nicht in eine „Gefälligkeitsanthropologie" abgleiten, die ihre Resultate von vornherein im Hinblick auf den gewünschten Zweck konzipiert, muss sie unabhängig von pragmatischen Zielsetzungen und Forschungsinteressen erfolgen.

Unter dem Titel „moralischer Status des Embryos" geht es um die Frage, ob der menschliche Embryo ebenso wie ein Kind oder ein Erwachsener Träger von Grundrechten ist oder nicht, d. h. ob er dem Lebensschutz bzw. dem generellen Tötungsverbot und dem Instrumentalisierungsverbot unterliegt oder nicht.1 Unter Vernachlässigung von Differenzierungen, die am Grundsätzlichen nichts ändern, lassen sich im großen und ganzen zwei Konzepte eruieren: das Konzept eines ungeteilten und das eines gradualistischen Lebensschutzes.

(1) Die erste Auffassung erblickt im Embryo von der Befruchtung an ein menschliches Lebewesen. Menschliche Lebewesen stehen unter einem unteilbaren und umfassenden, d. h. alle Lebensphasen gleicherweise betreffenden Lebensschutz. Beginn des Lebens und Beginn des Lebensschutzes fallen zusammen. Das Leben eines Embryos ist einer Güterabwägung entzogen.

(2) Die zweite Auffassung erblickt im Embryo der ersten 12 bis 14 Tage nicht schon ein menschliches Lebewesen, sondern nur menschliches Leben (artspezifisches Leben, das auch als Prä-Embryo bezeichnet wird). Für sie unterliegt menschliches Leben einem graduellen, d. i. mit zunehmender Entwicklung wachsenden Schutz. Dieser setzt frühestens mit dem Ausschluß der Mehrlingsbildung ein – (nach anderen Varianten erst mit der Schmerzempfindlichkeit oder noch später). Beginn des Lebens und Beginn des Lebensschutzes fallen auseinander. Das Leben eines Embryos unterliegt unter bestimmten Voraussetzungen einer Güterabwägung.

Grundrechte sind Menschenrechte, d. h. solche, die dem Menschen nicht erst aufgrund bestimmter Eigenschaften, Leistungen oder sozialer Stellungen, sondern bloß aufgrund der Tatsache zukommen, dass er Mensch ist. Demnach geht es um die Frage, ob mit dem Embryo ein Mensch zu leben angefangen hat. Die Bestimmung des moralischen Status des menschlichen Embryos hängt von der Beantwortung der Frage nach dem Daseinsanfang eines Menschen ab. Soll diese Frage in der rechten Weise gestellt werden, muss eine Verständigung über das Subjekt des Lebens und Werdens sowie über die leiblich-personale Einheit unserer selbst erzielt und das Verhältnis von retrospektiver und prospektiver Fragerichtung berücksichtigt werden. Schließlich wird zu fragen sein, ob sich der Dissens über den moralischen Status des menschlichen Embryos im Rückgriff auf sogenannte „metaphysikfreie" Argumente beheben lässt.

2. Das Subjekt des Lebens und Werdens

Üblicherweise wird nach dem Beginn menschlichen Lebens gefragt. Diese Fragestellung ist unzureichend, weil in erster Linie weder ein menschlicher Organismus oder ein organisches System, noch menschliches Leben lebt, sondern jeweils jemand lebt. Genauer gesagt: Du selbst lebst, ich selbst lebe. Nicht ein allgemeines anonymes menschliches Leben, sondern jemand steht unter Lebensschutz und unterliegt dem generellen Tötungs- und Instrumentalisierungsverbot. Der moralische Status kommt nicht einem freischwebenden Leben, sondern jemand zu – dir selbst, mir selbst. Eltern zeugen nicht „menschliches Leben", sondern ihr Kind. Meine Eltern haben mich selbst gezeugt. So wie nicht der Lauf läuft, sondern der Läufer, so lebt nicht das Leben, sondern jemand. Subjekt des Lebens und Werdens ist jemanddu selbst, ich selbst.

