Europa – morgen? Philosophische und kulturelle Einflüsse auf das Bild der Frau

Imago Hominis (2006); 13(2): 89-104
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Zusammenfassung

Im Gang durch die Kulturgeschichte zeigen sich im vorchristlichen Raum drei herkömmliche Asymmetrien zwischen Frau und Mann: im Bereich der Mutterschaft, im Bereich der Erotik und im Bereich der männlich akzentuierten Hochkulturen, in denen die Frau auf die Seite des „Anderen“ gerät. Die Frau im Christentum (auf der Basis des Judentums) erlebt eine Aufhebung dieser Asymmetrie auf grundsätzlichem Boden: beide Geschlechter sind sowohl menschlich als auch Ebenbilder des selben Ursprungs. Dennoch bleiben im geschichtlichen und erfahrungsmäßigen Raum der Lebenswelt die herkömmlichen Asymmetrien zum Teil auch stehen. Sind sie nur funktionsbedingt oder auch sinnvoll? Der Aufsatz gelangt zur These: Die gleiche Würde des Menschseins nimmt dem „bleibenden“ Unterschied seine Schärfe, seine Macht der Zerstörung des anderen. Angesichts der gleichen Würde und Gleichwertigkeit kann auch eine fruchtbare Asymmetrie gedacht und gelebt werden.

Schlüsselwörter: Mann und Frau, gender, Mutterschaft – Vaterschaft, leibferne Philosophie, leibbezogene Philosophie, Edith Stein

Abstract

Cultural history from the pre-Christian era shows three conventionally accepted asymmetries between women and men: One is pertaining to motherhood, one to eroticism, and one that is found in “high culture with masculine accentuation”, whereby women are switched over to “the other side”. Women in Christianity (based on Judaism) experience a suspension of this fundamental asymmetry: Both sexes are human as well as images of the same source. In spite of this, the conventional asymmetries seem to be sustained – at least in past – in the social environment which we experience today. Are these asymmetries based on functionality alone, or meaningful as well? This study concludes that the “sustained difference” is softened by the equal dignity of all humans, mitigating the power of destruction of the other. Considering equal dignity and value, a fruitful asymmetry could be viewed and lived.

Keywords: man and woman, gender, motherhood – fatherhood, philosophy without body, philosophy of body, Edith Stein


1 Horizonte heute: Ost und West

Es gibt einen chinesischen Glückwunsch: Ich wünsche Dir uninteressante Zeiten! Wir leben offensichtlich in interessanten Zeiten, in doppelter Hinsicht: Über die Schlachtfelder und tödlichen Ideologien des 20. Jahrhunderts hinweg gewinnen wir seit 1989 das einstige Europa zurück, das 1918 und 1945 zerschossen und in zwei „Blöcke“ zerstückelt war. Aber es kommt zum Teil leergebrannt zurück, von seinen Wurzeln lange schon abgeschnitten, malträtiert, von den Denkmustern der letzten 60 bis 90 Jahre überformt. Im Herzen des Kontinents, in Mitteleuropa (denn es gibt ja nicht nur Ost- und Westeuropa), ist ein religionsresistenter Raum entstanden, so vor allem in den neuen deutschen Bundesländern und in der Tschechischen Republik. Entchristlichung bis zu 80% der Bevölkerung und ein naiv aufklärerischer Positivismus, der noch aus der materialistischen Doktrin stammt, verbinden sich zu einem scheinbar undurchdringlichen Gemisch. Nach der Wiedervereinigung 1990 kam es spezifisch in Mitteldeutschland im Zuge der überfälligen Nachmodernisierung auch zu einem so nicht erwarteten „Abschmelzen“ der beiden Kirchen.1

Aber in zweiter Hinsicht bietet auch Westeuropa „Interessantes“, eine andere Form der Entwurzelung, die für sich selbst das Wort Postmoderne gefunden hat. Wir leben heute bewusstseinsmäßig in einer „Post“-Welt, einer Welt „danach“. Sie ist posttraditionell, was das rasche und gründliche Vergessen kultureller Herkünfte angeht: „Geschichte ist fünf Jahre alt“2; postnational – denn im Blick auf das Globale wird ein Weltbürgertum fast schon erzwungen; ja, unsere Ära ist sogar schon posthuman genannt worden3 – was auf die möglichen Manipulationen am menschlichen Genom und Kreuzungen mit dem Tier anspielt. Sie ist weiterhin betrachtet auch postsexuell, weil die binäre Unterscheidung zwischen männlich und weiblich im Zuge der Gender-Forschung als überholt ausgegeben worden ist. „Fließende Identität“ ist das Motto der „androgyn-multiplen Körperlichkeit der Techno-, Pop- und Cyber-Kultur“4 – alltäglich schon längst angekommen in einem solchen transsexuell-synthetischen Idol wie Michael Jackson. Utopien im Sinne des totalen Selbstentwurfes setzen sich zunehmend durch. Im Ausspielen des „Körper-Potentials“ vollziehen sich „Performances“, in welchen vorzugsweise Frauen ihren eigenen Körper als Kunstwerk nutzen.5 Man ist nicht nur seines Glückes Schmied, sondern auch seines Körpers Schneider. Unnötig zu sagen, dass wir damit natürlich in einem Post-Feminismus angelangt sind: Die Frauenbefreiung hat ihr Subjekt verloren, da es Frauen sozusagen „nicht gibt“. In der gender-Theorie ist ja nicht mehr das biologische, sondern nur noch das soziale oder zugeschriebene Geschlecht Gegenstand des Nachdenkens. Das Hauptwort dieser Prozesse lautet „Dekonstruktion“ oder: „My body is my art“. Kunst wird irritierendes Spiel mit dem eigenen Fleisch – Grenzen zwischen Fleisch und Plastik, Körper und Computer, Kunst und Nicht-Kunst verwischen sich.

Unsere Lebenswelt ist damit auf dem Wege zur grundsätzlichen Überholung des eigenen Körpers. Nicht mehr nur der science fiction-Leser lässt sich die mögliche Kombination von Mensch und Maschine vorführen; diese rückt weiter in Theorienähe, jedenfalls in den USA: Die Feministin Donna Haraway entwickelt den gedanklichen Entwurf des „Cyborg“ = Cyber Organism, das meint einen durch Transplantate und technische Einbauten immer wieder funktionsfähig erneuerten Organismus.6 Dem Mathematiker Roy Kurzweil schwebt der Einbau von Nanocomputern in den menschlichen Körper vor. Seine fortschrittliche Frage lautet: „Braucht die Zukunft noch den [bisherigen] Menschen?“

Der Nach-Phänomene also kein Ende; „The Day After“ ist mehr als ein Filmtitel, er ist bewusstseinsmäßige Wirklichkeit. Bisherige Orientierungen sind fürs erste totgesagt. Wir sind die Generation „danach“: nach Geschichte, Herkunft, Nation, Geschlecht, Körper, Selbstzweck… In diese „Post-Modernisierung“ und überhitzte Entwicklung werden auch die „neuen“ europäischen Länder einbezogen. Und nicht zuletzt hat all dies Auswirkungen auf das Selbstverständnis von Frauen.

2 Bisherige kulturelle Einflüsse auf die Frau im Christentum

2.1 Drei herkömmliche Asymmetrien zwischen Frau und Mann

2.1.1 Die Macht der Mütter

Die in allen alten Kulturen zu beobachtende Gleichsetzung von Frau = Mutter ist eine erste grundlegende kulturelle Konstante. Hier setzt bereits die erste Asymmetrie ein: Der Mutterschaft entspricht kaum eine vergleichbare Vaterschaft. Die Frau als Mutter ist Trägerin numinoser Fruchtbarkeit; sie garantiert das Leben der Sippe als Heilerin, Zauberin, Richterin (welche die Tabuverletzungen bestraft), als Weissagende, als Priesterin in der rituellen Erweckung der Fruchtbarkeit, als Töterin (häufig wird ein Kind geopfert, um den numinosen Kreislauf aufrechtzuerhalten). In vielen Mythen wird von einer Empfängnis des Kindes durch die ganze Natur, nicht durch einen bestimmten Mann berichtet („autonome“, naturbedingte Mutterschaft).

„Mutterkulturen“ bedeuten in der Regel allerdings keine „politische“ Führung durch Frauen; „nach außen“ repräsentieren fast immer Männer die Gruppe, nicht selten kraft der Verwandtschaft zu einer bestimmten hochrangigen Frau. Mutterschaft wird als subjektive oder auch anonyme, wesentlich vorbewusste Macht gestaltet; sie dient dem Sippenerhalt und ist dem Ethos der Sippe fraglos unterworfen.

