Therapierückzug, Therapieverzicht bei schweren zerebrovaskulären Erkrankungen (Ischämie, Blutung)

Imago Hominis (2006); 13(4): 289-293
Bernhard Voller und Eduard Auff

Zusammenfassung

Bei schweren neurologischen Erkrankungen bleibt trotz zahlreicher technisch apparativer Möglichkeiten die wiederholte klinisch-neurologische Untersuchung die zuverlässigste Informationsquelle in Bezug auf die Prognoseerstellung. Über Grenzen des medizinischen Aufwandes muss spätestens dann nachgedacht werden, wenn zum Zeitpunkt der Intensivbehandlung eine neu aufgetretene, schwerwiegende neurologische Komplikation eine ungünstige Entwicklung wahrscheinlich macht. Zumindest beim schweren Schlaganfall liegen einige wenige Stellungnahmen zur frühzeitigen Ernährung und zum Therapierückzug vor.

Schlüsselwörter: Prognose, Therapierückzug, Palliation, Schlaganfall, enterale Ernährung

Abstract

Although many new techniques (e.g. functional neuroimaging) have been developed to improve both diagnostic and prognostic accuracy in patients with serious neurological conditions, repeated clinical assessment by a trained neurologist remains best practice. Occurrence of a severe neurological complication during intensive care inevitably leads to consideration of withholding treatment. At least in severe stroke a few statements exist about the use of measures to employ early tube feeding or to even limit care in some other patients.

Keywords: prognosis, withholding treatment, palliative therapy, stroke, tube feeding


Allgemeines zum Therapierückzug bei schweren neurologischen Erkrankungen

Neurologische Diagnose und Prognoseerstellung

Bei schweren neurologischen Erkrankungen, die einer intensivmedizinischen Behandlung bedürfen, ist für die Angehörigen wegen der oft fehlenden äußeren, körperlichen Zeichen die Tragweite der Schädigung des Nervensystems oft schwieriger zu erfassen als bei anderen Erkrankungen.1 Beispiele, die beim medizinischen Laien besondere Verwirrung hervorrufen, sind klinische Zustandsbilder wie Hirntod, Koma und komaähnliche Syndrome, wie apallisches Syndrom („Wachkoma“) und Locked-in-Syndrom. Selbst Mediziner sind bei der diagnostischen Zuordnung oft überfordert.

Das hohe Vertrauen in die moderne Medizin, die Klarheit und Einfachheit in der Diagnosestellung in vielen nicht neurologischen Disziplinen lassen irrtümlicher Weise auch die gleiche Einfachheit der Diagnosestellung bei Patienten mit Bewusstseinsstörungen erwarten. Zusätzlich werden durch zahlreiche populärwissenschaftliche Beiträge, mit besonders ansprechenden Bildern über funktionelle Vorgänge im Gehirn, auch unbegrenzte Möglichkeiten in der Diagnostik und Therapie bei Patienten mit Bewusstseinsstörungen suggeriert. Gerade das Gegenteil ist jedoch der Fall. Aufgrund der Komplexität des Gegenstands ist die Diagnose in der Neurologie weniger weit entwickelt als in vielen anderen Gebieten in der Medizin.2 Familienangehörige, die nun Entscheidungen für einen schwer neurologisch erkrankten Patienten treffen sollen, der sein Selbstbestimmungsrecht nicht wahrnehmen kann, erwarten sich jedoch die diagnostische Klarheit, die sie von anderen Disziplinen gewöhnt sind. Sie erwarten Präzision, welche das Behandlungsteam in solchen Fällen selten bieten kann. Ein dem Auge des Laien vorgehaltenes MRT-Bild kann daher z. B. die Erwartungen der Angehörigen in völlig falscher Weise erfüllen.

Aus dem bisherigen Stand des Wissens ergibt sich auch, dass trotz der technischen Möglichkeiten, vor allem die wiederholte klinisch-neurologische Untersuchung durch den erfahrenen Neurologen als die zuverlässigste Informationsquelle übrig bleibt. Ergebnisse aus der apparativen Zusatzdiagnostik können jedoch die Ergebnisse aus der klinischen Untersuchung stützen. Die Unsicherheiten in der Diagnosestellung, die nach wie vor bestehen, führen unweigerlich auch zu Unsicherheiten in der Prognoseerstellung. Die Prognose ist jedoch wiederum ein bestimmender Faktor für den weiteren Behandlungsplan.

