Therapiereduktion aus ethischer Sicht. Der besondere Fall der künstlichen Ernährung und Flüssigkeitszufuhr

Imago Hominis (2006); 13(4): 311-317
Enrique H. Prat

Zusammenfassung

Eine der schwierigsten Entscheidungen in der medizinischen Praxis ist zweifelsohne jene der Therapiereduktion, wenn das Lebensende zum Greifen nahe ist. Sie sind fachlich deshalb so schwierig, weil es in der Medizin schwer ist, mit Gewissheit vorauszusagen, dass eine Therapie, die oft geholfen hat, ab einem gewissen Stadium nicht mehr helfen wird. Die Entscheidung ist aber auch deshalb so schwierig, weil die Frage, um die es hier geht, oft ethisch falsch gestellt wird. Die Grenze zwischen dem, was zu tun ist, und dem, was nicht getan werden darf, läuft nicht entlang einer scharfen Trennlinie. Deswegen wird es keine Formel und keine eindeutige Regel für das zu Tuende geben, um uns aus unserer Verantwortung bei der Entscheidung zu entlassen. Es ist für den Arzt eine sehr ernste Gewissensentscheidung, weil hier das Überleben eines Menschen weitgehend von diesen Abwägungen abhängen wird. Diese Entscheidungen setzen eine hohe ethische Kompetenz voraus, d.h. eine Kultivierung des Gewissens. Diese ist gleichbedeutend mit der Pflege der Kardinaltugenden, an deren erster Stelle die Tugend der Klugheit steht.

Schlüsselwörter: Lebensende, Therapiereduktion, Ethik, Gewissen, Klugheit

Abstract

Reduction of therapy in the terminal phase of disease represents one of the most difficult tasks in medicine. One reason for this is the difficulty to predict wether an up to then effective therapy will still be effective or would be futile from now on. Another point is that the way of questioning of medical decisions in this stage is often ethically incorrect. There is no sharp border between what has to be done and what has to be omitted. Hence, no unequivocal rule can be formulated, which would lighten the burden of the physician´s responsibility. Such decisions in favour or against survival pose a serious matter of conscience on the physician and are dependent on a high level of ethical competency and – more precisely – on the cultivation of conscience. This, in turn, requires an effort to foster the cardinal virtues, whose leader is the virtue of prudence.

Keywords: reduction of therapy, end-of-life decisions, ethics, prudence


Eines der schwersten Probleme in der medizinischen Praxis ist zweifelsohne jenes der Therapiereduktion, wenn das Lebensende zum Greifen nahe ist. Es geht dabei natürlich nicht um den Verzicht auf Maßnahmen mit palliativer Wirkung, wie etwa schmerzlindernde Therapien, sondern nur um die Rücknahme jener anderen, die ihrer Natur nach darauf gerichtet sind, lebensverlängernde Wirkung zu haben.

Heilen, Lindern, Trösten sind die drei klassischen Zielsetzungen ärztlicher Kunst. Entscheidungen für den Tod sind keine ärztlichen Entscheidungen und dürfen auch keine werden. Deshalb kann und darf die Entscheidung über Therapiereduktion niemals zur Entscheidung für den Tod werden. Dies wäre ein Missbrauch des ärztlichen Könnens. Das Selbstbestimmungsrecht des Menschen umfasst nicht die Verfügung über sein Leben: Kein Mensch darf sich anmaßen, seine „Abberufung“ aus dem Dasein selber zu bestimmen, und viel weniger über das Ableben anderer zu entscheiden, ebenso wenig wie er das Ins-Dasein-Berufen-Werden in keiner Weise beeinflusst hat. Die Begründung dieser im ärztlichen Ethos schon immer enthaltenen Haltung ist aber nicht jetzt unser Thema.1