2.2 Die Frau als Rätsel des Mannes, der Mann als Löser der Frau: die Botschaft der Geschlechtermythen

Die erotische Anziehung der Geschlechter ist ebenfalls unterschiedlich angelegt. Die Frau stellt sich dem Mann als Rätsel und Aufgabe dar, der Mann als ihr Löser, „Eroberer“. Die Frau, scheinbar passiv, stellt in den alten Geschlechtermythen die Bedingungen, verlangt „Adäquation“, setzt gleichsam ihren Preis (Brunhilde, Turandot), wobei der verlangte Einsatz für den Mann um Leben oder Tod geht. Die wirklich erotische Kultur ist daher wesentlich von den Vorgaben und Erwartungen der Frau bestimmt; ihre Zustimmung zum „Spiel“ ist ausschlaggebend. Der Mann seinerseits muss die gestellten Bedingungen erfüllen, nach ihrer Lösung aber der Frau zugehören und nicht erneut „neue Aufgaben“ suchen.

Die Versuchung der Frau liegt darin, ihren Wert entweder zu hoch oder zu gering anzusetzen; die Versuchung des Mannes dagegen darin, den „Schatz im Acker“ mit List zu erschleichen oder auf der Suche nach anderen Perlen weiter umherzuschweifen. Die Frau bedarf des Mannes zu ihrer „Lösung“, der Mann der Frau zu seiner „Bewährung“: eine polare, aber nicht austauschbare Zuordnung.

Wenn dieses Grundverhältnis „verrutscht“, benutzt der Mann die Frau als gefügigen Sexualreiz, bricht ihre erotische Macht durch Quantifizierung („Harem“) und Versachlichung; sie wird zur „Technikerin“ des Sexualgenusses verformt.

2.3 Der Mann als Mensch, die Frau als „die andere“: Antike philosophische Einflüsse

„Vaterkulturen“ sind in der Regel Hochkulturen, die auf einen Mann als Haupt und Vorstand einer Sippe oder einer Hausgemeinschaft bezogen sind, also keineswegs notwendig auf jeden Mann. Vaterschaft ist dabei weit weniger biologisch als vielmehr sozial-funktional verstanden. Das Patriarchat ist, wenn man es sachlich-historisch untersucht, in vierfacher Hinsicht bestimmbar:

Der „Vater“ ist der Träger des Rechts. Alle alteuropäischen Rechte, seien sie bei Lykurg, Solon oder Moses formuliert, sind für Männer und nicht für Frauen geschrieben und dienen der Regelung von Konflikten unter Gleichberechtigten. Rechte setzen gleichzeitig (Sorge-)Pflichten frei.

Der „Vater“ ist Besitzer der Frau(en), Kinder, Sklaven, des Viehs, des Bodens etc. Aus dem Besitz erwächst wiederum eine Sorgepflicht, andererseits das Recht zu strafen, möglicherweise zu töten.

Der „Vater“ ist Träger des Logos, des Wissens, der Wissenschaft in all ihren Zweigen bis zu den Künsten und der Literatur.

Der „Vater“ hält die kultische Verbindung zu den Göttern aufrecht und hat die religiöse Verwaltung des Heiligen inne.

Hieran wird deutlich, dass der herkömmliche „pater familias“ die Außenbeziehungen für die gesamte Hausgemeinschaft wahrnimmt: Er geht mit den Institutionen um und vertritt sie, ist selbst objektive Macht (Hegel) im Unterschied zu der subjektiven Macht der Frau, die die Innenbeziehungen der Sippe regelt.

In den alteuropäischen Sprachen steht in der Regel dasselbe Wort für Mann = Mensch (von der Wortwurzel man/men kommt auch menis/mens = Sinn, Mut, Geist), während die Wörter für „Frau“ vom Sexualbereich abgeleitet sind (gyne, femina, woman). „Nur eine unwissende Frau ist tugendhaft“, so lautet ein Konfuzius zugeschriebener Satz. Die Frau ist die „andere“; in nicht wenigen Kulturen fehlt überhaupt ein Überbegriff „Mensch“ für Mann und Frau (s. im Französischen l’homme). Daraus ergibt sich auch eine gewisse Androzentrik (Vorrang männlicher Ausdrucksweisen) in der Sprache („man“).

Abschließend sei gesagt, dass das Ungleichgewicht, oder positiv gesagt: der Unterschied zwischen den Geschlechtern von den verschiedensten Kulturen zu einer klaren Aufgabenteilung und damit zu einem polaren Modell gegenseitiger Ergänzung genutzt und ausgebaut wurde. Arbeitsteiligkeit ist zweifellos eine Voraussetzung für eine Höherentwicklung von Kultur. Dass sie entlang der Geschlechtergrenzen gezogen wurde, ergibt sich zunächst und grundlegend aus der körperlichen Anlage von Mann und Frau. Dass damit gegenseitige und zunehmend einseitige Ausgrenzung einherging, ist geschichtlich ebenfalls offensichtlich.

In diese Welt kam ein kultureller Durchbruch im Geschlechterverhältnis durch die jahrhundertelange Entwicklung der biblischen Botschaft.

3 Die Frau im Christentum. Die Aufhebung der Asymmetrie im biblischen Entwurf: Menschlichkeit und Göttlichkeit beider Geschlechter

Judentum und Christentum haben an diesen – oft nebeneinander zu beobachtenden Strukturen – Anteil, die den „natürlichen“ geschichtlichen Boden des Vorderen Orients und Alteuropas bilden. Zugleich verändert die biblische Tradition diesen Boden entscheidend: Es kommt zu einer Konzeption des Menschlichen, das von Gott selbst durchdrungen und vom bloßen „Funktionieren“ freigesetzt ist.

Der Grundimpuls gleicher Menschlichkeit geht bereits von der Genesis (1, 27) aus: „Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis. Als Mann und Frau schuf er sie.“ In der Zweigeschlechtlichkeit lässt sich El, der sonst Bildlose, sehen. Und dieser religiös ungewohnte Schritt unterstreicht das Götzenbilderverbot: keine Bilder Jahwes außer dem von ihm selbst gewollten - dem Menschen. Mann und Frau sind die Bildfreude Gottes. Beide Geschlechter sind mit der gemeinsamen Grundausstattung versehen, Abbild des Höchsten zu sein. Diese Erklärung „göttlicher“ Qualität beider Geschlechter hebt bereits das Judentum aus den umgebenden Religionen entscheidend heraus. So ist die Frau bereits im Judentum auch dem Geist zugeordnet; es gibt dort Richterinnen, politische Führerinnen, Prophetinnen, aber keine Tempelprostitution (welche die Frau als Sexualreiz zur „Überwältigung“ durch die Gottheit nutzt).

Obwohl die „Verwaltung des Heiligen“ eindeutig dem Mann übertragen ist, kann jeder und jede das Ohr Gottes erreichen, selbst an den Priestern und dem Kult vorbei. Gott ist unmittelbar zur Frau wie zum Mann, was im interreligiösen Vergleich ebenfalls außergewöhnlich ist.

Damit eröffnet sich ein unerhörtes Beziehungsgeflecht: Wir selber sind theomorph, Gott fraulich oder männlich nachgestaltet. In dieser merkwürdigen Erkenntnis hat besonders die Tatsache Raum, dass sich jeder Mensch als geschlechtliches Wesen erfährt. Und das bedeutet sofort, dass er sich selbst nicht genügt, nach dem Fehlenden unterwegs ist. Dieser Mangel ist so stark, der Drang zur Ganzheit so zwingend, dass er außerhalb des jüdisch-christlichen Denkens von einem Gott verkörpert und nur von einem Gott geheilt werden kann: von Eros. Platon zeigt im Symposion diesen Zwitter aus Armut und Überfülle in seiner merkwürdigen Entstehung. Warum sind wir nicht ganz? Warum gibt es den ganzen Menschen nur im mythischen Traum, in einem vor der Geschichte liegenden „Früher“? Der Kugelmensch bei Platon, der sich „früher“ selbst genügte, Adam im „Garten Eden“, der Eva noch in sich trug, bevor sie sich „dann“ von ihm trennte zu einem „Gegenüber“ – wäre das nicht eigentlich das eine Abbild des einen Gottes gewesen? Die Trennung der Kugel aber, die die Griechen als Unglück empfinden, wird in der Genesis als Glück gezeichnet: Zwei Menschen erhalten das Ebenbild des Einen aufgeprägt, zwei sollen fruchtbar sein, zwei sollen herrschen – Gaben, die aus der Doppel-Ebenbildlichkeit folgen. Genau gelesen ist der Mensch in seinem jeweiligen Geschlecht das Abbild des Einen. Anders gewendet: Die Genesis zeichnet Mann und Frau, gerade weil sie zwei sind, als von Gott kommend, mit seiner Verwandtschaft geschmückt, als Doppelansicht des Unsichtbaren.

