Editorial

Imago Hominis (2004); 11(4): 237-238

Wer kann sich nicht an die erfolgreiche Markteinführung von „Vioxx“ erinnern? Sichere Daten über dessen Wirksamkeit wurden graphisch hübsch aufbereitet und überzeugend dargelegt, so dass der Arzt kaum dem Reiz widerstehen konnte, alsbald seine Patienten durch diese Wohltat zu beglücken. Der Absturz des Pharmazeutikums und seine Rücknahme aus dem Handel waren peinlich. Die Folgen sind noch nicht abzusehen. Das erwähnte Beispiel steht nicht alleine da. Das hat zur Folge, dass sich eine gewisse Skepsis und zum Teil Orientierungslosigkeit breit macht.

Der Arzt wird seit geraumer Zeit mit einer Unzahl von Information überflutet, die ihn – und daraus wird kein Hehl gemacht – in seinen therapeutischen Entscheidungen beeinflussen und für die Anwendung gewisser Produkte geneigt machen soll. Die Ergebnisse groß angelegter doppelblinder, kontrollierter, randomisierter Multicenterstudien werden gut präsentiert und aufbereitet, um Überzeugungen zu wecken und die Ärzte für die Verschreibung der verwendeten Produkte zu gewinnen. Wenn nun auf der einen Seite die Interessen der Pharmaindustrie lautstark vorgebracht werden, dann werden diesen gegenüber Merksätze der Leitlinienmedizin und Konsensuskonferenzen formuliert, die mit dem Anspruch auf Unabhängigkeit die Fakten ins rechte Licht setzen wollen. Die weltweit verbreitete Evidence-based Medicine hat berechtigterweise ihren Rang erobert. Aber: Wie relevant sind die signifikanten Daten der klinischen Studien wirklich und welche Forderungen müssen abgeleitet werden? Denn auf noch einer anderen Seite stehen die ökonomischen Zwänge, weil die Ressourcen knapp werden und das wirtschaftliche Denken bislang in der Ärzteschaft nicht allzu ausgeprägt war. Sind also evidence-based abgesicherte Daten so verpflichtend, dass nur sie in die Therapieüberlegung einbezogen werden müssen? Gibt es noch andere Kriterien, denen Beachtung geschenkt werden muss, vor allem dann, wenn die Ressourcenknappheit die Behandlung in Frage stellt oder unmöglich macht? Das neue Konzept der sinnorientierten Medizin beschäftigt sich eingehend mit der Problematik. Die Lösungsansätze liegen im Rationalisieren statt Rationieren, in der Beobachtung von Effizienz statt ungezielter Verschwendung, und folgerichtig im Erreichen einer guten und sinnvollen Ressourcenverteilung. Dabei handelt es sich nicht um neue Richtlinien eines weiteren, durch reiche Erfahrung ausgestatteten Expertengremiums, sondern um eine gut fundierte Methode der Evaluierung von Behandlungskonzepten, vor allem dann, wenn diese langfristig, kostenintensiv, risikoreich und für die Lebensqualität des Patienten von entscheidender Bedeutung sind. Es ist eine Hilfestellung, beigelegte statistische Daten richtig zu lesen und zu interpretieren und daher ihren Aussagewert recht zu erkennen. Beispielsweise hat das Zahlenspiel mit dem relativen und dem absoluten Risiko – wie beabsichtigt – einige Verwirrung gestiftet. Während die relative Risikoreduktion bei geschickter Darlegung beachtlich erscheint, fällt die Verringerung des absoluten Risikos nicht selten sehr gering aus. Lebensrettende Therapien oder hoch umjubelte Lebensverlängerungen entpuppen sich als enttäuschend geringfügig, während der Preis dafür im Sinne der Behandlungsdauer oder Lebensqualität während der Therapie kaum zur Sprache kommt. Das Vertrauen auf die Wirksamkeit jeglicher medikamentöser Therapien wird weiterhin stark suggeriert. Dabei bringen die retrospektiven statistischen Erhebungen immer klarer deren wahren Stellenwert zutage. Beispielsweise lässt sich die lebensverlängernde Wirkung diverser Präventivmaßnahmen errechnen: Rauchverzicht bedeutet 8 Jahre an Lebensgewinn, Bewegung 6 Jahre, Ernährung kann 2 Jahre bringen, während die beste medikamentöse Therapie bei Nichtbeachtung des Lifestyles magere 0,5 Jahre einbringt. Die Einführung der Sinnhaftigkeit in die therapeutischen Überlegungen ist ein Gebot der Stunde und wird wohl über kurz oder lang einen Paradigmenwechsel herbeiführen.

In diese Richtung hat Imabe schon seit Jahren gearbeitet (vgl. S.O.M.-Bewertungen in vergangenen Ausgaben von Imago Hominis). In der vorliegenden Ausgabe liegen nun die Ergebnisse einer vom Fonds „Gesundes Österreich“ subventionierten Studie vor. Die Methode steht zur Anwendung bereit. Sie leistet große Dienste bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes teurer Arzneimittel in Praxis und Krankenhaus; sie kann aber auch Stütze sein für die ausstehenden Reformen des Gesundheitswesens; sie kann als Nachweis der Effizienz neuer Medikamente zur Anwendung gebracht werden, aber auch als Auswahlkriterium für die Arzneimittellisten der Krankenkassen.

Die philosophischen Grundlagen können dem Beitrag „Sinnhaftigkeit in der Medizin“ entnommen werden. Das zunehmende Dilemma, dem sich der Arzt in seinen Entscheidungen stellen muss, und praxisorientierte Überlegungen anhand einiger Beispiele werden in „Sinnorientierte Medizin" vorgestellt. Was die mathematischen Berechnungen betrifft, so können diese unter „Mathematische Modelle für die Interpretation von Risiken“ von K. Felsenstein nachgelesen werden. Die Anwendung der S.O.M.-Methode in Bezug auf die Bewertung von Temozolomide anlässlich einer Auftragsstudie für ein Krankenhaus, durch W. Rella verfasst, zeigt auf, wie die Bewertung vorgenommen wird und welche Ergebnisse sich daraus ableiten lassen.

Zuletzt sei wieder auf den bevorstehenden Jahreswechsel verwiesen, wobei wir allen unseren Lesern eine gesegnete Weihnachtszeit und ein gutes Jahr 2005 wünschen!

Die Herausgeber

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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