Grenzen des medizinischen Aufwandes

In der Notfallmedizin hat das Prinzip der Lebensbewahrung Vorrang. In den ersten Stunden bis Tagen einer schweren neurologischen Erkrankung, die der Patient zumeist an der Intensivstation verbringt, werden wesentliche Erkenntnisse aus der wiederholt durchgeführten klinisch-neurologischen Untersuchung, der apparativen Zusatzdiagnostik und der neurologischen Anamnese, die auch Information von den Angehörigen mit einschließt, gewonnen. Diese Erkenntnisse können durchaus hilfreich sein, eine aussichtsreiche Therapie zu gestalten, oder aber in entsprechenden Fällen zu einer wirksamen Palliation beitragen.

Eine angemessene Pflege und eine palliative Behandlung ist bei folgenden schweren neurologischen Erkrankungen zu erwägen:3

Komasyndrome:

  • Akutes anoxisches Koma
  • Komplettes postanoxisches apallisches Syndrom
  • Alpha-Koma
  • Komplettes Locked-in-Syndrom
  • Schwerste septische, metabolische Enzephalopathie
  • Perakute hämorrhagische Enzephalitis
  • Definitiv dekompensierter Hirndruck
  • Schwerste intrazerebrale Blutungen mit Ventrikeleinbruch
  • Schwerste pontine Blutungen
  • Therapierefraktäre raumfordernde Hirninfarkte

Neurologische Komplikationen bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz

Fortgeschrittene nicht behandelbare neuromuskuläre Erkrankungen:

  • Motoneuronenerkrankung
  • Muskeldystrophie, wenn trotz intermittierender Heimbeatmung keine Chance auf Remission besteht

Über Grenzen des intensivmedizinischen Aufwandes muss spätestens dann nachgedacht werden, wenn zum Zeitpunkt der Intensivbehandlung eine neu aufgetretene schwerwiegende neurologische Komplikation eine ungünstige Entwicklung wahrscheinlich macht. Diese Grenzen können zumindest in drei Stufen unterteilt werden:4

  1. Vorliegen einer schriftlichen Verfügung Wiederbelebungsmaßnahmen nicht durchzuführen (do not resuscitate = DNR).
  2. Erweiterte Form: Der intensivmedizinische Aufwand wird beibehalten, aber nicht gesteigert. Damit ist die Chance auf eine Besserung aufrecht erhalten. Bei einer klinischen Verschlechterung würde jedoch eine Steigerung des intensivmedizinischen Aufwandes zwecklos erscheinen.
  3. Rückzug auf rein palliative Maßnahmen.

Eine frühzeitige Information der Angehörigen ist bei allen Formen des Therapierückzuges ratsam. Das Bemühen um eine einheitliche Haltung des gesamten Behandlungsteams ist ebenso erforderlich, um eine uneinheitliche Kommunikation mit den Angehörigen zu vermeiden.

Therapierückzug bei ischämischem oder hämorrhagischem Hirninfarkt

In der medizinisch wissenschaftlichen Literatur gibt es nur wenige allgemein gültige Regeln in Hinblick auf eine Entscheidung für einen Therapierückzug oder Therapieverzicht bei diversen neurologischen Erkrankungen. Immerhin liegen einige wenige Stellungnahmen zum Therapierückzug zumindest beim schweren Schlaganfall vor, weshalb diese Thematik hier als eigener Abschnitt behandelt wird.

Damit ist meistens sowohl der ischämische als auch hämorrhagische Hirninfarkt gemeint.

Der Schlaganfall ist die neurologische Erkrankung, die am häufigsten zum Tod führt. Häufig hinterlässt er auch eine schwere Behinderung, welche die Lebensqualität schwer einschränken kann. Die Unvorhersehbarkeit bei Schlaganfällen, der zumeist unklare prognostische Wert der apparativen Zusatzdiagnostik (Bildgebung mittels CT oder MRT, Elektrophysiologische Untersuchungen wie EEG und evozierte Potentiale) und andere Schwierigkeiten bei der Prognoseerstellung erschweren häufig eine Entscheidung zum Therapierückzug.

Eine kardiopulmonale Reanimation verbessert nachweislich nicht den neurologischen Behandlungserfolg nach einem Schlaganfall.5,6 Obwohl die Prognose bei künstlicher Beatmung bei schwerem Schlaganfall generell als schlecht angesehen wird, gibt es doch eine Minderheit von Patienten, die ohne schwere Behinderung überleben.7 Die Mortalitätsrate im Frühstadium des Schlaganfalls wird hauptsächlich durch die Hirnschwellung und Herniation (Einklemmung) während der ersten Woche, sowie von anderen folgenden Komplikationen bestimmt.8 Im Gegensatz zu vielen anderen Erkrankungen kann der Patient auch gelegentlich für einige Tage nach Eintreten der Hemiplegie wach und voll orientiert sein, bevor er komatös wird. Vorzeichen des Schlaganfalls sind Schlaganfälle selbst, daher ist es ratsam, bereits nach dem ersten Ereignis über den etwaigen Einsatz lebensverlängernder Maßnahmen mit dem Patienten zu sprechen.

Seit einigen Jahren wird auch beim schweren Schlaganfall über die Grenzen des medizinischen Aufwands nachgedacht. In einer repräsentativen Umfrage bei Schlaganfallexperten in Kanada und den USA wurde ein Konsens für eine DNR in den ersten 2 Wochen des schweren Schlaganfalls gesucht. Folgende drei Hauptkriterien für eine Verfügung einer DNR beim Schlaganfall wurden hierbei erarbeitet:9

1) Definition schwerer Schlaganfall

Ein schwerer Schlaganfall ist mit dem Fortbestand schwerer klinisch neurologischer Defizite über 24 h, manchmal mit Progredienz der Symptome, oft mit früher Eintrübung des Bewusstseins verbunden. Insgesamt führt er zu einer totalen Abhängigkeit des Patienten im Alltag. Der Patient darf keine oder fast keine Motorik an zumindest einer Körperseite zeigen und muss zusätzlich entweder eine Vigilanzstörung, ein Fehlen einer sinnvollen Reaktion oder eine globale Aphasie aufweisen.

2) Lebensbedrohlicher Hirnschaden

Die Hirnstammkompression führt zu einem lebensbedrohlichen Hirnschaden. Diese kommt zustande a) durch eine große intracerebrale Blutung (ICB), die üblicherweise mit Ventrikeleinbruch einhergeht, b) durch einen großen hemisphärischen ischämischen Infarkt mit Mittellinienverlagerung, c) durch infratentorielle Infarkte in mehreren Höhenlokalisationen im Hirnstamm und im Kleinhirn.

3) Erhebliche Komorbidität

Folgende nicht neurologische Zustände werden als bedeutsame Risikofaktoren für einen Tod im ersten Monat nach einem Schlaganfall angesehen: Pneumonie, Pulmonalembolie, Sepsis, rezenter Myokardinfarkt, Kardiomyopathie und lebensbedrohliche Arrhythmien. Diese Komorbiditäten sollten immer als häufige Komplikationen eines schweren Schlaganfalls zu sehen sein, die auch auf eine erhöhte Sterbewahrscheinlichkeit in der subakuten Phase hinweisen.

Bei ungefähr 8% sind keine Angehörigen vor und zum Zeitpunkt der Entscheidung einer DNR vorhanden. Bei diesen Patienten muss eine einseitige Entscheidung des Arztes besonders gut fundiert sein.8 Eine Reanimation und mechanische Beatmung sollte bei Patienten mit schwerem Insult nicht automatisch als Behandlungsoption empfohlen werden, außer sie wird ausdrücklich gewünscht. Die Reanimation kann passend sein für Patienten mit kleineren Schlaganfällen oder bei Hirnstamminfarkten mit massivem klinisch neurologischem Befund, jedoch bei geringer Komorbidität. Grundvoraussetzung für eine DNR sollte sein, dass das Pflegepersonal über Prognose, Patienteninteressen und Standpunkt der Angehörigen informiert ist. Es wurde auch angemerkt, dass eine medizinische Weiterbildung über den Umgang mit Aussichtslosigkeit in der Therapie und DNR Vorschreibungen unbedingt notwendig sei.

Die Prognose wird am besten nach der klinischen Präsentation und dem prämorbiden Status des Patienten beurteilt, wobei die apparativen Zusatzuntersuchungen bei der Prognosestellung hilfreich sein können.7 Die derzeitige Datenlage aus Studien ist unzureichend, um aus der Zusatzdiagnostik präzise einen unausweichlich zum Tode führenden Hirnschaden nach einem Schlaganfall vorauszusehen. Weitere Studien, besonders im Hinblick auf prognostische Faktoren, sind erforderlich, um unnötige Interventionen an Patienten mit akutem Schlaganfall im Terminalstadium zu verhindern.

Frühzeitige Ernährung bei Schlaganfallpatienten

Bei bis zu der Hälfte der Schlaganfallpatienten besteht zumindest in der Akutphase eine relevante Schluckstörung.10 Bei Patienten mit schwerem Schlaganfall, bei denen über einen Therapierückzug nachgedacht wird, spielt auch die Frage nach der Art der Ernährung eine wesentliche Rolle.

In einer kürzlich erschienenen Publikation über eine groß angelegte, in 83 Zentren durchgeführten Dreifachstudie wurde unterschiedlichen, bisher offenen Fragen zum Einfluss der Ernährung beim akuten Schlaganfall in Hinblick auf die Mortalität und Morbidität nachgegangen (feed or ordinary diet = FOOD trials).11 In einem Teil der Studien wurde erörtert, ob eine frühzeitige Ernährung, innerhalb der ersten Woche, über eine Sonde (PEG-Sonde oder Nasogastralsonde) das neurologische Behandlungsergebnis verbessert. Es wurde letztendlich gezeigt, dass eine frühe künstliche Ernährung über eine Sonde die Mortalität reduzierte bei einer leichten Zunahme des Behinderungsgrades bei den überlebenden Patienten. Obwohl die Meinungen zu dieser Frage unterschiedlich sind12,13 und in den FOOD trials keine klar statistisch signifikanten Unterschiede gefunden wurden, wird dennoch allgemein empfohlen: Eine nasogastrale Ernährung sollte frühzeitig erfolgen, wobei einige Tage damit zugewartet werden kann.14 Dem Anlegen einer PEG-Sonde gleich in den ersten Tagen sollte man eher zurückhaltend gegenüberstehen. Diese Form der Ernährung sollte nur Patienten vorbehalten sein, die eine Nasensonde nicht tolerieren oder bei welchen eine Wiedererlangung der Schluckfunktion in den darauf folgenden Wochen nicht zu erwarten ist.

Referenzen

  1. Vincent J. L., Outcome and ethics in severe brain damage, Prog Brain Res (2005); 150: 555-563
  2. Fins J. J., Clinical pragmatism and the care of brain damaged patients: toward a palliative neuroethics for disorders of consciousness, Prog Brain Res (2005); 150: 565-582
  3. Schneider D. et al., Therapieende, Hirntod, in: Schwab S. et al. (Hrsg.), Neurologische Intensivmedizin, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg (1999)
  4. Diringer M. N. Janzen R. W. C., Decisions to implement and withdraw therapy in the neurologic intensive care unit, in: Hacke W. (Hrsg.), Neurocritical Care, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg (1999)
  5. Bedell S. E. et al., Survival after cardiopulmonary resuscitation in the hospital, N Engl J Med (1983); 309: 569-576
  6. Alexandrov A. V. et al., Do-not-resuscitate orders in acute stroke, Neurology (1995); 45: 634-640
  7. Holloway R. G. et al., Prognosis and decision making in severe stroke, JAMA (2005); 294: 725-733
  8. Silver F. L. et al., Early mortality following stroke: a prospective review, Stroke (1984); 15: 492-496
  9. Alexandrov A. V. et al., Agreement on disease-specific criteria for do-not-resuscitate orders in acute stroke, Stroke (1996); 27: 232-237
  10. Mann G. et al., Swallowing disorders following acute stroke: prevalence and diagnostic accuracy, Cerebrovasc Dis (2000); 10: 380-386
  11. Dennis M. S. et al. (FOOD Trial Collaboration), Effect of timing and method of enteral tube feeding for dysphagic stroke patients (FOOD): a multicentre randomised controlled trial, Lancet (2005); 365: 764-772
  12. Norton B. et al., A randomised prospective comparison of percutaneous endoscopic gastrostomy and nasogastric tube feeding after acute dysphagic stroke, Br Med J (1996); 312: 13-16
  13. Ockenga J. et al., Food for stroke: why don‘t the studies give clear answers?, Lancet (2005); 365: 2005; author reply 2005-2006
  14. Donnan G. A., Dewey H. M., Stroke and nutrition: FOOD for thought, Lancet (2005); 365: 729-730

Anschrift der Autoren:

Priv.-Doz. ao. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Voller
Prim. Univ.-Prof. Dr. Eduard Auff
Universitätsklinik für Neurologie, Allgemeines Krankenhaus Wien
Währinger Gürtel 18-10, A-1090 Wien
Bernhard.Voller(at)meduniwien.ac.at; Eduard.Auff(at)meduniwien.ac.at

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