Verdichtet wird eine solche außergewöhnliche Einsicht durch das Christentum. „Es ist nicht Grieche, nicht Jude, nicht Sklave, nicht Freier, nicht Mann, nicht Frau – alles seid ihr einer in Christus“ (Gal 3, 28). Dieser ungeheure paulinische Satz bildet für die gesamte Antike eine unerhörte Melodie: Die handgreifliche Welt der Unterschiede aller zu allen tritt zurück gegenüber der inneren „Einheit des Menschengeschlechtes in Christus“. Von keiner der alten Philosophenschulen sind solche Sätze auch nur annähernd ausgesprochen worden.

Sie stützen sich ausdrücklich auf die Worte und das Beispiel Jesu, welche die in sich aufsteigende Würde jedes Menschen gleich welchen Geschlechtes bestärkt haben. Die „Nonchalance“ Jesu im Umgang mit Frauen ist nicht diejenige eines besonderen „Frauenfreundes“ vielmehr gegründet auf seiner Forderung nach dem „Ohr, das hört“ – und dies kann jedem, unabhängig von Stand, Geschlecht, Ausbildung, Klasse zukommen. Als Gegenbeispiel: In der Lehre des historischen Buddha kommt der Frau nur ein niederer Rang in der Abfolge der Inkarnationen zu; sie muss auf jeden Fall als Mann wiedergeboren werden, um den Sprung aus dem Irdischen machen zu können.7 Ganz umgekehrt wird jedoch in der jüdisch-christlichen Grundlegung die Frau gerade in ihrer Personalität, d. h. in der Form des Geistigen und Verantwortlichen, präsent. Man könnte ausdrücklich von einer „Menschwerdung der Frau“ (übrigens auch von einer genauer aufzuweisenden „Menschwerdung des Mannes“) kraft der biblischen Überlieferung sprechen.

Denn nur aufgrund solcher wesentlich theologischer Einsichten erwächst das christliche Verständnis von Person = Selbstand = Freiheit = Selbstbesitz. Die späte Formulierung der Menschenrechte, die Parolen der Französischen Revolution, ja selbst die Forderungen der Frauenbewegung seit dem 19. Jahrhundert sind in dieser Weise nur innerhalb des christlich-europäischen Kulturraumes ausgesprochen worden; sie sind Blätter aus dem jüdisch-christlichen Buch, möglicherweise herausgerissen und zur Hälfte verfälscht, aber ihrem (häufig vergessenen) Ursprung eindeutig zuzuordnen.

Daher ist in der europäischen Geschichte die Verwiesenheit der Geschlechter in ihrer „natürlichen“ Zuordnung (wie oben dargestellt) immer wieder in Frage gestellt durch die grundsätzliche Erklärung der „göttlich“ verbürgten Gleichheit beider. So bildet sich seit der Urkirche der Stand der unabhängigen Frau heraus, die weder Mutter noch erotisches Gegenüber noch dem Manne unterstellt ist: etwa in der ersten geschichtlichen „Selbstorganisation“ von Frauen in den Orden. Diese positive Frauengeschichte in der Kirche ist leider im Bewusstsein der Frauen selbst fast vergessen; gegenwärtig ist vorrangig die „Kriminalgeschichte“ zu hören, zu deren Überwindung es neuer sachhaltiger Anstrengungen der Christinnen selbst bedarf.

Die heutige Anfrage an das Verhältnis von Frau und Mann in der Kirche bedarf eines Neuverständnisses der beiden Gegenpole: der polaren Asymmetrie und Zuordnung der Geschlechter einerseits, der „inneren“, religiös begründeten Gleichheit andererseits. Schwierig wird die Lösung deswegen, weil beides sein Recht hat. Vermutlich muss beides kultiviert werden, das heißt aus der Sphäre von Anklage und Rechtbehalten herausgenommen werden. Gleichheit und Unterschied auszubilden ist wohl nicht gleichzeitig möglich; es macht aber trotzdem auf die Länge der Geschichte die Aufgabe aus. Die Aufgabenfelder werden sich daher in rhythmischer Abfolge immer wieder verschieben und in ihrem Gewicht ablösen. Gegenwärtig steht – meiner Einschätzung nach – sogar eher das Aufgabenfeld des Unterschieds zwischen den Geschlechtern zur Kultivierung an (der „Egalitätsfeminismus“ ist im Grunde verblasst). Die Forderung nach dem „gleichen Amt“ in der Kirche sollte eher ein neues frauliches Profil in der Kirche herausarbeiten als das Amt nur einfachhin „übernehmen“.

Grundsätzlich: Die jüdisch-christliche Tradition hat in der Tat die Personalität von Frau wie Mann – gegen die handgreiflichen Unterschiede – herausgestellt. Auf diese „Ebengeburt“ der Geschlechter ist daher religiös erstrangig Wert zu legen, bei Anerkennung aller reizvollen Besonderung, die keinesfalls nivelliert werden sollte. Das kulturelle Bewahren dieser Besonderung bleibt dabei ebenso eine Aufgabe der Frau wie des Mannes, kann aber in unserem Kulturraum nur gelingen, wenn diese Ebengeburt als leitende Überzeugung erhalten bleibt.

Offenbar deuten die zwei sich nacheinander sehnenden, miteinander zu Leben und Herrschaft eingesetzten Menschen aber ebenso auf die Tatsache hin, dass kein einzelnes Individuum, sei es männlich oder weiblich, für sich allein zur Vollkommenheit gelangen kann. Erst aneinander werden sie ganz, und Ganzheit meint hier Geist, Seele, Leib – die leibliche Vereinigung ist das Siegel dieser umfassenden Ganzheit, wie die Genesis (2, 24) im zweiten Bericht fortfährt: „… und sie werden ein Fleisch“. Jesus erinnert an diese leibhafte Gemeinschaft und ihre Unauflöslichkeit – weil Ganzheit – mit denselben Worten (Mt 19, 3).

Der tiefste anthropologische wie theologische Gedanke, immer noch dem Schöpfungsbericht verdankt, ist wohl jener, dass die menschliche Liebesgemeinschaft von Mann und Frau eine Ahnung von der Liebesgemeinschaft in Gott selbst verleiht – ja, dass sich gerade an der Geschlechtlichkeit des Menschen, so geheimnisvoll sie für sich selbst schon ist, das eigentliche Geheimnis, nämlich das unerhörte, unvorstellbare schöpferische Füreinander und Ineinander des göttlichen Lebens ausdrückt. Dieser Gedanke ist im Apostolischen Schreiben Mulieris dignitatem vorrangig betont worden: „Diese ‘Einheit der zwei’ [...] weist darauf hin, dass zur Erschaffung des Menschen auch eine gewisse Ähnlichkeit mit der göttlichen Gemeinschaft (communio) gehört.“8

Anders: Die Geschlechtlichkeit von Mann und Frau lässt bereits die Wahrheit anschaulich werden, dass Gott in sich selbst Liebe ist (1 Jo 4, 16). Schon von der zweifachen Gestalt des Menschen her wäre klar, dass Gott nicht selbstgenügsam, schweigsam, verschlossen ist, vielmehr Hingabe, Gespräch, Beziehung – eben Liebe. Menschliche geschlechtliche Gemeinschaft als Abglanz der göttlichen Gemeinschaft – damit wäre der griechischen Trauer über die Zweiheit des Menschen eine unglaubliche Antwort gegeben: statt Trauer die Seligkeit, kraft der Trennung in Geschlechter Gottes innere Dynamik abzubilden. „Die eigenartige, anscheinend in bestimmten Entwicklungen zwangsläufige Vermischung von Religion und Sexualität hat vermutlich etwas zu tun mit der wirklichen Symbolhaftigkeit des Geschlechtes in Bezug auf das Göttliche. Weil echter Symbolcharakter da ist, echte Analogie, ist eben auch verkehrte, unreine Verwechslung und Vermischung möglich.“9

Und wie die menschliche Zweiheit auf Gottes Leben zurückweist, auf sein inneres „Spiel“ von Geben und Empfangen, Reichtum und Armut, Bedürfen und Stillen, Lieben und Sich-Lieben-Lassen, so gilt im vielfältigen Netz der Bezüge wiederum umgekehrt, dass Gottes Einssein auch unsere Zweiheit zu Einem fügt. Hildegard von Bingen (1098-1179) nennt Mann und Frau „ein Werk durch den anderen“ (opus operatum per alterum), das in Wirklichkeit ein einziges gemeinsames Werk vorstelle.10 Ob man sich also dem Menschen oder Gott von der Vielfalt oder der Einheit her annähert, immer wird die lebendige Spannung in dem Einen oder die Einheit, alle Spannung unterfangend, sichtbar. Und dies nicht als Schreibtisch-Gedanke, sondern als höchste Anstrengung einer jüdisch-christlichen Fassung von Geschlechtlichkeit.

