Das Österreichische Patientenverfügungs-Gesetz aus ethischer Sicht

Imago Hominis (2006); 13(3): 183-185
Enrique H. Prat

Mit der Verabschiedung des Patientenverfügungsgesetzes (PatVG) wurde ein weiteres österreichisches Kapitel zur Umsetzung des Patientenselbstbestimmungsrechts vorläufig abgeschlossen. Nach den bisherigen Kommentaren der meisten Rechtsexperten soll das österreichische Gesetz ein sehr gutes Gesetz sein. Gilt dieses Urteil auch aus ethischer Perspektive?

Der Autonomiebegriff der Aufklärung, der vom Mainstream der Bioethik als das fundamentalste Prinzip postuliert wird und auch der vorliegenden Geschichte zugrunde liegt, ist aus anthropologischer Sicht nicht unproble-matisch. Moderne Konzepte zur Umsetzung von Autonomie im Sinne des Selbstbestimmungsrechtes des Menschen beruhen meist auf einer ausgesprochen individualistischen, Ich-orientierten Perspektive des Menschen. Sie berücksichtigen viel zu wenig, dass der Mensch wesentlich ein soziales Wesen ist, das auf ein „Du“ angewiesen ist, um sich als „Ich“ zu erfahren und seine eigene Identität zu finden. Person zu sein heißt immer schon, in Beziehung zu existieren. Erst in dieser natürlichen, wesenhaften Bezogenheit auf seinen Nächsten hin, in der Beziehung zu einem oder mehreren Menschen, findet der Mensch zu sich selbst. Das heißt aber auch, dass der Autonomie klare moralische Grenzen gesetzt sind. Der radikale Individualismus der Moderne stellt für viele – die meisten? – Menschen eine Überforderung dar. Das verwundert nicht, denn Gemeinschaft mit anderen ist nötig, um die Komplexität der Umwelt und Umgebung auf bestmögliche Art zu bewältigen.

Das gilt auch und besonders in Zeiten der Krankheit. Auch hier gilt: Zur Umsetzung der dem Menschen angemessenen Autonomie in der medizinischen Praxis gehört wesentlich das Vertrauen zum Arzt und zum menschlichen Umfeld, an erster Stelle zur eigenen Familie. Das kommt nicht von ungefähr, obwohl Autonomie und Vertrauen auf den ersten Blick wenig zusammenzuhängen oder gar einander auszuschließen scheinen. Vertrauen ist soziologisch und psychologisch gesehen eine Komponente, die der Lichtung von Komplexität dient, d. h. zur Lösung von komplexen Problemen beiträgt. Vertrauen ist kein Gegensatz zur Autonomie, zeigt aber ihre anthropologische Grenze an. Aristoteles würde sagen, die Autonomie, die der Mensch braucht, ist jene, die ihn – im Vertrauen auf das Urteil der Experten und auf den wohlwollenden und klugen Ratschlag der ihm zur Seite stehenden Verwandten und Freunde – das Richtige mit Sicherheit entscheiden lässt. Das wäre also der Weg, um in der Praxis die Probleme zu meistern. In der Managementtheorie ist dies schon lange eine Selbstverständlichkeit. Der Mensch als dialogisches Wesen lebt nicht allein auf der Erde, im Elfenbeinturm seiner Autonomie, in der Monade. Er darf und soll seine Probleme in der Gemeinschaft lösen.

Eine einseitige Ausweitung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten kann also nur dann sinnvoll sein, wenn das entsprechende notwendige Vertrauensverhältnis vorhanden ist, um dieses Recht wirklich umzusetzen, d. h. wenn der Patient wirklich jene Unterstützung aus seinem Umfeld bekommt, die es ihm erlaubt, sich frei von inneren und äußeren Zwängen für das für ihn Richtige zu entscheiden. Fehlt jedoch die fachkundige Aufklärung oder die menschliche Zuwendung einer ihn tragenden Familie, wäre der Autonomieausbau ein rein formeller. Er würde keine wirkliche, sondern meist nur eine scheinbare Selbstbestimmung mit sich bringen und vielfach eine Überforderung zahlreicher Patienten. Kehren wir nun zum neuen Patientenverfügungsgesetz zurück. Das österreichische PatVG bedeutet eine Erweiterung der Geltung der Autonomie des Patienten, weil es Vorausverfügungen des Betroffenen unter gewissen Bedingungen bindend werden lässt. Angesichts des Gesundheitssystems, der demographischen Struktur des Landes und der Lage der Familie sehe ich jedoch leider wenig Anlass zur Hoffnung, dass damit tatsächlich die Autonomie vieler Patienten gestärkt wird. Aus anthropologischer Sicht lässt sich die Verbindlichkeit einer Vorausverfügung auch deswegen in Frage stellen, weil bei deren Einrichtung die Unmittelbarkeit der Entscheidungssituation fehlt und damit dem Patienten zwangsläufig ganz wichtige Informationen zu seiner Entscheidung fehlen. Wie oft wurden Ärzte und Pflegepersonal von der Leichtigkeit überrascht, mit der ein Patient beim Eintreten des Ernstfalls seine oft wiederholten Wünsche krass revidiert! Wie anders klingen dann die Worte der Aufklärung und wie schnell ändert sich die Stimmungslage. In Deutschland wird über das Thema der Patientenverfügung seit Jahren eine so hitzige Diskussion geführt, dass der Gesetzgeber sich bislang nicht im Stande sah, eine gesetzliche Regelung zur Abstimmung vorzulegen. Eine zentrale Frage scheint nämlich nicht so leicht zu beantworten zu sein: Kann eine auf Angst vor Leid oder auf Leiderfahrung gegründete Patientenverfügung wirklich selbstbestimmt sein? Was, wenn Leid subjektiv unabwendbar scheint, objektiv aber abwendbar wäre, weil durch schlechte Schmerztherapie, mangelnde Pflege oder soziale Isolation verursacht?1

In der deutschen Diskussion hat auch folgendes Argument nicht wenig Eindruck gemacht: Das Instrument der Patientenverfügung birgt in sich die Gefahr einer schleichenden Selbstentwertung alter und kranker Menschen. Durch die gesetzliche Regelung wird jedem künftigen Patienten nahe gelegt, explizit Krankheitssituationen zu beschreiben, für die er eine Behandlung ablehnt und damit diese Zustände implizit als für ihn nicht lebenswert erklärt. Der soziale Druck, der damit entsteht, führt zu einer „normativen Akzeptanz“ von Behandlungsverzichten, die als Wegbereiter der Euthanasie eingeschätzt werden können. Mit Beckmann kritisierten auch viele andere innerhalb der deutschen Diskussion, dass es nicht Aufgabe der Politik sein könne, dem bereits vorherrschenden Trend, Verfügungen mit impliziter Selbstentwertung zu verfassen, einen rechtlichen Rahmen zu geben und ihm hierdurch insgesamt Vorschub zu leisten. Im Österreichischen Gesetz wird zwar der Wunsch nach Sterbehilfe im § 2 (1) und § 19 (2) implizit ausgeschlossen. Ob dies aber genügt, um das Argument zu entkräften, ist mehr als fraglich. Denn ein Therapieverzicht kann auch Selbstmord bedeuten, und wer Selbstmord in manchen Situationen als moralisch vertretbar ansieht, kommt in Argumentationsnotstand, wenn ihn der Selbstmordwillige, der sich selbst nicht töten kann, um Hilfe bittet. Es ist also nicht auszuschließen, dass das Gesetz dazu beiträgt, die soziale Akzeptanz von Euthanasie mit der sozialen Akzeptanz des Behandlungsabbruchs wachsen zu lassen, was sehr bedauerlich wäre.

In der medizinischen Praxis muss der Arzt oft den mutmaßlichen Willen des Patienten ermitteln, wenn dieser dauerhaft unansprechbar wird. Das neue Gesetz bietet dazu konkrete Abhilfe, indem die Vorausbestimmung des Patienten bindend gemacht wird. Dafür müssen gewisse Voraussetzungen erfüllt sein:

a) Es geht nur um Ablehnung einer medizinischen Behandlung (PatVG § 2 (1)).

b) Die abgelehnte medizinische Behandlung, muss „konkret beschrieben sein oder eindeutig aus dem Gesamtzusammenhang der Verfügung hervorgehen“ (PatVG § 4).

c) Es muss dokumentiert sein, dass der Patient die Folgen seiner Verfügung richtig einschätzt (PatVG § 4).

d) Ein Arzt muss dokumentieren, dass er den Patienten umfassend über das Wesen und die Folgen der abgelehnten Behandlung aufgeklärt hat (PatVG § 5).

e) Der Arzt muss dabei auch begründet darlegen, dass er zur Einsicht gekommen ist, dass der Patient die Folgen der Verfügung richtig einschätzt (PatVG § 5).

f) Die Verfügung wurde vor einem Rechtsanwalt, einem Notar oder einem rechtskundigen Mitarbeiter der Patientenvertretungen errichtet, und dabei hat der Patient von diesem eine Rechtsbelehrung erhalten (PatVG § 6).

g) Die Patientenverfügung muss höchstens fünf Jahre vor dem Verlust einer Einsichts-, Urteils- oder Äußerungsunfähigkeit errichtet oder erneuert worden sein (PatVG § 7).

Dennoch darf man sich nichts vormachen: Patientenverfügungen werden im Ernstfall nur selten verbindlich angewandt werden können, da die in der Verfügung beschriebenen Krankheitsumstände, für die eine Behandlung abgelehnt wird, sich kaum mit der später eintretenden Krankheit decken werden, und damit die Frage offen bleibt, ob das, was in der konkreten Situation vorliegt ist, tatsächlich in der Verfügung gemeint war. Auf jeden Fall wird aber die Patientenverfügung ein Hilfsmittel erster Wahl bei der Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens sein.

Viele Juristen und einige Bioethiker meinen, mit der Gesetzesneuerung wurde ein ruhmvolles Kapitel in der österreichischen Geschichte der Patientenautonomie geschrieben. Ob es sich tatsächlich um einen Meilenstein handelt, werden wir erst in einigen Jahren wissen.

Referenzen

  1. vgl. Beckmann R., Vorschläge zur Regelung von Patientenverfügungen in Deutschland, Imago Hominis (2004); 11: 168-172

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. Enrique Prat, Imabe-Institut
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