Es ist eine Tatsache, dass in Terminalsituationen oft ein „Tun“ vor einem „Nichts-tun“ bevorzugt wird: Ein Nichts-Tun wird als Eingeständnis von Ohnmacht gedeutet, während ein Tun immer noch Hoffnung signalisiert. Während das Tun keine besondere Rechtfertigung bedarf, solange es sich in jenem Spektrum der Handlungen bewegt, die lege artis gesetzt werden können, ist ein Nichts-Tun immer rechtfertigungsbedürftig: „Warum tun Sie nichts, Herr Doktor?“ Dies erklärt, warum mit der Therapiereduktion lange gezögert wird, vor allem so lange der Patient, seine Angehörigen und der behandelnde Arzt den nicht mehr abzuwendenden Tod nicht angenommen haben. Aber dieses Zögern darf keineswegs leichtfertig als eine oberflächige Unschlüssigkeit angesehen werden, sondern es ist viel mehr ein kluges und verantwortungsvolles Abwägen der Umstände einer verhängnisvollen Situation, die sich dem Betroffenen wie dem Arzt mit vielen Ungewissheiten und Fragezeichen erschließt.

Die Entscheidungen, um die es hier geht, sind fachlich deshalb so schwierig, weil es in der Medizin schwer ist, mit Gewissheit zu sagen, dass eine Therapie, die oft geholfen hat, ab einem gewissen Stadium nicht mehr helfen wird, und man auch nicht sicher sein kann, dass das, was drei oder vier Mal vergeblich versucht worden ist, beim fünften oder sechsten Mal nicht doch noch wirken würde. Die Parameter zur Bestimmung des „point of no return“ im Sterbeprozess sind meistens schwer erkennbar.

Die Entscheidungen über Therapiereduktion bei Terminalpatienten sind aber auch deshalb so schwierig, weil die Frage, um die es hier geht, häufig falsch gestellt wird. In der Literatur findet man nicht selten Beschreibungen von ärztlichen Handlungen, die darauf hinauslaufen, dass der Arzt über Leben und Tod entscheidet, z. B. dass er den Eintritt des Todes beschleunigt oder verzögert, oder dass seine Handlung eine Intention enthält, den Tod herbeizuführen.2 Meistens sind diese Handlungsbeschreibungen ethisch nicht korrekt.3 Damit ist nicht gemeint, dass auszuschließen ist, dass nicht auch ein Arzt leider die Intention haben kann, zu töten. Wenn er aber bei einem Patienten im Terminalstadium von weiteren „lebensverlängernden Maßnahmen“ absieht, weil diese seiner Meinung nach keinen Sinn4 mehr haben, entscheidet er sich keineswegs für den Tod des Patienten, sondern sieht ein, dass er den Sterbeprozess nicht wirksam unterbrechen und den Tod nicht mehr abwenden kann. Im Englischen gibt es für wirkungslose Handlungen den Terminus „futile“. Solche Handlungen zu setzen wäre „futility“, ein reiner Aktivismus, der schwer zu rechtfertigen ist.

Natürlich ist die Entscheidung zu Therapiereduktion für den Arzt und das Pflegepersonal belastend und sogar abschreckend, wenn sie den Eindruck gewinnen, damit ursächlich den Tod des Patienten herbeizuführen. Hier liegt das Problem darin, dass oft weder Arzt noch Pflegepersonal in die Sprache der Ethik ausreichend eingeübt sind, um die Handlung ethisch korrekt benennen zu können. Tatsache ist, dass ein kategorial ethischer Unterschied liegt zwischen einer Handlung, die den Tod eines anderen Menschen intendiert, und einer, die diesen Tod lediglich als mögliche Nebenfolge in Kauf nimmt. Erstere kann niemals gerechtfertigt werden, letztere kann aber unter Umständen zulässig sein. Beim Therapierückzug kann es mitunter um diese zweite Handlungsart gehen (z. B. wenn ein Morphinderivat den Eintritt des Todes zur Folge hat). Meistens ist aber der nicht mehr abwendbare Tod keine kausale Folge irgendeines ärztlichen Tuns oder Unterlassens, sondern nur ein mit dem Tun oder Unterlassen assoziiertes (zeitlich zusammenfallendes) Ereignis und nichts weiter.

Die Grenze zwischen dem, was zu tun ist, und dem, was getan werden darf, oder zwischen dem, was zu tun ist, und dem, was nicht getan werden darf, läuft nicht entlang einer scharfen Trennlinie. Deswegen wird es keine Formel und keine eindeutige Regel für das zu Tuende geben, um uns aus unserer Verantwortung bei der Entscheidung zu entlasten.