Dass die Liebe die unterschiedenen Personen als Einheit erweist (nicht eins macht, sondern zeigt, dass sie eins sind) – dies ist der erregende Boden, auf dem gemeinsam Theologie und Anthropologie gründen. Dieser Boden ist umso kostbarer, als er in der langen Geschichte christlichen Denkens nicht immer, sogar eher selten mit Klarheit gesehen wurde und das alltägliche Leben der Geschlechter trug. Diese Wahrheit ist wenig lebensbestimmend: Wie tief in Ihm der Ursprung alles Lebendigen, alles Menschlichen, des Eros zwischen den Geschlechtern, ja der unbeschreiblichen Freude der Mutterschaft und Vaterschaft zu verehren ist. Deswegen ja auch die Fassung der Ehe als Sakrament: Gott als Weg von mir zu dir. Geschlechtlichkeit als Fenster und Durchsicht auf seine Gegenwart. Das letzte Konzil hat dankenswert die verschiedentlichen Ehezwecke umgestellt und die gegenseitige Liebe in die erste Bedeutung gehoben. Nach wie vor freilich ermangeln Alltag wie Lehre einer christlichen Erotik, die auf der Genesis (und der paulinischen und johanneischen Theologie) gründet, nicht modisch erfunden werden will, sondern als Schatz aus dem Acker gehoben gehört. Und wenn sich die christliche Erotik auf Gott selbst beruft, was würde dies für das ungewiss ferne Gottesbild bedeuten? Dass die Liebe zu einer Person und die Liebe zu Gott demselben Alphabet entsprechen. In dem nahen Du scheint das noch nähere/fernere auf.

4 Zum Horizont der Gegenwart: Von der Frauenbewegung zum Feminismus und Postfeminismus

4.1 Frauenbewegung

Seit dem Spätmittelalter, nämlich seit der Einbindung der unterschiedlichen Kulturen des griechischen und römischen vaterrechtlichen, des germanischen und slawischen teils mutterrechtlichen Raumes wird in Europa eine Frauenfrage wirksam. Tatsächlich fand nur in Europa eine Querelle des femmes11 statt - Frucht des jüdisch-christlichen Gleichheitsimpulses.

Diese vorwiegend biblisch argumentierende Linie wurde Mitte des 19. Jahrhunderts durch die erste Frauenbewegung, genauer durch die Arbeiterinnenbewegung, abgelöst. Themen waren zuerst gleicher Lohn für gleiche Arbeit, unmittelbar folgend aber gleiche Bildung und schließlich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gleiches aktives und passives Wahlrecht. Diese Ziele werden insbesondere auch von den christlichen Frauen durchgekämpft (Louise Otto-Peters, Hedwig Dransfeld, Helene Weber, Christine Teusch). Die Rechts- und Chancengleichheit ist mit der Revision des BGB heute – nominell – abgeschlossen.

4.2 Feminismus

Die zweite Phase der Frauenbewegung ist unter dem Stichwort Feminismus zu fassen. Er entwickelte im Unterschied zur Frauenbewegung vorrangig theoretische Konzepte, aus denen erst sekundär gesellschaftliche und politische Folgerungen gezogen wurden. Erst seit den 70er-Jahren in Deutschland als Begriff geläufig, ist er eine spezifisch moderne und mittlerweile postmoderne Ablösung bisheriger Anthropologie, die als zu androzentrisch gilt. Feminismus reflektiert die gesellschaftliche und individuelle Konstitution von Frausein mit der Tendenz, bisherige Festschreibungen zu befragen und zu weitgehend autonomen Selbstdefinitionen überzuleiten. Allerdings wird der Diskurs auch selbstkritisch-kontrovers geführt, so dass sachlich von „Feminismen“ zu sprechen ist.

4.2.1 Egalitätsfeminismus

Als „Gründerin“ der feministischen Theorie wird Simone de Beauvoir betrachtet mit ihrem Werk von 1949 Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau (dt. 1952). Darin verficht sie die These, die Frau sei eine Erfindung männlicher List zur Abwälzung unangenehmer Aufgaben. Zwei „Fallen" des Frauseins seien abzuschaffen: das Kind und der Bindungswille an den Mann; beide führten zu Verantwortung und dauerhafter Übernahme von Pflichten. Beauvoir verlangt daher eine Maskulinisierung der Frau im Sinne bindungsloser Selbstbestimmung. Dieser Egalitätsfeminismus („Frau muss Mann werden“) bestimmte die erste Diskursphase, wird aber von den feministischen „Enkelinnen“ wie etwa Luce Irigaray heute kritisiert, zumal nach Bekanntwerden von Beauvoirs eigener biographischer Unterwerfung unter Sartres sexuelle Forderungen.

4.2.2 Differenzfeminismus

Abgelöst wurde der Egalitätsfeminismus durch einen Differenzfeminismus in den 80er-Jahren. Eine theoretische Richtung wurde durch die Amerikanerin Carol Gilligan entwickelt12; sie hat einen kulturellen Feminismus oder die „Ethik der Fürsorge“ (Care Ethics) betont. (Kulturelle) Geschlechtsdifferenz wird dabei teilweise zustimmend gesehen und nach heutigen Kriterien erweitert: Geschichtlich und interkulturell hätten Frauen eine Alternative zur Ethik der analytischen Medizin entwickelt. „to care of“ bedeute eine kulturgeschichtlich wesentlich männlich geprägte Betreuung in objektiver Distanz unter dem Kriterium von „Gerechtigkeit“ (z. B. in der Verteilung der Mittel), während „to care for“ durch parteiliche Voreingenommenheit unter dem Kriterium der persönlichen Bedürfnisse (z. B. in Bevorteilung eines bestimmten Einzelfalls) bestimmt sei. Kulturgeschichtlich hätten Frauen die Ausprägung des zweiten Modells vollzogen („beneficence“ gegen „justice“) und damit ein Muster subjektiver und emotionaler Fürsorge für eine überschaubare Lebenswelt geschaffen. Diese kulturelle Leistung komme in der naturwissenschaftlich akzentuierten Lebenswelt durch Orientierung an Rationalität, Autonomie (von Arzt und Patient) und Gerechtigkeit zu kurz. Für Carol Gilligan ist die weibliche Fürsorge ein Musterfall geschlechtsdifferenter Kultur, die es zu wahren gelte.

Eine andere Spielart ist der esoterische Feminismus. Seit den 80er-Jahren wollen neue synkretistische Feminismen an die in der Kulturgeschichte angeblich verborgene „geheime Macht“ der Frauen/Mütter anknüpfen: in der Rekonstruktion von Matriarchaten, Mythologien, Hexenkult, Astrologie, Aktivierung des Unbewussten, positiver Leiberfahrung (bis zu wellness), die die Analogie von Leib und Kosmos aufgrund esoterischer Weisheitslehren herstellen will, aber auch durch neue Frauenliturgien und -feste. Frauen wird ein spezifisches Instinktwissen mit eigener „nicht-repressiver“ Moral unterstellt, in größerer Einheit mit der „Mutter Natur“ und allen Lebens- und Sterbensvorgängen, in Alternative zum „rational-spaltenden Verhalten“ des Mannes; diese Vorstellung bildet die Grundlage für eine stark gefühlsbesetzte „feministische Ökologie“.

Christlicher Feminismus positioniert sich im Rahmen des breiten Fragespektrums bisher entweder als feministische Theologie oder als interdisziplinäre Auseinandersetzung mit der konkreten Lebens- und Berufswelt von Frauen. Während die Theologie stärker auf die „Vermännlichung“ des Gottesbildes und die kulturgeschichtliche Unterordnung der Frau auch im jüdisch-christlichen Kontext (1 Kor, Eph 6; Amtsfrage) aufmerksam macht, versuchen neuere Impulse, gerade den Differenzfeminismus christlich zu begründen: in der Gottebenbildlichkeit beider Geschlechter, in der biblischen Personalisierung der Frau und in kirchengeschichtlich bedeutsamen weiblichen Biographien. Ziel ist die Rückgewinnung der männlichen und weiblichen Symbolik Gottes und die Sicherung einer als lebenswert und beziehungsreich erfahrenen Unterschiedenheit der Geschlechter (in Eros, Freundschaft und Elternschaft). Biblisch begründete Anthropologie sucht Gleichwertigkeit wie Anderssein der Geschlechter religiös transparent zu halten, um sie nicht auf „Rollenkonstrukte“ einzuengen.