Dieser Befund wird aus den Augen verloren, wenn unreflektiert von „werdendem" oder „heranwachsendem" Leben gesprochen wird. Hier wird das Lebewesen mit dessen Leben verwechselt. Wir alle werden älter, ob wir wollen oder nicht, aber es wird nicht unser Leben älter, sondern wir selbst werden es – älter werdend leben wir. Ähnliches gilt für die Rede von einem „heranwachsenden" Leben. Es wächst nicht mein Leben heran, sondern ich selbst. Herangewachsen sein heißt aber nicht, zu leben aufgehört haben. Das ist der Hinweis, dass sich die zeitlich-geschichtliche Verfasstheit menschlichen Daseins allein mit einem Entwicklungs- oder Wachstumsbegriff nicht zureichend fassen lässt.

Subjekt des Lebens sind auch nicht Lebensphasen. Die Ausdrücke „Fetus", „Kind", „Erwachsener" bezeichnen nicht verschiedene Subjekte, sondern unterschiedliche Lebensphasen eines Subjekts. Diese Substantiva lassen es nur offen, um wessen Lebensphasen es sich handelt. Lebensphasen sind keine Bestandteile des Lebens, noch bin ich deren Summe. Für eine Summierung und eine Selbstzuschreibung von Lebensphasen – es sind meine Lebensphasen – ist die Einheit meiner selbst bereits vorausgesetzt. Wer jemandes Lebensphase vernichtet, vernichtet dessen ganzes Leben, ihn selbst. Daraus, dass das Leben-Können an eine Reihe von Bedingungen gebunden ist, folgt nicht, dass diese Bedingungen mit meinem Leben-Können zusammenfallen, sondern nur, dass nichts dazwischen kommen darf, was mein Leben-Können vernichtet. Mit den ersten Lebensphasen ist nicht bloß ein Stück von mir aufgetaucht, und der Rest noch ausständig, sondern ich selbst zur Gänze habe zu leben angefangen.

Mit dem Personalpronomen „ich" meine ich nicht eine meiner Lebensphasen – die selbstbewußte, in der ich mich zum Gegenstand einer Selbstreflexion machen kann –, sondern ich meine mich selbst in der Ganzheit meiner leiblichen zeitlichen Existenz. Wir sagen ja zu Recht, „ich bin dann und dann geboren worden". „Selbst zu sein" ist eben nicht gleichbedeutend mit „selbstbewusst sein". Deshalb hängt mein moralischer Status nicht vom Erreichen der selbstbewußten Lebensphase ab. Die Einheit meiner selbst deckt sich nicht mit der Einheit meines Selbstbewusstseins.

3. Die zeitlich-geschichtliche Einheit unseres personal-leiblichen Lebens

Jeder von uns kann von sich sagen, einmal ungeboren gewesen zu sein. Ich selbst bin es gewesen, d. h. habe mich in meiner vorgeburtlichen Lebensphase befunden. Wäre ich selbst es nämlich nicht gewesen, hätten meine Eltern nicht mich gezeugt, sondern etwas von mir Verschiedenes produziert. Haben sie aber mich selbst und nicht einen Vorläufer meiner selbst gezeugt – und nur das entspricht unserem lebenspraktischen Selbstverständnis –, dann lässt sich mein Existenzanfang nicht als Veränderung von etwas zu jemand denken. Vielmehr lebt von Anfang an jemand, wenngleich anfänglich im Modus radikaler Selbstentzogenheit. Der Existenzanfang ereignet sich zwar im Zuge von Veränderungen, resultiert aber nicht aus ihnen. Damit ist allerdings noch keine Vorentscheidung über die zeitliche Bestimmung dieses Anfangs getroffen.

Die hier auftauchenden begrifflichen Schwierigkeiten rühren daher, dass sich unsere gängige Vorstellung von Werden am Phänomen der Veränderung eines schon Existierenden orientiert und den Unterschied von Entstehen/Vergehen und Veränderung nivelliert. Der Existenzanfang von etwas kann offenkundig nicht ein Veränderungsvorgang an eben diesem Existierenden sein.