Eine ethisch vertretbare Therapiereduktion kann in der Regel nur aufgrund dreier Befunde erfolgen, für die nur der Arzt kompetent ist:
(a) Der Krankheitsprozess ist weit fortgeschritten.
(b) Es existiert keine erprobte therapeutische Maßnahme, die noch eine wissenschaftlich halbwegs gesicherte Aussicht auf Erfolg hat.
(c) Es sind unerwünschte (gefährliche) Nebenwirkungen zu erwarten.

Die Abwägung dieser drei Befunde erfolgt vor dem Hintergrund der Verpflichtung des Arztes, das Leben zu schützen und zu erhalten. Daraus resultiert ein Urteil der Vernunft, das deshalb eine Gewissensentscheidung ist, weil es nur im Gewissen gefällt werden kann.5 Es ist also für den Arzt eine sehr ernste Gewissensentscheidung, weil hier das Überleben eines Menschen weitgehend von diesen Abwägungen abhängen wird. Zur Erstellung dieses Urteiles muss er sein medizinisches Wissen, sein allgemeines und berufliches Ethos und sein partikuläres Wissen über den Patienten ins Spiel bringen. Dieses Urteil wird auch als Klugheitsentscheidung bezeichnet, weil die Klugheit jene Tugend ist, die für Richtigkeit des Urteils der praktischen Vernunft maßgeblich ist.6

Klugheitsentscheidungen sind nicht emotional („aus dem Bauch heraus“) oder rein intuitiv, sondern die gewissenhaftesten aller Entscheidungen. Wie Thomas v. Aquin ausgearbeitet hat7, wird die richtige kluge Entscheidung in drei Akten getroffen und setzt weitere acht Elementartugenden voraus.

Die der Akte der Klugheit sind:

  • Beratung (consilium)
  • Urteil (iudicium)
  • Befehl (imperium)

Die Klugheit verlangt, dass man sich mit einer Sachlage ernsthaft beschäftigt, die Probleme in allen ihren Aspekten beleuchtet und studiert und gegebenenfalls um Rat fragt, weil in den meisten komplexen Fragen nicht jeder ein Experte sein kann. Auch wenn man ein Ziel hat, darf man erst handeln, wenn man sich von der Realität ein richtiges Bild gemacht hat. Die Beratung wird so zur Erkenntnis dessen führen (Urteil), was zu tun ist und welche Mittel dafür eingesetzt werden sollen.

Zusammen mit diesen drei Akten werden folgende Elementartugenden eingesetzt: Erfahrung, Wissenseinsicht, Lernfähigkeit, Sachlichkeit, Vernunft, Voraussicht, Umsicht, Vorsicht8. Diese acht Elemente der Beratung führen zum Urteil der praktischen Vernunft, das auch eine Anleitung (einen Befehl) über das, was zu tun ist, beinhaltet. Die ethische Kompetenz hat für den Arzt immer einen hohen Stellenwert gehabt. Kein anderer Berufsstand hat sich seit der Antike so intensiv mit seinem eigenen Ethos beschäftigt. Für den Arzt war schon immer die Kultivierung des Gewissens neben der ständigen Kultivierung des Wissens und Könnens ein ernstes Anliegen. Die ethischen Anforderungen an den ärztlichen Beruf sind in der modernen Medizin nicht kleiner, sondern größer geworden. Die Entscheidungen, die hier angesprochen werden, setzen eine hohe ethische Kompetenz voraus, d. h. eine Kultivierung des Gewissens. Diese ist gleichbedeutend mit der Pflege der Kardinaltugenden, an deren erster Stelle die Tugend der Klugheit steht.9

Natürlich können Leitlinien, Regeln und Maximen eine Unterstützung für diese Entscheidungen sein. Vor einiger Zeit habe ich 10 grundlegende Maximen für die Entscheidung der Therapiereduktion aufgestellt und versucht, sie zu begründen10. Diese Maximen können die Klugheitsentscheidung, d. h. die Abwägung der verschiedenen Faktoren erleichtern, aber nicht ersetzen. Eine ethische Entscheidung, d. h. eine Entscheidung über das richtige Verhalten in einer ganz konkreten Situation, kann niemals ohne eine Abwägung der spezifischen Umstände der Situation erfolgen, aus welchen sich ableiten lässt, in welchem Ausmaß eine Regel oder eine Maxime anwendbar ist, bzw. welche andere Regel oder Maxime zur Anwendung kommen soll.