Während der Egalitätsfeminismus die weitgehende oder völlige Aufhebung der Geschlechtergrenzen thematisiert, sucht der Differenzfeminismus die eigenverantwortliche Entfaltung der Vorgaben, auch der Leiblichkeit und der kulturellen Leistungen, zu thematisieren. An die Stelle des gegensatzbetonten Geschlechterdenkens tritt für beide Richtungen eine vernunftbetonte, sich selbst Gestalt und Ziel gebende Subjektivität, die für Frau wie Mann gleichermaßen einzuholen ist. Der Differenzfeminismus geht dabei allerdings von vorhandenen natürlichen oder kulturell gewachsenen Strukturen aus, die das „Anderssein“ der Frau zu einem „Eigensein“ weiterdenken lassen, während der Egalitätsfeminismus das Frausein überhaupt indifferent unterläuft.

Die religiöse Deutung des Frauseins geht einerseits in einen esoterischen Irrationalismus „heiliger Weiblichkeit“ ein, andererseits in eine sich ausdifferenzierende christliche Anthropologie und Ethik. Insgesamt erscheint die Frage noch nicht beantwortet, ob und wie Gleichwertigkeit und Differenz der Geschlechter theoretisch und lebensmäßig zu gestalten sind, ohne dass ein Geschlecht durchgängig dominant wird. Von daher wäre der christliche zweipolige Entwurf, der weder auf ein dominantes Frausein noch auf ein Androgyn noch auf ein Neutrum zielt, deutlicher ins Gespräch der Feminismen einzubeziehen; er gewänne dadurch seinerseits umgekehrt an Konkretion.

4.3 Postfeminismus

4.3.1 Leibferne Philosophie

In diese Situation hat sich eine neue Theorie eingefunden, die postfeministische Aufhebung von Frausein. Diese Theorie ist klar von einer philosophischen Tradition der Leibferne beeinflusst. Was den „klassisch“ gewordenen Entwurf von Beauvoir angeht, so ist er schon durch Regula Giuliani als „der übergangene Leib“ charakterisiert: „Der Leib wird […] zu einem trägen, der Materie verhafteten Körper, er wird zum bloßen Instrument und Werkzeug, das der Realisierung geistiger Entwürfe besser [mit männlichem Leib) oder weniger gut (mit weiblichem Leib) dienlich ist.“13 Menschsein als eigenständige Aufgabe, beschreibbar als „der Weg von mir zu mir“, wird jenseits von Leib und Geschlechtlichkeit angesiedelt, ja in einer neuen Art „Essentialismus“ betrieben.

Solcherart Leibferne ist nicht allein in der (männlich dominierten) Philosophiegeschichte, sondern bis zu zeitgenössischen Positionen des Dekonstruktivismus und philosophischen Feminismus auszumachen, die dem Denktypus der Postmoderne beizuordnen sind. Die Themenliste der Philosophie enthielt kaum das Thema Leib/Geschlechtlichkeit, was sich zeigt in der randständigen Bedeutung, die dem Leib philosophisch zugewiesen wurde. Diese historische Linie kann bis in die Gegenwart verfolgt werden als Aussparung, Unterordnung oder Reduktion des Leibes, wofür das neuzeitliche Körper-Paradigma von Descartes steht. Dieser Reduktionismus der Neuzeit bringt eine Quantifizierung und Mechanisierung der Welt, die gleichfalls zur Geometrisierung des Menschen führt.14

4.3.2 Die sex-gender-Debatte

Schon Sigmund Freud hatte die Differenz der Geschlechter bezweifelt: Wer den Schleier des Weiblichen lüfte, treffe auf das Nichts (des Unterschieds). Nach Simone de Beauvoir sind nur noch strukturelle Fragen zugelassen: „Wie wird man eine Frau?“, aber keine Wesensfragen mehr: „Was ist eine Frau?“

Seit den 90er-Jahren ist im Rahmen der feministischen Dekonstruktion neu, dass auch Sexualität nicht mehr gegeben, sondern konstruiert sei.

Als Wortführerin dieser Theorie kann Judith Butler15, Professorin für Rhetorik in Berkeley, gelten. Sie glaubt, einen Widerspruch in der bisherigen feministischen Argumentation zu erkennen: Auf der einen Seite sei das Geschlecht ein Ergebnis sozialer Determination (und somit auflöslich), auf der anderen Seite aber biologisch unhintergehbar determiniert (und somit unauflöslich). Der Widerspruch sei zu beheben: Es gebe überhaupt keinen „natürlichen“ Körper als solchen, der „vor“ der Sprache und Deutung der Kulturen liege. Körperliche Geschlechtsunterschiede seien allesamt sprachlich bearbeitet; radikalisiert bedeute es, dass der Unterschied zwischen sex und gender pure Interpretation sei. Schlicht ausgedrückt: Auch „Biologie“ sei Kultur. Um emanzipatorisch weiterzukommen, sei daher ein subjektives und offen pluralistisches Geschlecht zu „inszenieren“.

Bei Jane Flax liest sich dies konzentriert: „Die postmodernen Denker möchten alle essentialistischen Auffassungen des Menschen oder der Natur zerstören […]. Tatsächlich ist der Mensch ein gesellschaftliches, geschichtliches oder sprachliches Artefakt und kein noumenales oder transzendentales Wesen […]. Der Mensch ist für immer im Gewebe der fiktiven Bedeutung gefangen, in der Kette der Bezeichnungen, in der das Subjekt nur eine weitere Position in der Sprache darstellt.“16

Zum ersten Mal in der feministischen Diskussion sind also auch biologische Vorgaben als nicht definitiv angesehen und dem Rollenspiel unterstellt. Ontologie, auf der die klassische Geschlechteranthropologie fußt, sei selbst nur ein Konstrukt versteckter „phallogozentrischer“ Macht.

5 Europa morgen?

5.1 Kritik der leibfernen Gender-Theorie

Das in den letzten zwanzig Jahren explodierende interdisziplinäre Material zum „sozialen Geschlecht“ (= „Gender“) brachte eine Fülle radikaler Neuansichten nicht immer ausgereifter Art zu Tage. Diese Ansichten sind nicht einfach kurzschlüssig zu erfassen, als „progressiv“ gutzuheißen oder zu verwerfen. Sie können durchaus in die Geschichte des Körperbegriffs seit der Antike bis zur Neuzeit eingeordnet werden. Bereits darin zeigen sich nämlich ererbte, nicht unerhebliche Aussparungen des Gesamtphänomens „Leib“. Zumindest seit Descartes wurde der Körper eben nicht mehr als mein Leib, als Träger meiner Subjektivität verstanden. Das Christentum hatte demgegenüber durch die Aussage der „Fleischwerdung“ Gottes eine ganz andere Sicht auf den Leib eröffnet; diese wurde aber viel zu selten philosophisch angerissen17. Auch andere nicht-mechanische Leib-Begriffe der Tradition (nicht jeder Geist-Leib-Dualismus muss von vornherein leibfeindlich sein) müssen neu bedacht werden. Die heutige Pointe einer Selbsterstellung des eigenen Körpers zeigt jedenfalls, dass postmoderne destruktiv wirkende Thesen durchaus in einer männlich (!) geprägten Philosophie wurzeln und keineswegs einem kritischen Weiterdenken entzogen werden dürfen. Gerade das begrifflich scharfe Lesen der durchwegs komplizierten Autorinnen ist zugleich Ansatz für eine treffende Kritik. Beispiele liefern die Körper-Theorien von Simone de Beauvoir, Judith Butler und Donna Haraway, deren letztlich unterschwellige Widersprüche bei genauer Betrachtung aufscheinen. Bei allen dreien kommt es (ungewollt? jedenfalls unausgesprochen) zu einer Abwertung des weiblichen Leibes, sei es in seiner Vermännlichung (Maskulinisierung) bei Beauvoir, seiner Entwirklichung (Deontologisierung) bei Butler oder seiner entgrenzenden Technisierung (Denaturalisierung) bei Haraway.