Überdies bildet für unser gängiges Vorverständnis „werden" den Gegensatz zu „sein". Was wird, ist noch nicht, und was ist, das ist geworden und hat sein Werden hinter sich. Dieser Begriff ist aber untauglich, wo es um unser eigenes Dasein geht. Leben heißt nämlich Sein im Werden. Macht man begrifflich ernst damit, dass das Subjekt des Lebens und Werdens jemand ist, und sich nicht etwas in mich verändert hat, dann müssen wir sagen: Jemand kommt aus der Verborgenheit seiner selbst zu sich. Werden heißt hier: Zu sich selbst kommen (Ich selbst komme zu mir selbst, nicht aber wird etwas ich selbst. Jemand sein heißt nicht, der Vollendungszustand von etwas sein). Die Frühphasen des Leibes sind jemandes Existenzphasen, der sich selbst und anderen verborgen ist. Für andere verborgen sein meint nicht, anderen ist der Blick auf etwas Vorhandenes verstellt, sondern meint: sichtbar entzogen. Die Selbstentzogenheit ist sichtbar an der Gestalt-unähnlichkeit der Frühphasen des Leibes im Vergleich zu seinen späteren Erscheinungsformen. Die Geschichte der Selbstentzogenheit (die „naturale" Geschichte) gehört untrennbar zum Selbstsein. Das führt auf das Problem der leiblich-personalen Einheit unserer selbst.

Auf der einen Seite gilt: Ich bin mein Leib – wer meinen Leib sieht und berührt, sieht und berührt mich selbst. So gesehen ist die Entwicklungsgeschichte meines Leibes meine eigene Geschichte, die Geschichte meiner selbst. Mit dem Beginn dieser Entwicklungsgeschichte habe ich selbst angefangen zu sein. Wenn das von uns allen gilt, dann kommt in Anbetracht der Unteilbarkeit des Lebens dem menschlichen Embryo ein moralischer Status zu, der ihn zum Träger von Grundrechten macht. Auf der anderen Seite bin ich mein Leib dergestalt, dass ich ihn habe – es nimmt nicht mein Leib die Selbstzuschreibung „mein Leib" vor, sondern ich selbst bin es, der das tut. In dieser Einheit-in-Differenz (von Leibsein und Leibhaben) vollzieht sich unser Dasein. Diese in der Einheit implizierte Differenz von personalem Selbst und Leib wirkt sich bei der Datierbarkeit von jemandes Existenzanfang aus. Sie scheint es in prospektiver Hinsicht fraglich zu machen, ob mit dem biologisch datierbaren Beginn „neuen menschlichen Lebens" schon jemandes Leben angefangen hat. Ist also prospektiv gesehen dem Embryo der moralische Status abzusprechen, der ihm in der Retrospektive zuzusprechen war?

4. Retrospektive versus Prospektive

Einige Autoren2 ziehen aus der Asymmetrie von Retrospektive und Prospektive den Schluss, es lassen sich keine begründeten Aussagen über den moralischen Status des Embryos (in den ersten zwei Lebenswochen) machen. Rechtfertigen lasse sich höchstens eine positive Als-ob-Betrachtung – so, als ob ihm ein moralischer Status mit Schutzwirkung zukäme –, die im Einzelfall zugunsten einer Vernutzung von Embryonen aufgegeben werden kann. Denn es gebe im Einzelfall eben keine Sicherheit über das Vorliegen eines schützenswerten Entwicklungspotentials, weil Sicherheit immer nur nachträglich, nach erfolgreich verlaufener Entwicklung zu haben sei. Das zeige nicht zuletzt die Tatsache, dass ein hoher Prozentsatz befruchteter Eizellen auf natürliche Weise abgeht.

Folgt also aus der Asymmetrie von Retrospektive und Prospektive die Legitimität, den Umgang mit Embryonen gegebenenfalls pragmatischen Interessen auszuliefern? Dieser Schluss ist voreilig, weil er den Status von Potentialitätsaussagen missinterpretiert. Aussagen über das Vorliegen eines Entwicklungspotentials sind nicht – wie die voreilige Schlussfolgerung unterstellt – usurpierte Gewissheitsaussagen, die daraus resultieren, dass wir die Sicherheit über das erfolgreiche Ende auf das Wissen um die Anfangssituation übertragen. Vielmehr handelt es sich um Aussagen, die sich auf die Kenntnis des Arttypischen stützen. Sie sagen, was normalerweise, d. i. bei Individuen von solcher Art geschieht, wenn die entsprechenden Bedingungen erfüllt sind und nichts dazwischenkommt. Weil wir es im vorliegenden Fall mit einem Wesen von solcher Art zu tun haben, und Wesen von solcher Art sich gemäß ihrer Art unter entsprechenden Bedingungen so und so entwickeln, haben wir guten Grund zu sagen, auch dieses Wesen werde sich, weil es die arttypischen Merkmale aufweist, ebenfalls artgemäß entwickeln, wenn die erforderlichen Bedingungen gegeben sind. Wegen des Unterschieds von Potential und seiner entsprechenden Bedingungen entfällt auch dann nicht der gute Grund, das Vorliegen des Potentials zu behaupten, wenn diese Bedingungen nicht gegeben sind.