Zum besonderen Fall der Reduktion von bzw. des Verzichtes auf Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr

In der medizinischen Ethik gilt als kontroversiell, wie weit die Verpflichtung der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr bei Terminalpatienten gehen darf, und ob diesbezüglich eine Unterscheidung zwischen natürlicher und künstlicher Ernährung und Flüssigkeitszufuhr gerechtfertigt ist.11

2004 hat Johannes Paul II. in einer Rede an die Teilnehmer eines neurologischen Fachkongresses dazu Stellung genommen. Seine Aussage hat im ärztlichen Kreisen Unbehagen und Verwunderung hervorgerufen12:

„Insbesondere möchte ich unterstreichen, dass die Verabreichung von Wasser und Nahrung, auch wenn sie auf künstlichen Wegen geschieht, immer ein natürliches Mittel der Lebenserhaltung und keine medizinische Handlung ist. Ihre Anwendung ist deshalb prinzipiell als normal und angemessen und damit als moralisch verpflichtend zu betrachten, in dem Maß, in dem und bis zu dem sie ihre eigene Zielsetzung erreicht, die im vorliegenden Fall darin besteht, dem Patienten Ernährung und Linderung der Leiden zu verschaffen.“13

Prinzipiell können weder katholische noch nicht-katholische Ärzte nachvollziehen, dass die künstliche Ernährung „keine medizinische Handlung“ sei. Wenn aber die päpstliche Aussage als eine Absage zur Möglichkeit des Rückzuges oder des Verzichtes auf künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr gedeutet würde (wobei der Hl. Vater wohl mehr den „vegetativen Zustand“ im Blick hatte), dann würde dies aber auch heißen, dass es katholische Lehre wäre, dass der ausdrückliche Verzicht eines Patienten (mündlich oder aufgrund einer schriftlichen Vorausverfügung) gleichbedeutend mit Selbstmord wäre. Kann also diese Deutung stimmen?

Um dem Gewicht dieser Frage gerecht zu werden, ist eine genauere Analyse notwendig.

Nehmen wir den ersten Teil der Aussage: Insbesondere möchte ich unterstreichen, dass die Verabreichung von Wasser und Nahrung, auch wenn sie auf künstlichen Wegen geschieht, immer ein natürliches Mittel der Lebenserhaltung und keine medizinische Handlung ist.

Besteht hier nicht ein Widerspruch zwischen dem „natürlichen Mittel der Lebenserhaltung“ und den „künstlichen Wegen“ der Verabreichung? Kann etwas gleichzeitig „künstlich“ und auch „natürlich“ sein? Tatsächlich ist der Widerspruch auflösbar, wenn man zwischen dem „Was“ und dem „Wie“ der Handlung, d. h. zwischen „was“ man tut und der Art, „wie“ man es tut (d. i. zwischen dem eigentlichen Gegenstand der Handlung und dem Ausführungsmodus), unterscheidet.

Zum Gegenstand der Ernährungshandlung: Es gehört zur Natur des Menschen sich zu ernähren bzw. die Nahrung zu suchen und diese zu sich zu nehmen. Aus dem Wohlbefindlichkeitstrieb und aus dem Selbsterhaltungstrieb sucht der Mensch von Natur aus Nahrung und Flüssigkeit. Hunger und Durst sind natürliche Regungen des Menschen, die ein vorvernünftiges, natürliches Verlangen nach der für sein Überleben und sein Wohlbefinden notwendigen Nahrung und Flüssigkeit entstehen lassen. Ernährung ist also nicht nur an sich eine natürliche Tätigkeit oder daseinsbedingte Funktion, sondern eine Funktion, die als Vorbedingung anzusehen ist, damit sich der Mensch als Mensch auch entfalte. Das heißt, die Ernährung entspricht auch der Natur des Menschen als vernünftigem Wesen. Es besteht daher die moralische Verpflichtung, sich zu ernähren oder ernähren zu lassen, bzw. eines Dritten, der zu ernähren ist, weil er sich selbst nicht ernähren kann (z. B. ein Säugling). Der Mensch braucht Nahrung von Natur aus, unabhängig von der Art und Weise wie die Nahrung verabreicht wird. Mit einem Wort, die Handlung des sich Ernährens ist eine natürliche, weil der Mensch ein vernünftiges und gleichzeitig natürliches Verlangen zu essen und zu trinken hat. Es gehört daher zur Natur des Menschen sich zu ernähren und zu trinken.