Der Umgang mit der Gender-Theorie bedarf der Kenntnis der Argumentationsstränge von der alteuropäischen bis zur neuzeitlichen Philosophie; er bedarf eines hohen Problembewusstseins und der Fähigkeit, das komplexe Thema sicher durch seine verschiedenen Spielarten zu leiten, ohne den roten Faden zu verlieren und zu vereinfachen. Es ist zu beobachten, dass auch innerhalb der feministischen Diskussion die These bloß konstruierter Leiblichkeit nicht einfach geteilt wird. So hat Lyndal Roper entwickelt, der Leib (weiblich oder männlich) sei keineswegs nur diskursiv und sozial erstellt, sondern durch physische Kennzeichen bestimmt.18

Sofern Wirklichkeit nur über Rollenspiel – gleichgültig ob dekonstruiertes oder neu konstruiertes – erklärt wird, verlieren sich gültige Aussagen über Identität. Sofern auch der Körper nur Spielplatz beliebig wechselnder Bedeutungen sein soll, bedürfte es jeweils erst der Verhandlungen, in welchem Sprachspiel „der Körper“ zu behandeln sei. Auch wechselnde Eigenschaften bedürfen eines Trägers. Gegenüber dem variablen „Rollenspiel“ und der Auflösung des Ich in ein „Produkt männlicher Aufklärung“ ist der Begriff der Person neu und vertieft ins Auge zu fassen. Dieser Begriff der Person entstand ursprünglich durch Boethius im 6. Jahrhundert in Verarbeitung der christlichen Impulse. Er unterfängt die Geschlechtsdifferenzen, ohne sie aufzuheben: durch die gemeinsame Personalität.19

Was die These von der Umwandlung des Geschlechtes (psychisch oder physisch) in ein anderes Geschlecht betrifft, so ist dem entgegen zu halten, dass – abgesehen von organischen Missbildungen oder Zwitterbildungen – jede Person auch in ihrer „Hälftigkeit“, die das Geschlecht ausmacht, dennoch ein Ganzes ist. Die Person in ihrer geschlechtlichen und sonstigen Differenzierung stellt nicht nur einen schmalen Ausschnitt aus dem Ganzen an möglicher menschlicher Erfahrung vor, sondern in dieser ihrer Begrenztheit ist sie zur Wahrnehmung des Ganzen befähigt. Das ist der Grund, weswegen auch Jungfräulichkeit nicht als Mangel, sondern als Erfüllung gelebt werden kann.

Deutlich und unabweisbar ist die Notwendigkeit eines weitergehenden Nachdenkens über „Wirklichkeit“ als „gegeben“ und nicht bloß „(selbst)gemacht“. Mein Leib als „datum“ muss nicht erst ein „factum“ werden, um annehmbar zu sein. Solche Fragen betreffen nicht allein die Philosophie, sondern bereits eine Alltagskultur. Der „weibliche Eunuch“20 ist durchaus schon am Horizont.

Nur kritisches Weiterdenken im Sinne der vorgelegten Anregungen bringt Lösungen. Was können Christinnen dazu beitragen?

5.2 Christliches Weiterdenken: Anregungen durch Edith Stein

Die Husserl-Assistentin und zeitweilige Frauenrechtlerin Edith Stein (1891-1942) suchte sich der Frauenfrage in den 20er- und 30er-Jahren phänomenologisch zu nähern: nämlich im Eigenerleben das „Phänomen“ weiblicher Leiblichkeit aufzuschließen und sie als Ansatzstelle für Wesensaussagen zu nutzen. Steins Aussagen zur Frau sind umfassender21, als sie hier repräsentiert werden können. Doch sei – im fruchtbaren Gegenüber zur heutigen Gender-Debatte – absichtlich der Brennpunkt auf die natürliche Vorgabe, die Leibhaftigkeit des Frauseins, gelenkt.

Methodenleitend bedient sich Stein des alten scholastischen Satzes anima forma corporis: „Die Seele ist Form des Leibes“, was in der Umkehrung meint: Leib ist Träger und Ausdruck eines „Innen“. Um den Unterschied zum Mann wenigstens ansatzweise zu bestimmen, geht die Beobachtung also vom Leib zu Kriterien der weiblichen Seele und des weiblichen Geistes weiter. Selbstverständlich ist auch bei Stein dieser Unterschied nicht das Ganze. Abgesehen von der theologisch grundgelegten Personalität beider ist für Mann wie Frau im selben Maße die Gemeinsamkeit des Schöpfungsauftrages entscheidend: die Ebenbildlichkeit, die Gabe der Nachkommenschaft, die Beherrschung der Erde. Ebenso nähert die Erlösung Mann und Frau im Tiefsten einander wieder an.22 Dennoch bemüht sich Edith Stein in immer neuen Anläufen, über die leibliche Differenz auch eine „wesenhafte“ Unterscheidung der Geschlechter deutlich zu machen, um von dort aus die besondere Selbstwerdung der Frau besser ins Auge zu fassen.

Grundsätzlich geht sie von den naturhaften, gekoppelten Konstanten der Leiblichkeit aus, die zunächst am eindeutigsten das Frausein bestimmen: Empfängnisbereitschaft (auch zu lesen als Partnerschaft gegenüber dem Mann) und Mütterlichkeit (gegenüber dem Kind) als leibbedingte Fähigkeit der species Frau. Beide Qualitäten führen zu Aussagen über ein seelisches „Innen“. „Der primäre Beruf der Frau ist Erzeugung und Erziehung der Nachkommenschaft, der Mann ist ihr dafür als Beschützer gegeben. […] Bei der Frau [treten hervor] die Fähigkeiten, um Werdendes und Wachsendes zu bewahren, zu behüten und in der Entfaltung zu fördern: darum die Gabe, körperlich eng gebunden zu leben und in Ruhe Kräfte zu sammeln, andererseits Schmerzen zu ertragen, zu entbehren, sich anzupassen; seelisch die Einstellung auf das Konkrete, Individuelle und Persönliche, die Fähigkeit, es in seiner Eigenart zu erfassen und sich ihr anzupassen, das Verlangen, ihr zur Entfaltung zu verhelfen.“23 Anders und mündlich formuliert: „Als die weibliche Seelengestalt herausgestellt habe ich die Mütterlichkeit. Sie ist nicht an die leibliche Mutterschaft gebunden. Wir dürfen nicht von dieser Mütterlichkeit loskommen, wo immer wir stehen. Die Krankheit der Zeit ist darauf zurückzuführen, dass nicht mehr Mütterlichkeit da ist.“24

Von der leiblichen Vorgabe werden das Seelische, in einem weiteren Schritt das Geistige zunächst bestimmend durchformt. Im Seelischen kommt es „wesenhaft“ zur spezifischen „Einfühlung“: Begabung zur Gefährtenschaft mit dem Mann, bis in den künstlerischen und wissenschaftlichen Bereich hinein, Einfühlung in das Schwächere oder das anziehend Größere, daher eine hohe, vielgestaltige Einsatzfähigkeit, Hilfe zur Entfaltung fremden Lebens, Wahrung des Menschlichen gerade im gefährdeten, auch technisierten Bereich. In der Fähigkeit solchen „Gemütes“ liege die weibliche Grundkraft, sich an allem Menschlichen, besonders am Schönen, ebenso aber an der Wahrheit zu entzünden, nämlich an allem, „was aus einer jenseitigen Welt mit geheimnisvoller Macht und Anziehungskraft in dieses Leben hineinwirkt.“25 Hier liege auch der Grund für die rasche weibliche Begeisterung an allem Großen oder für groß Gehaltenen – eine Begeisterung, mit deren Gefährdung umzugehen eine verantwortliche weibliche Erziehung lehren müsse.26

Bei solchen Folgerungen fallen einige riskante Sätze, die selbst als zeitbedingt gelten müssen. Dies wohl auch ein Zeichen dafür, dass nicht aus einem einzigen (leiblichen) Prinzip, der Mütterlichkeit, bereits zu Weitgehendes geschlossen werden darf. Etwa eine These von 1932: „Wenn bahnbrechende Leistungen von Frauen verhältnismäßig selten sind und das in der weiblichen Natur begründet sein mag, so kann doch die Einfühlungs- und Anpassungsgabe der Frau sie in einem hohen Maße befähigen, am Schaffen anderer verstehend und anregend als Hilfsarbeiterin, Interpretin, Lehrerin Anteil zu haben.“27 Eine ähnlich ungesicherte Folgerung, rein aus der Leiblichkeit der Frau extrapoliert, lautet: „Der Leib der Frau ist dazu gebildet, mit einem anderen ‘ein Fleisch zu sein’ und neues Menschenleben in sich zu nähren. Dem entspricht es, dass die Seele der Frau darauf angelegt ist, einem Haupt untertan zu sein in dienstbereitem Gehorsam und zugleich seine feste Stütze zu sein, wie ein wohldisziplinierter Körper dem Geist, der ihn beseelt, gefügiges Werkzeug ist, aber auch eine Quelle der Kraft für ihn ist und ihm seine feste Stellung in der äußeren Welt gibt.“28

Hier ist Stein in eine leise Engführung des Gedankens geraten, die sie andernorts zu vermeiden strebt. Biologische Vorgaben werden mit historischen Entwicklungen (im heutigen Begriff: gender) vermischt und als Norm genommen – was vom Phänomen Frau her nicht gedeckt ist.