Wird das Wissen um das Artgemäße ersetzt durch eine auf das Individuelle gerichtete Als-ob-Betrachtung, muss die Einstellung zum Potential einem Entscheidungsirrationalismus überantwortet werden. Die (retrospektiv betrachtete) Unsicherheit über das Vorliegen eines Entwicklungspotentials vermag nämlich eine Aufforderung zu einer positiven Als-ob-Betrachtung im konkreten Fall keineswegs zu begründen. Die gegenteilige Haltung, die Zelle so zu betrachten, als ob sie das Entwicklungspotential nicht besäße, ist genauso berechtigt. Eine prospektive Unsicherheit rechtfertigt beide Haltungen und enthält von sich aus noch kein Entscheidungskriterium. (Die Wahrscheinlichkeitsverteilung scheidet als Kriterium aus. Wahrscheinlichkeit kann Unsicherheit nicht beheben, weil sie selbst eine Form von Unsicherheit ist. Die einzige Möglichkeit, eine begründete Wahl zwischen den prospektiven Betrachtungsarten zu treffen, wäre das Vorliegen des Potentials. Genau das aber gilt als unsicher.) Die Entscheidung für oder gegen eine positive Als-ob-Betrachtung wird zur Sache pragmatischer Interessen. Potentialität wird dann z. B. abhängig von der Absicht oder der Art der Entstehung. So findet sich die These, zum Transfer nicht vorgesehene Embryonen könne man „nicht in demselben Sinne als ‚werdende‘ Bedürfnissubjekte bezeichnen (...), in dem man einen zum Transfer vorgesehenen menschlichen Embryo als ‚werdenden’ Menschen bezeichnen kann".3 Fazit: Aus der Asymmetrie von Retrospektive und Prospektive lässt sich eine Vernutzung von Embryonen nicht rechtfertigen.

Ist vielleicht, so kann gefragt werden, der Dissens über den moralischen Status und die Schutzwürdigkeit des menschlichen Embryos am Ende Ausdruck weltanschaulicher Positionen, über die in einer pluralistischen Gesellschaft vernünftigerweise kein Konsens erzielt werden kann?

5. Rückgriff auf metaphysik-freie Argumente bei der Bestimmung des moralischen Status des menschlichen Embryos?

Habermas4 hat die These vertreten, eine eindeutige Bestimmung des moralischen Status des menschlichen Embryos sei nur auf der Grundlage einer weltanschaulich eingefärbten, von strittigen metaphysischen Hintergrundannahmen abhängigen Beschreibung von Tatbeständen zu erzielen. Wird die Quelle des Dissenses in divergierenden ‚metaphysischen Hintergrundannahmen’ erblickt, legt es sich nahe, einen Minimalkonsens als Basis regelungspolitischer Entscheidungen anzustreben. Das bedeutet, den Inhalt dieses Minimalkonsenses durch Ausschaltung all jener Argumente festzulegen, die von „metaphysischen" oder „religiösen" Hintergrundannahmen leben, die in einem pluralistisch verfassten und zu weltanschaulicher Neutralität verpflichteten Staat nicht konsensfähig sind. Nur „freistehende", von strittigen Hintergrundannahmen unabhängige Argumente haben nach dieser Auffassung eine Chance auf allgemeine Akzeptanz, Optionen hingegen, die den Minimalkonsens überschreiten, können nur von privater Verbindlichkeit sein.

