Evolution – Wissenschaft und Religion

Imago Hominis (2005); 12(2): 135-138
Robert Harsieber

Kardinal Schönborn hat mit seinen Äußerungen zur Evolution in der New York Times in ein Wespennest gestochen. Aber es war auch an der Zeit! Das zeigen allein schon die Reaktionen. So kontert die Wiener Genetikerin Renee Schroeder: „Wenn sich jemand nicht an wissenschaftliche Methoden halten muss, ist es schwer, ihm mit wissenschaftlichen Argumenten zu begegnen.“ Um ihm dann – ihren Glauben – entgegenzuhalten: „Meine Überzeugung ist aber, dass nicht die Menschen von Göttern geschaffen wurden, sondern die Götter von den Menschen.“ Und das ist eine Aussage, die mit Wissenschaft ebenso wenig zu tun hat wie die Äußerungen des Kardinals.

Die Genetikerin rät dem Kardinal, Nachhilfe zu nehmen: „Er soll einfach ein bisschen Wissenschaft lernen. Die Evolutionstheorie hat Tatsachen, Beobachtungen, es gibt tausende Beweise, dass es eben so ist. Der Kreationismus ist nicht wissenschaftlich und baut auf Glauben auf. Aber Glauben ist eben nicht Wissen.“ Tatsachen und Beobachtungen sind gut, die Schlussfolgerungen daraus sind Hypothesen, und mit den tausenden Beweisen sollte man vorsichtig sein, weil es naturwissenschaftliche Beweise streng genommen gar nicht gibt. Abgesehen davon, dass man auch in der Evolutionstheorie zwischen Tatsachen und Interpretation unterscheiden sollte.

Was ist Naturwissenschaft?

Aber lassen wir einmal Darwin beiseite: Es geht um den Streit zwischen Wissenschaft, besser Naturwissenschaft und Religion. Viele Vorurteile haben ihre Wurzel ganz einfach darin, dass von den mehr oder weniger aktuellen Polemiken ausgegangen wird. Die erste Frage muss jedoch immer sein: Was ist Naturwissenschaft? Was kann sie? Und was kann sie nicht? Wer Naturwissenschaft einfordert, sollte auch offen legen, was Naturwissenschaft ist. Naturwissenschaft beschäftigt sich nur mit dem für alle Menschen in gleicher Weise beschreibbaren Teil der Gesamtwirklichkeit – ohne letztere leugnen zu können! Dieser Teilbereich ist die Materie in Raum und Zeit.1 Selbst Naturgesetze sind menschliche Konstrukte, beweisbar sind sie nicht. Beweisen kann man Sätze der formalen Logik, insbesondere der Mathematik, aber die haben wieder nichts mit der Natur zu tun. Naturgesetze sind dagegen verlässlich, weil im Experiment nicht widerlegt. Experimente können nichts beweisen, sondern nur falsche Theorien ausscheiden. Nicht nur, weil das Sir Karl Popper so festgelegt hat, sondern weil Experimente extrem vereinfachte Situationen darstellen, die so in der Natur gar nicht vorkommen.

Alle Gegenstände fallen gleich schnell – im Vakuum, in unserer Welt ist das schlicht falsch. Ein Medikament hat eine bestimmte Wirkung in einer isolierten Studiensituation. Wie es in freier Wildbahn wirkt, ist oft eine ganz andere Frage. Ob sich ein Medikament in der Praxis durchsetzt, darüber entscheiden oft die ungeliebten „soft facts“, die in den Studien der „Evidence Based Medicine“ möglichst ausgeschlossen werden müssen – und die komplexe Situation des Organismus, in der alle Faktoren zusammenwirken, die man in der isolierten Versuchssituation kunstvoll (und künstlich) ausgeschlossen hat.

Naturwissenschaft erforscht das allgemein Gültige. Das Einmalige ist damit nicht erfassbar.2 In der Natur ist jedoch alles einmalig.

Die für uns Menschen wirklich wichtigen Fragen sind naturwissenschaftlich nicht einmal zu stellen, geschweige denn zu beantworten. Am klarsten hat das Wittgenstein in seinem Tractatus3 formuliert: „Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ Wohlgemerkt: Da geht es noch gar nicht um Glaubensprobleme!

Das bedeutet aber, dass alles, was wir naturwissenschaftlich über den Menschen je erforschen werden, den Menschen als Ganzes niemals erklären kann. Was naturwissenschaftlich nicht erfasst werden kann, ist deswegen noch nicht unbedingt „unwirklich“.

Wenn die Physik Allgemeingültigkeit und Reproduzierbarkeit fordert, geht damit die Einmaligkeit verloren – auf die es gerade in der Biologie ankommt. Die in der Physik geforderte Analyse schließt Synthese und Vernetzung aus – genau darum geht es in der Biologie. Die in der Physik geforderte Eindeutigkeit schließt wiederum die Vielfalt aus, mit der es die Biologen, auch die Evolutionsbiologen zu tun haben.

Die Beschränkung auf die rückwärts gerichtete Kausalität in der Physik macht die Finalität bedeutungslos. Zweckmäßigkeit, Zielgerichtetheit ist aber augenscheinlich charakteristisch für die Welt des Lebendigen. Es ist völlig legitim, für diese Zweckmäßigkeit eine andere Erklärung zu suchen als die Theologen, sie schlicht zu leugnen, scheint jedoch problematisch.

Biologen erforschen lebende Organismen, die sich in vielfacher Hinsicht fundamental von den unbelebten Objekten der Physik unterscheiden. Der wohl bedeutendste Evolutionsbiologe des 20. Jahrhunderts, Ernst Mayr4, betonte nicht nur die Zielgerichtetheit des Lebendigen, sondern auch die Notwendigkeit, dass in der Biologie eine teilweise andere Naturwissenschaft anzuwenden ist als in der Physik.

Dualismus-Gegner

Es ist heute modern geworden, den Dualismus abzulehnen, etwa wenn es um das Leib-Seele-Problem geht. Der Dualismus wird eliminiert, indem alles auf Materie zurückgeführt wird. Besonders Gehirnphysiologen üben sich heute in dieser Disziplin. Gedanken und Gefühle „sind“ neuronale Gegebenheiten, chemische Reaktionen im Gehirn.

Wenn man weiß, dass Naturwissenschaft durch die Beschränkung der Gesamtwirklichkeit auf die Materie entstanden ist – und damit enorm erfolgreich war – dann bedeutet dieser Reduktionismus der Gehirnphysiologen nur eine Verdrängung dessen, was Naturwissenschaft nicht erfassen, aber auch nicht leugnen kann, eine Verdrängung der Gesamtwirklichkeit. Dass das was naturwissenschaftlich nicht erfassbar ist, nicht wirklich ist, das ist naturwissenschaftlich nicht zu argumentieren. Das ist Glaubensangelegenheit der betreffenden Wissenschaftler.

Zum Streit zwischen Dualisten und Monisten jeglicher Prägung ist zu sagen, dass beides eine Simplifizierung darstellt. Es geht philosophisch auch nicht um die Einheit im Gegensatz zur Vielheit oder Vielfalt, sondern um die Einheit von Einheit und Vielfalt. Ein Standpunkt, den unter anderen Fichte vertreten hat. So ist nicht jeder ein Dualist, der zwischen Materie und Geist unterscheidet. Dualist ist nur, wer Materie und Geist trennt. Für die Einheit ist die Unterscheidung nicht Gegensatz, sondern notwendige Voraussetzung.

Wer mit Kardinal Schönborn diskutieren will, muss das wissen. Dann muss man ihn oder kann man ihn nicht in die Ecke der Fundamentalisten stellen, nur weil er die ideologische Seite der Evolutionstheorie ablehnt. Dass die Sprache der Bibel nicht die Sprache der Naturwissenschaft ist, muss allen klar sein. Aber während die naturwissenschaftliche Begriffssprache die Sprache der Definition (Abgrenzung), der Analyse (Isolation von kleinsten Teilchen), der Eindeutigkeit ist, ist die Sprache der Religionen eine Symbolsprache, die nicht ein-deutig, sondern vieldimensional, die Sprache des Ganzen ist.

Es klingt etwas in dieser Richtung an, wenn Viktor Frankl sagte, dass das Gefühl viel feinfühliger sein kann als der Verstand scharfsinnig. Letztlich brauchen wir beides, wenn wir nicht die halbe Wirklichkeit verschlafen wollen. Ähnlich Johann Nestroy, der ein begnadeter Philosoph war, der die volkstümliche (aber von vielen Wissenschaftlern vertretene) Weisheit: „Glauben heißt nichts wissen“ ergänzte mit „Wissen heißt nichts glauben“!

Wenn wir nicht das gesamte Spektrum menschlichen Seins vor Augen haben – vom Materiellen über das Psychische und Soziale bis zum Spirituellen – dann bleibt uns die Gesamtwirklichkeit, das Ganze verschlossen. Da können wir noch so viel von ganzheitlichem Management, ganzheitlicher Medizin und was auch immer reden – ohne das, was nur in den Religionen anklingt, kann von Ganzheit keine Rede sein.

Was bedeutet das für die Evolutionstheorie?

Niemand wird heute ernsthaft an der Evolution zweifeln. Für ihre „Mechanismen“ gilt – wie für alles in der Wissenschaft – dass man zumeist das findet, was man sucht. Wir diskutieren über Anpassung und Mutationen, und diese Aspekte lassen sich auch nicht leugnen. Ob das schon alles ist, ist jedoch eine andere Frage. Teilhard de Chardin5 (ein Mann der Kirche und der Wissenschaft) hat die Frage ganz anders gestellt. Ihm folgend müssen wir das Prinzip der Evolution als den Zusammenschluss von kleineren zu größeren Einheiten (Atome – Moleküle – Zellen – Organe – Organismen) zu immer größerer Komplexität beschreiben, wobei in den größeren Einheiten immer etwas zum Ausdruck kommt, das in den kleineren Einheiten nicht enthalten war und auch aus der Summe dieser „Bausteine“ nicht abgeleitet werden kann. Dies zu erklären, wäre die eigentliche Herausforderung einer Evolutionstheorie.

Ob in der Evolution Zufall oder Design am Werk ist, das kann mit den Fakten nicht bewiesen werden. Jedenfalls ist das eine nicht unwahrscheinlicher als das andere. Hier sollte die wissenschaftliche Offenheit nicht kapitulieren. Schon die Tatsache, dass es heute nicht die Evolutionstheorie gibt, sondern verschiedene Evolutionstheorien, sollte wissenschaftliche Dogmatiker verstummen lassen. Und statt sie als selbstverständlich und unbezweifelbar hinzustellen (ein untrügliches Zeichen von Ideologie), sollte man sich auf das noch nicht Erklärte konzentrieren und die Wissenschaft damit wieder interessant machen. Es wäre nicht das erste Mal, dass wissenschaftlicher Fortschritt dort passiert, wo das (anscheinend) Selbstverständliche infrage gestellt wird.

So haben wir die absurde Situation, dass in vielen amerikanischen Bundesstaaten die Evolutionstheorie nicht an den Schulen gelehrt werden darf, und in vielen europäischen Staaten religiöse Ideen verächtlich gemacht werden. Das eine ist nicht dümmer als das andere.

Evolution von außen zu betrachten (Artenvielfalt, Fossilien, Genetik usw.) ist notwendig, aber beschränkt (im Sinne der ursprünglichen Intention der Naturwissenschaft). Was wäre, wenn wir diese äußerliche Sicht durch eine Innensicht ergänzen? Das bleibt natürlich den Schubladen-Dualisten-Gegnern im Hals stecken, aber wenn wir Körper und Seele unterscheiden (nicht trennen!), dann sei die Frage erlaubt, wer oder was denn die Evolution durchmacht? Die Körper? Was daran Materie ist, sieht man am besten an einer Leiche. Was ist das Leben daran? Oder die Seelen? Dass sich Seelen entwickeln, ist „naturwissenschaftlich“ natürlich „Unsinn“, im Sinne von nicht erforschbar. Dass sich Materie entwickelt, ist von einem ganzheitlichen Standpunkt aus „Unsinn“, weil „Leben“ damit verdrängt wird.

Jedenfalls kann eine materielle „Erklärung“, auch wenn sie noch so plausibel ist, eine andere Erklärung nicht prinzipiell ausschließen. Wer überall Naturwissenschaft fordert, der überfordert sie.

Aber wenn wir auch auf naturwissenschaftlicher Seite offene Fragen als offene Fragen anerkennen, und versuchen ihnen nachzugehen – was im naturwissenschaftlichen Sinne heißt, auch neue Wege zu gehen – dann sind wir auch im naturwissenschaftlichen Sinne auf der sicheren Seite.

Ernst Mayr hat die Biologie als eigenständigen Wissenschaftszweig gesehen, für den viele Ansätze der „exakten“ Wissenschaften schlicht nicht zutreffen – was für ihn auch zu einer neuen Philosophie des Menschen führen müsste. Er hat damit einen Fehler nicht gemacht, der heute beinahe generalisiert auftritt: Eine unverzichtbare wissenschaftliche Kategorie ist die Methodenadäquatheit – die Methode muss sich dem Wissensgebiet anpassen und nicht umgekehrt. Die Physik war Leitwissenschaft des 20. Jahrhunderts, aber ihre Methoden – auch wenn sie noch so erfolgreich waren – können nicht 1:1 auf andere Wissenschaftszweige umgelegt werden.

Heute sind zweifellos die Lebenswissenschaften zur Leitwissenschaft geworden oder auf dem Weg dazu. Sie stehen aber heute genau da, wo die Physik am Ende des 19. Jahrhunderts stand, beim klassischen Teilchenbild der Wirklichkeit, das sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dann rasant „in Luft“ aufgelöst hat. So könnte es durchaus sein, dass den Gehirnphysiologen ihr Neuronenbild der Wirklichkeit bald ebenso spektakulär abhanden kommt. Und spätestens dann wäre auch die Evolutionstheorie neu zu überdenken. Ernst Mayr bewahrte sich diese Offenheit, wenn er sagte: „Es gibt noch ganz neue Welten zu entdecken, mit womöglich ganz neuen Mechanismen der Artbildung. [...] Evolutionsforschung ist grenzenlos, und es gibt immer noch jede Menge Neues zu entdecken.“ Worauf wir wetten können.

Referenzen

  1. Pietschmann H., Phänomenologie der Naturwissenschaft, Springer Verlag, Berlin, Heidelberg (1996)
  2. Pietschmann H., Aufbruch in neue Wirklichkeiten. Der Geist bestimmt die Materie, Weitbrecht Verlag, Stuttgart, Wien, Bern (1997)
  3. Wittgenstein L., Tractatus logico philosophicus, Suhrkamp, Frankfurt/Main (1963)
  4. Mayr E., Die Autonomie der Biologie, Naturwissenschaftliche Rundschau (2002); 55(I): 23-29
  5. Teilhard de Chardin P., Der Mensch im Kosmos, Beck Verlag, München (1963)

Anschrift des Autors:

Dr. Robert Harsieber
Strassergasse 8/2/10, A-1190 Wien
r.harsieber(at)inode.at

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