Der Versuch, die spezifisch weibliche Form von Geist darzustellen, gerät bemerkenswert schwierig. Stein sieht in ihm vorrangig das „Verlangen, Liebe zu geben und Liebe zu empfangen, und darin eine Sehnsucht, aus der Enge ihres tatsächlichen gegenwärtigen Daseins zu höherem Sein und Wirken emporgehoben zu werden“29. Der aktiv-passive Prozess dieser Geistigkeit besteht ebenso sehr im eigenen Reifen wie darin, „zugleich in den andern das Reifen zu ihrer Vollkommenheit anzuregen und zu fördern […] tiefstes weibliches Sehnen, das in den mannigfaltigsten Verkleidungen, auch Entstellungen und Entartungen, auftreten kann. Es entspricht […] der ewigen Bestimmung der Frau.“30

Dass diese Festlegungen Stein selbst zu allgemein erscheinen, geht daraus hervor, dass sie weit mehr künftige Forschungen durch Anthropologie und Psychologie fordert, mit denen sie nicht ausreichend vertraut war. Nicht unwichtig ist der Zug, dass es ihrer eigenen Disziplin, der Phänomenologie, letzten Endes schwerfällt, Mann und Frau tatsächlich in der „wesensmäßigen“ geistigen Charakteristik voneinander zu trennen. Was in der Leiblichkeit leicht erscheint, wird in der Erfassung der Seele schon weniger griffig, in der Bestimmung des Geistes eher künstlich.

Edith Stein hat den – wohl ihr selbst zu engen – Rahmen phänomenologischer Wesensbestimmung der Frau immer dort geöffnet, wo sie in die Geschichte von Frauen eindringt, oder auch dort, wo sie weit ausblickende Ansätze einer Bildungslehre für Frauen entwickelt. Dabei geht es um den Schritt von der Fremderziehung zur Selbstbildung. In der Regel betont Stein die Veränderung dieser (zu) allgemeinen Vorgaben: Jede Person hat in ihrer Eigenart jeweils neue, ihr selbst gemäße Ausprägungen des Vorgegebenen zu vollziehen, ja es ist die Kunst (und das drohende Misslingen), dies zu lernen. So findet Stein wohl die stärksten Sätze zur Eigenart der Frau, wenn sie das Frausein dem Menschlichen (Personalen, Freien, mit sich Identischen) nachordnet. Zu Ibsens Nora fällt die Bemerkung: „Sie weiß, dass sie erst ein Mensch werden muss, ehe sie es wieder versuchen könnte, Gattin und Mutter zu sein.“31 „Keine Frau ist ja nur Frau.“32 Geschichtlich sieht sie die Aufgabe der Personwerdung wahrgenommen durch die Erziehung von Frauen durch Frauen, wie es weitblickende, religiös motivierte Schulgründerinnen (Maria Ward, Angela Merici) unternahmen; aber auch durch die Anstrengungen der modernen liberalen Frauenbewegung seit dem 19. Jahrhundert. Dennoch bleibt für die Selbstbildung die Leiblichkeit, immer als „beseelter Leib“ verstanden, grundlegend: „Dass die menschliche Seele eingesenkt ist in einen körperlichen Leib […], das ist kein gleichgültiges Faktum. […] Der Leib ist als solcher charakterisiert und von dem puren materiellen Körper, der ihn mitkonstituiert, dadurch abgehoben, dass alle seine Zustände und alles, was ihm widerfährt, gespürt wird oder doch gespürt werden kann. Alles Leibliche hat eine Innenseite, wo Leib ist, ist auch ein inneres Leben. Er ist nicht etwa ein Körper, der empfindet, sondern gehört als Leib notwendig einem Subjekt zu, das mittels seiner empfindet, dessen äußere Gestaltung er darstellt und das mittels seiner in die äußere Welt gestellt ist und gestaltend einzugreifen vermag, das seine Zustände spürt.“33

„Keine Frau ist ja nur Frau“ – sie ist also auch Frau. Für die weitergehende Überlegung kommen wir sachlich nicht um den Spannungsbogen herum, den Stein (die die heute weiterentwickelte Fragestellung ja nicht kennt) grundsätzlich skizziert hat: die Zuordnung von Leib („Natur“) zum personalen Selbstentwurf („Ich“) und darin spiegelbildlich eingeschlossen die gesellschaftlichen Zuschreibungen („Kultur“). Wesentlich aber wird die Beziehung zum Woher und Wohin des Daseins, nämlich die – leider zu Unrecht meist feministisch ausgesparte – Frage nach dem schöpferischen göttlichen Ursprung des Daseins, Gott. Denn die Eigenart der Frau wird nach Stein besonders durch die biblischen Texte gestützt, worin sie das naturhafte Frausein dem Erlöst-Menschlichen (Personalen, Freien, mit sich Identischen) nachgeordnet sieht. „Menschsein ist das Grundlegende, Frausein das Sekundäre.“34 Es geht nicht um die gattungshafte, sondern um die personale Frau. Durch die Lebendigkeit des individuellen Geschaffenseins kommt in das Grundmuster die eigentliche Lebensspannung: Jede Frau kann und soll sich selbst wie den anderen das göttlich gewollte Unverwechselbare, Eigene zugestehen, ja darauf ausdrücklich die Anstrengung richten. Es ist Gott, der das eigene Profil seines Geschöpfes wünscht. Edith Stein hat eine bedeutende Sicht der menschlichen Freiheit entwickelt, nämlich „sich von Gott befreien zu lassen“. „Man müßte frei sein, um [von Ihm] befreit sein zu können.“35 Die Autonomie der Aufklärung führt nur zur Selbsthabe. Edith Stein denkt darüber hinaus an die Selbstgabe: an die Freiheit erfüllender Beziehung: „Am Du gewinnt sich das Ich“ (Martin Buber). „Wovon wir ausgehen müssen, ist die Natur, die gegeben ist als weiblich oder männlich. […] Je höher man aufsteigt zur Verähnlichung mit Christus, desto mehr werden Mann und Frau gleich (Regel des hl. Benedikt: Abt = Vater und Mutter). Damit ist die Beherrschung durch das Geschlecht vom Geistigen her aufgehoben.“36

6 Gleichwertigkeit und Asymmetrie

Die heutige Gender-Diskussion steht zweifellos vielen dieser Vorgaben ausgesprochen skeptisch gegenüber, insbesondere wo leibliche Vorgaben als Wesensbestand und normative Vorgabe angesetzt sind: vom Sein zum Sollen. Jedoch wird dieser Pol der weiblichen „Natur“ bei Stein durchaus geschichtlich und personal durchgespielt, und zwar in einer theologischen Gedankenführung: Natur selbst ist ja auch nicht einfach „heil“, sondern bedarf der göttlichen „Lösung“, der übernatürlichen Heilung im Zusammenspiel mit der eigenen Gestaltung. So wird Frausein aufgebaut durch die Spannungspole: Natur – Ich – Kultur – Gott. Unter heutigen postmodernen Konstrukten wird damit eine konkrete inhaltliche Vorgabe anstelle des bloß „virtuellen“ sprich luftleeren Selbstentwurfs der jeweiligen Frau eingeführt.

Edith Stein steht im übrigen auf dem Boden der besten Überlieferung des christlichen Gedankens: „Zuerst einigte Gott in sich uns mit uns selbst, indem er die Scheidung in Mann und Weib aufhob und uns aus Männern und Weibern, an denen diese Unterschiedenheit des Geschlechtes das Hervorstechendste ist, einfach und schlechthin zu Menschen machte, im wahren Sinne des Wortes, da wir ganz nach ihm geformt wurden, sein unentstelltes Ebenbild heil und unversehrt an uns tragend, an dem kein Zug von Vergänglichkeit und Verderbnis mehr sein kann; dann einigte er mit uns um unsertwillen die ganze Schöpfung, indem er durch das, was die Mitte einnimmt, die Extreme des Alls zusammenfasste, wie die Glieder eines Ganzen, das Er selbst ist, um sich herum Paradieseswelt und Menschenwelt miteinander untrennbar verwebend: So verband er Paradies und Erde, Erde und Himmel, Sichtbarkeit und Geisterwelt miteinander, da er Leib, Sinnlichkeit, Seele und Geist in sich vereinigte, ganz wie wir haben.“37

Daher lässt sich die These nochmals zuspitzen: Die gleiche Würde des Menschseins nimmt dem (dennoch bleibenden) Unterschied seine Schärfe, seine Macht der Zerstörung des anderen. Der Unterschied zwischen Frau und Mann ist dann nicht mehr einengend, zum ständigen Überholen und Niederwerfen des anderen zwingend. Im Gegenteil: Er bleibt gerade seiner fruchtbaren Asymmetrie wegen wichtig. Asymmetrie ist ein Gesetz des Lebendigen, und übrigens auch des Schönen. Ein vollkommener Kristall kann nicht wachsen, außer wenn er unregelmäßig ist. Alles, was lebendig ist, was der Entwicklung und reizvollen Antwort auf Neues fähig ist, besteht nicht aus symmetrischen Kräften, die einander genau die Waage halten. Es setzt sich vielmehr zusammen aus ungleichen Energien mit unterschiedlichem Antrieb und getrennten Aufgaben. Allerdings sind die Kräfte auf ein einheitliches Ziel hin zu versammeln, sonst brechen die Strebungen aus dem Lebendig-Ganzen aus. So sind die Geschlechter weiterhin einander asymmetrisch zugeordnet – und das macht den Reiz der Beziehung aus.