Der Vorschlag scheint plausibel, weil er einen konsensuellen Umgang mit dem Dissens in Aussicht stellt. In Wahrheit jedoch beruht er auf Voraussetzungen, die ebenso strittig sind wie die, die er beseitigen möchte. Wenn es z. B. heißt, das Vorliegen von Schmerzempfindlichkeit sei ein von metaphysischen oder religiösen Vorentscheidungen unabhängiger und deshalb allgemein akzeptabler Grund der Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens, dann ist das keineswegs ein „freistehendes", metaphysikunabhängiges, sondern ein metaphysisches, nämlich einer empiristischen Metaphysik verpflichtetes Argument. Von diesem aber ist nicht einzusehen, weshalb ausgerechnet es in einer pluralistischen Gesellschaft konsensfähig sein soll – außer man hat undiskutiert vorentschieden, Pluralismusverträglichkeit sei mit der Einnahme eines empiristischen Standpunktes identisch. Die inkriminierte metaphysische Hintergrundannahme ist nicht verschwunden, sondern nur durch eine andere ersetzt worden. Die Rede von „freistehend" sucht das zu verbergen. Dieses Argument löst den Dissens nicht auf, sondern schreibt ihn fest. Es bindet die Schutzwürdigkeit an das Vorliegen moralisch relevanter Eigenschaften. Über genau solch eine Begründung wird aber gestritten. Wird das Menschenrecht auf Leben an den Besitz bestimmter Eigenschaften gebunden, entscheiden Dritte darüber, wer Mensch ist und wer nicht.

Der Hinweis auf Pluralismusverträglichkeit bleibt überdies einige Begründungen schuldig. Mit welchem Recht wird z. B. „weltanschaulich", „metaphysisch", „religiös" in einen Topf geworfen, wo es sich doch um unterschiedliche Dinge handelt? Weiters wird vielfach behauptet, ein nicht-gradualistisches Konzept, das menschliches Leben von Anfang an unter Schutz stellen möchte, sei einzig und allein unter religiöser Perspektive einsichtig. Eine Begründung wird nicht gegeben. Wieso soll das so sein? Etwa nur deshalb, um dieses Konzept umstandslos zu einer konsensunfähigen Privatmeinung erklären zu können? In Wahrheit geht es weder um „religiöse" noch „a-religiöse" Perspektiven, sondern um unterschiedliche philosophische Begründungen. Es mag Gründe geben, die die These zweifelhaft machen, mit abgeschlossener Befruchtung habe bereits jemandes Existenz angefangen. Wer aber den Zweifelsgrund in einer angeblich religiösen Einfärbung der Argumentation erblickt, betreibt eine Politik der Unterstellung und der argumentativen Ausgrenzung.

Gewiss: Eine fehlende Schmerzempfindlichkeit in den embryonalen Frühphasen lässt sich unabhängig von weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen einsehen. Aber daraus folgt nicht der normative Schluss, der Lebensschutz habe erst mit der Schmerzempfindlichkeit einzusetzen. Genau darüber besteht ja Dissens. Ähnlich verhält es sich mit dem Vorschlag von Habermas, den seiner Meinung nach mit der Geburt erreichten vollen Personenstatus zum Grund der Schutzwürdigkeit zu erheben.5 Dieser Vorschlag ist inkonsistent. Auf der einen Seite heißt es, zum Personenstatus gehöre die wechselweise Anerkenntnis, also nicht bloß das Anerkanntwerden, sondern das Anerkennen. Auf der anderen Seite soll der volle Personenstatus und damit der Grund uneingeschränkter Schutzwürdigkeit mit der Geburt gegeben sein. Ein Neugeborenes ist aber zu Anerkenntnis noch nicht in der Lage. Was hat es dann vor einem Ungeborenen voraus?

6. In dubio pro embryone

Pluralismuskonformität kann weder ein Maßstab argumentativer Überzeugungskraft noch ein Kriterium der Sachnähe oder Bevorzugung von Argumenten sein. Die gegenteilige Meinung, die sich auf „weltanschauliche Neutralität" und „metaphysik-freie" Argumentation beruft, betreibt die Strategie der Selbstprivilegierung. Mit dem Argument, es bleibe jedem unbenommen, innerhalb der öffentlich allein verbindlichen liberaleren Regelung für sich privat der „strikteren" Haltung zu folgen, ist jede Erweiterung der Zulässigkeitsgrenzen von vornherein sanktioniert. Das Argument lässt sich beliebig wiederholen. Der Grund für die gegenwärtige Begrenzung ist schon der für ihre künftige Aufhebung je nach Interessenslage und Lobbying.

Sollen rechtspolitische Regelungen nicht in den Sog von Selbstprivilegierungsstrategien geraten, dann werden bioethische Problemlösungsvorschläge im Rahmen einer öffentlichen gesellschaftspolitischen Gestaltungsdebatte zu erarbeiten sein. Eine solche Debatte darf sich nicht einseitig der Individualperspektive verschreiben, vielmehr muss in ihr die sozialethische Verträglichkeit angebotsinduzierter individueller Optionen ebenso zur Sprache kommen wie Fragen der Allokation und Verteilungsgerechtigkeit. Die Gesellschaft wird sich zu fragen haben, was die Instrumentalisierung der Frühestphasen menschlichen Lebens und ihre Behandlung als Rohmaterial für das menschliche Selbstverständnis insgesamt bedeutet. Und schließlich wird sie sich zu fragen haben, ob sie eine Umdeutung von Handlungsprinzipien bewusst mitmachen und Ethik nur als nachträgliche Ratifizierung derjenigen faits accomplis verstehen will, welche „die systemische Dynamik von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft"6 geschaffen hat.

Wenn – wie sich zeigt – die Berufung auf „weltanschaulich neutrale" Argumente keinen Ausweg darstellt, wäre es ehrlicher zuzugeben, dass die Datierung des Daseinsanfangs eines Menschen und die Bestimmung des moralischen Status des menschlichen Embryos sich in einer objektiven Grauzone bewegen. Das ist einer der Gründe für die eingangs genannten unterschiedlichen Beurteilungen der frühesten Lebensphasen menschlichen Lebens. Die Frage lautet jedoch, wie wir uns angesichts dieser theoretischen Schwierigkeiten – der zeitlich exakten Fixierung von jemandes Daseinsanfang – verhalten sollen. Mit der Unmöglichkeit einer zeitlich eindeutigen Fixierung des Daseinsanfangs eines Menschen und damit einer eindeutigen Bestimmung des moralischen Status des menschlichen Embryos lässt sich keineswegs eine Vernutzung menschlicher Embryonen – gleich zu welchem noch so wünschenswerten Zweck – rechtfertigen. Warum nicht? Weil das Nicht-Wissen, ob etwas vorliegt, nicht gleichbedeutend ist mit dem Wissen, dass etwas mit Sicherheit nicht vorliegt. Es würde immer noch nicht Unbedenklichkeit, sondern Vorsicht und die Mahnung folgen, angesichts einer objektiven Grauzone den moralisch sichereren Weg zu gehen, also die Haltung „In dubio pro embryone" zur handlungsbestimmenden Maxime zu erheben. Das bedeutet zum einen, den menschlichen Embryo nicht als Heilmittel zu vernutzen, sondern ihn unter Lebensschutz und Instrumentalisierungsverbot zu stellen. Es bedeutet zum anderen, die biologisch relevante Zäsur, die Befruchtung, auch als moralisch relevante Zäsur anzuerkennen – selbst wenn diese Zäsur nicht der datierbare Anfang von jemandes Existenz sein sollte, was sich aber theoretisch weder so noch so mit Eindeutigkeit wissen lässt.

Referenzen

  1. Die ersten Schwierigkeiten tauchen schon angesichts einer unterschiedlichen Sprachregelung auf. Unter der Embryonalzeit wird einmal die Entwicklung des Menschen von der Befruchtung bis zum Ende der 8. Woche verstanden. Auf der anderen Seite wird zwischen Prä-Embryo und Embryo unterschieden, wobei unter der prä-embryonalen Phase die Entwicklungszeit von der Befruchtung bis zur Bildung des Primitivstreifens (gegen Ende der zweiten Woche) verstanden wird.
  2. Tanner K., ... etwas an sich Unerforschbares, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik (2002); 46: 58-60
  3. Birnbacher D., Ethische Probleme der Embryonenforschung, in: Beckmann J. P. (Hrsg.), Fragen und Probleme einer medizinischen Ethik, Gruyter Verlag, Berlin (2000), S. 228-253, 236
  4. Habermas J., Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Suhrkamp Verlag, Frankfurt (2001)
  5. „Was den Organismus erst mit der Geburt zu einer Person im vollen Sinne des Wortes macht, ist der gesellschaftlich individuierende Akt der Aufnahme in den öffentlichen Interaktionszusammenhang einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt", Habermas J., Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Suhrkamp Verlag, Frankfurt (2001), S. 64f
  6. Habermas J., Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Suhrkamp Verlag, Frankfurt (2001), S. 36

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Dr. Günther Pöltner
Institut für Philosophie, Universität Wien
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Anthropologie und Bioethik
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