Zum Ausführungsmodus der Ernährung: Die Ernährungshandlung erfolgt in drei Etappen: die Nahrungszubereitung, die Nahrungsaufnahme und die Nahrungsverwertung. Tabelle I zeigt verschiedene Gestaltungsmodi in den drei Etappen. Die Ernährung kann auf drei verschiedene Arten erfolgen: natürlich (1.1., 2.1.1., 2.1.2., 3.1.) oder künstlich (1.2., 2.1.3., 2.2.1., 2.2.2. und 3.2.), wobei man in der Medizin von künstlicher Ernährung nur ab 2.2.1. spricht, nicht aber bei 1.2. und 2.1.3. Damit wird deutlich, dass die medizinisch unterstützte Ernährung nicht die einzige ist, die als künstlich zu bezeichnen ist. Es gibt also auch einen natürlichen Ernährungsmodus, der künstlich (z. B. die adaptierte Form der Nahrungsaufnahme durch entsprechende Zubereitung), ja sogar medizinisch gestützt sein kann und sich dennoch grundsätzlich von der künstlichen Ernährung im strengen medizinischen Sinn unterscheidet.

Bei der natürlich eingenommenen oder verabreichten Nahrung muss hinsichtlich der Naturhaftigkeit zwischen „was“ und „wie“ nicht unterschieden werden. Eine biologische Funktion, die in der Natur des Menschen liegt, wird mit natürlichen Mitteln vollzogen.

Bei der künstlich verabreichten Flüssigkeit und Nahrung wird eine Grundfunktion des Menschen technisch unterstützt. Bei der medizinisch unterstützten Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr setzt die Handlung des Ernährens grundsätzlich zwei medizinische Handlungen voraus. Die erste ist die Einsetzung des künstlichen Ernährungsinstrumentes (nasogastrale Sonde, PEG- Sonde und dgl.), die zweite besteht in der laufenden Beobachtung (Monitoring) des Patienten, damit die Dosisanpassung von Kalorien und Flüssigkeit für den jeweiligen Zustand erfolgen kann. Es steht außer Frage, dass die Verabreichung von Nahrung und Flüssigkeit durchaus auch von einem Nichtmediziner, z. B. einer Pflegeperson, ja sogar von einem entsprechend eingeschulten Verwandten des Patienten erledigt werden kann, auch wenn die Indikationsstellung und das Monitoring als rein ärztliche Handlungen zu verstehen sind. Diese ärztlichen Interventionen bilden nachgerade einen integrierenden Bestandteil der gesamten Ernährungshandlung. Die Unterscheidung zwischen Gegenstand und Modus und die Auflistung von Modi zeigen also auch, dass eine medizinisch unterstützte Ernährung nicht auf eine rein medizinische Handlung reduziert werden kann, und dass durch die Künstlichkeit der Aufnahme bei der Ernährung des Menschen nicht das Naturhafte verloren geht. Der Bedarf an Nahrung und die Verwertung sind naturhafte Funktionen, die technisch unterstützt werden können, ebenso wie die Sinne des Gehörs oder des Sehens, die auch dann naturhafte Funktionen bleiben, wenn sie durch Hörgeräte oder Brillen medizinisch unterstützt werden.

Die erste Aussage des Hl. Vaters will also unterstreichen, dass Ernährung eine prinzipiell naturhafte Tätigkeit ist, und zwar unabhängig von einer allfälligen medizinischen Unterstützung. Die obige Argumentation hat gezeigt, dass diese Aussage nicht widersprüchlich, sondern durchaus nachvollziehbar ist und klar machen will, dass die Künstlichkeit des Ernährungsmodus keine besondere ethische Relevanz besitzt.

Der zweite Teil der Aussage zeigt die Grenzen der moralischen Verpflichtung, jemandem Flüssigkeit oder Nahrung zuzuführen:

„Ihre Anwendung ist deshalb prinzipiell als normal und angemessen und damit als moralisch verpflichtend zu betrachten, in dem Maß, in dem und bis zu dem sie ihre eigene Zielsetzung erreicht, die im vorliegenden Fall darin besteht, dem Patienten Ernährung und Linderung der Leiden zu verschaffen“.

Es geht aber dabei um jede Handlung der Einnahme oder Verabreichung von Nahrung und Flüssigkeit und nicht nur die künstlich unterstützte Nahrungsverabreichung. Sie sollen prinzipiell geboten sein. Wirft das Fragen auf? Sich der Ernährung zu verweigern, wäre im Normalfall eine Handlung der Selbsttötung, und jemandem, der sich selbst nicht ernähern kann (z. B. einem Säugling), die Nahrung zu verweigern, wäre prinzipiell eine Tötungshandlung. Die Botschaft des päpstlichen Textes ist, dass die Aufnahme bzw. Verabreichung von Nahrung oder Flüssigkeit nicht mehr geboten sind, wenn sie beim konkreten Patienten weder zur Ernährung noch zur Linderung beitragen. Dann macht wieder die Unterscheidung in „künstlich“ oder „natürlich“ wenig aus. Damit wird auch irrelevant, ob es sich im medizinischen Sinn um künstliche Ernährung handelt oder nicht.

Medizinisch gesehen gibt es am Ende des Lebens so manche Situationen, in denen Ernährung und Flüssigkeitszufuhr ihren Sinn verloren haben. So ist die Nahrungszufuhr begrenzt sinnvoll, wenn der Abbau von Gewebe (Katabolismus) gegenüber dem Aufbau (Anabolismus) überwiegt. Eine Intensivierung der Ernährung würde wegen der gestörten Resorption und/oder Proteinsynthese nichts bringen, wie dies z. B. bei der Tumorkachexie und anderen konsumierenden Erkrankungen wie kardiorespiratorische Kachexie, Multiorganversagen und Polyneuropathie gefunden wird.

Die ärztliche Lehre und Praxis zeigt, dass diese Situationen am Ende des Lebens gar nicht so selten sind, in denen die Nahrung und Flüssigkeit ihre eigene Zielsetzung nicht mehr erreicht. So schreibt Waldhäusl: „Versuchen wir, die Situation eines solchen alltäglichen Schicksals zu verstehen, tritt die Frage, ob und in welchem Ausmaß es unsere Pflicht ist, sich in den natürlichen Prozess des Sterbens einzumischen, deutlich hervor. Klar erkennbar wird aber auch der natürliche Sterbeprozess. Hier verweigert der Mensch in der letzten Phase des Lebens die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme. Die damit verbundene langsame Austrocknung der Zellen wirkt betäubend, das Leben verlischt in einer Agonie. Der Prozess des natürlichen Sterbens schreitet somit unter dem Einfluss des Flüssigkeitsmangels, der die Wahrnehmung trübt und eine natürliche Anästhesie bedingt, langsam voran. Bei zu unrecht so genannten „primitiven“ indigenen Gesellschaften, wie z. B. den Aymara-Indianern in Bolivien, bittet der Sterbende, so der Tod langsam kommt, unter Umständen um Hilfe. Diese besteht im Verzicht, Speise und Trank aufzudrängen, während die Familie Totenwache hält, bis der Patient das Bewusstsein verliert und stirbt.14 Hier akzeptieren der Sterbende und die Familie den Tod und erleben ihn gemeinsam, menschenwürdig; nicht jedoch einsam und steril in einem Krankenzimmer einer unserer Institutionen ohne Kontakt zu Familie und Freunden“15. Wenn der entscheidungsfähige Patient sein Sterben bewusst annimmt und in der Nähe des Todes sich weigert zu essen und zu trinken, weil diese Nahrungsaufnahme nicht mehr ihre eigene Zielsetzung erreicht, handelt er sicher richtig. Schwieriger ist diese Frage, wenn der Patient nicht mehr selbst entscheiden kann. Dann sind wir zu den oben erwähnten Klugheitsentscheidungen herausgefordert. Und nur der Arzt kann dann entscheiden, ob der Punkt gekommen ist, wo Nahrung und Flüssigkeit ihre Zielsetzung nicht mehr erreichen, so dass auf sie verzichtet werden kann.

Herrn Prof. Bonelli und Herrn Prof. Kummer verdanke ich zahlreiche Anregungen bezüglich medizinischer Aspekte dieser Thematik.

Referenzen

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    Deliens L., End-of-life decisions in medical practice in Flanders, Belgium: a nationwide survey, Lancet (2005); 356: 1806-1811
  3. Vgl. dazu Valentin A., Therapiebegrenzung oder -abbruch: Das Prinzip des „primum nihil nocere“, Wr Klin Wschr (2006); 118: 309-311
  4. Hüntelmann R., Philosophische Anmerkungen zur Intentionalität menschlichen Verhaltens, Imago Hominis (1999); 6: 43-52
    Prat E. H., Die Verhältnismäßigkeit als Kriterium für die Entscheidung über einen Behandlungsabbruch, Imago Hominis (1999); 6: 11-31
  5. Prat E. H., Die Verhältnismäßigkeit als Kriterium für die Entscheidung über einen Behandlungsabbruch, Imago Hominis (1999); 6: 15-19
  6. Aristoteles, Nikomachische Ethik IV, 1144b u. ff
  7. v. Aquin T., Summa Theologiae II-II, q. 47, a. 8
  8. v. Aquin T., Summa Theologiae II-II, q. 49
  9. Prat E. H., Kardinaltugenden und Kultivierung des Gewissens, Imago Hominis (2001); 8: 265-274
    Auner N., Tugend der Klugheit und ärztliche Praxis, Imago Hominis (2001); 8: 275-281
    Klötzl R., Die Tugend der Gerechtigkeit, Imago Hominis (2001); 8: 215-220
    Jahn O., Tapferkeit als ärztliche Tugend, Imago Hominis (2001); 8: 291-295
    Kummer F., Temperantia – Tugend des Maßhaltens, Imago Hominis (2001); 8: 297-302
    Prat E. H., Qualitätssicherung und Tugenden im Gesundheitswesen, Imago Hominis (2000); 7: 205-208
  10. Prat E. H., Die Verhältnismäßigkeit als Kriterium für die Entscheidung über einen Behandlungsabbruch, Imago Hominis (1999); 6: 28-30
  11. Auf das apallische Syndrom wurde hier nicht eingegangen, weil dieser Zustand nicht im Fokus dieses Heftes steht. Jedoch gilt die hier vorgelegte Argumentation auch für das apallische Syndrom, wenn sich eine weitere, lebensbedrohliche Erkrankung hinzugesellt.
  12. Schannon T. A., Walter J. J., Implications of the Papal Allocution on Feeding Tubes, Hastings Center Report (2004); 34(4): 18-20
  13. Ansprache von Johannes Paul II. am 20. März 2004, Ein Mensch ist und bleibt immer ein Mensch, Audienz für die Teilnehmer am Internationalen Fachkongress zum Thema „Lebenserhaltende Behandlung und vegetativer Zustand: Wissenschaftliche Fortschritte und ethische Dilemmata“ Deutsche Wochenausgabe des L’Osservatore Romano, 9. April 2004
  14. Ritz R., Medizinische Betrachtungen zur Definition des Todes, Wr Klin Wschr (1999); 111: 121-125
  15. Waldhäusl W., Natürliches Sterben, künstliche Lebensverlängerung und Euthanasie, in: Bonelli J., Prat E. H. (Hrsg.), Leben – Sterben – Euthanasie?, Springer Verlag, Wien (2000), S. 118 (S. 113-123)

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. Enrique H. Prat, IMABE-Institut
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