Zu modischer Breite angewachsen ist heute ein ideologisch unterfüttertes Ausweichen vor dem anderen Geschlecht, seiner Zumutung durch Anderssein. Männer flüchten sich zu Männern, Frauen zu Frauen. Homoerotik vermeidet jeweils die Zwei-Einheit aus Gegensatz, sie wünscht Zwei-Einheit aus Gleichem (allerdings nur quasi, weil ein Partner doch die „andere“ Rolle übernimmt). Könnte über alle Morallehren hinweg, die doch wenig greifen, die alte Genesis-Vision heute erneuert werden, dass sich in dem Einlassen auf das fremde Geschlecht eine göttliche Spannung, die Lebendigkeit des Andersseins und die Not(wendigkeit) asymmetrischer Gemeinschaft ausdrückt? Schöpferisches, erlaubtes Anderssein auf dem Boden gemeinsamer göttlicher Grundausstattung – mit dem Antlitz des Menschen nämlich: Das ist der Vorschlag des Christentums an alle Einebnungen, Dekonstruktionen, Neutralisierungen.

Referenzen

  1. Die evang.-lutherische Kirche schrumpfte auf 15% – 20% (in den Stammländern der Reformation!), die katholische Kirche (seit jeher Diaspora-Kirche, vor allem aus Schlesiern und Sudentendeutschen) bei „stabilen“ 4%.
  2. Grünbein D., Aus der Hauptstadt des Vergessens. Aufzeichnungen aus einem Solarium, FAZ, Bilder und Zeiten, 7. 3. 1998: „Los Angeles. Diese Stadt ist ein Frontalangriff auf das Gedächtnis. Ihr wucherndes Territorium, das die Urbanologen erschreckt und die Historiker zum Stottern bringt, ist ein Diagramm jener Amnesie, die am Jahrhundertende über den ganzen Globus fegt. Weniges überdauert die letzten fünf Jahre, den magischen Turnus der Investitionen und Auslöschungen. ‘History is five years old’, sagt eine kalifornische Redensart.“
  3. Vgl. Habermas J., Die postnationale Konstellation, Suhrkamp Verlag, Frankfurt (1989)
    Habermas J., Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Suhrkamp Verlag, Frankfurt (2001), S. 43
  4. von Braun C, Der Stroh-Mann. Zur Konstruktion moderner Männlichkeit, Rezension in der NZZ (Nr. 129 vom 7./8. 6. 1997, S. 53) von Mosse G. L., Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Fischer Verlag, Frankfurt (1997)
  5. Die französische Künstlerin Orlan (Pseudonym) hat in einer Computer-Überblendung berühmter Frauenporträts ein ideales Selbstporträt entwickelt, auf das hin sie sich, über Video dokumentiert, chirurgisch verändern lässt. Vgl. Per Messerschnitt zum Selbstbild, Schwäbisches Tagblatt vom 03. 02. 1997.
  6. Haraway D., Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature, Routledge Verlag, London (1991)
  7. Vgl. die Texte des Urbuddhismus bei Oldenberg H., Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde, Cotta Verlag, Stuttgart/Berlin (1921), Horner B. I., Women Under Primitive Buddhism, Amsterdam (1930), London (1975); und Paul D., Women in Buddhism, University of California Press, Berkeley (1985).
  8. Johannes Paul II., Mulieris Dignitatem, Absatz 7, 15. 08. 1988
  9. Johannes Paul II., Quelle beim Autor
  10. Hildegard von Bingen, Quelle beim Autor
  11. Als „Streit um die Frau“ wird eine ab 1400 erst in Frankreich, dann in Deutschland, Italien und anderen europäischen Ländern ausgetragene Frage bezeichnet, ob die Frau dem Mann über- oder unterlegen sei. Die erstaunlich zahlreichen, auch „feministischen“ Stellungnahmen sind heute noch lesenswert. Vgl. Gössmann E. (Hrsg.), Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung, 7 Bde., Iudicium Verlag, München (1985).
  12. Gilligan C., In a Different Voice, Harvard University Press, Harvard (1982)
  13. Giuliani R., Der übergangene Leib, in: Orth E. W., Lembeck K.-H., Phänomenologische Forschungen NF 2, Alber Verlag, Kiel (1997), S. 110
  14. Vgl. Gerl-Falkovitz H.-B., Einführung in die Philosophie der Renaissance, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt (1995)
  15. Butler J., Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, Routledge Verlag, London (1990), Dt.: Das Unbehagen der Geschlechter, Suhrkamp Verlag, Frankfurt (1991)
  16. Flax J., Thinking Fragments. Psychoanalysis, Feminism and Postmodernism in the Contemporary West, University of California Press, Berkeley (1990), S. 32 ff
  17. Eine beispielhafte mittelalterliche Vorgabe liefert etwa die „Leibfreundlichkeit“ einer Hildegard von Bingen.
  18. Roper L., Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt (1995)
  19. Grundlegend dazu die kompetente Darstellung des Personbegriffs bei Spaemann R., Personen. Versuche über den Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“, Reclam Verlag, Stuttgart (1996).
  20. Greer G., Der weibliche Eunuch, Fischer Taschenbuch-Verlag, Hamburg (1980)
  21. Vgl. Binggeli S., Einleitung, in: Edith Stein. Die Frau. Fragestellungen und Reflexionen, Herder Verlag, Freiburg (2000), ESGA (= Edith Stein Gesamtausgabe) 13, IX-XXI.
  22. Vgl. Kapitel V „Frau und Theologie: Eine theoretische Erhellung“, in: Gerl H.-B., Unerbittliches Licht. Edith Stein. Philosophie – Mystik – Leben, 3. Auflage, Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz (1999), S. 55-64.
  23. Stein E., Christliches Frauenleben (1932), II. Frauenbildung, in: Stein, Die Frau, ESGA 13, S. 90 f
  24. Stein E., Diskussion zum Vortrag „Grundlagen der Frauenbildung“ (1930), ESGA 13, S. 245
  25. Stein E., Christliches Frauenleben, II. Frauenbildung, ESGA 13, S. 92
  26. Ebd., I. Frauenseele, ESGA 13, S. 88
  27. Ebd., III. Frauenwirken, ESGA 13, S. 103
  28. Stein E., Grundlagen der Frauenbildung (1930). II. Natur und Bestimmung der Frau, ESGA 13, S. 34
  29. Stein E., Christliches Frauenleben. I. Frauenseele, ESGA 13, S. 85
  30. Ebd., S. 85
  31. Ebd., S. 83
  32. Stein E., Das Ethos der Frauenberufe (1930), ESGA 13, S. 22
  33. Stein E., Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik, in: Stein E., Welt und Person, Nauwelaerts Verlag, Louvain, Herder Verlag, Freiburg (1962), ESW (= Edith Stein Werke) VI, S. 172. Dieser höchst interessante Aufsatz wird künftig in ESGA 9 unter dem richtigen Titel veröffentlicht: „Natur, Freiheit, Gnade“. Er thematisiert weiterhin auch die Möglichkeit einer weitgehenden Leibfreiheit aufgrund seelischer Entfaltung in einen Innenbereich.
  34. Stein E., Diskussion zum Vortrag „Grundlagen der Frauenbildung“ (1930), ESGA 13, S. 246
  35. Stein E., Die ontische Struktur der Person, ESW VI, S. 139
  36. Stein E., Diskussion zum Vortrag „Grundlagen der Frauenbildung“, ESGA 13, S. 248 und 246
  37. Confessor M., All-Eins zu Christus, in: Ivanka E. (Hrsg.), Einsiedeln (1961), S. 52 f

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. DDr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Lehrstuhl für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaften, Technische Universität Dresden
gerl(at)rcs.urz.tu-dresden.de

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: