Editorial

Imago Hominis (2003); 9(2): 77-78

Die biopolitische Aktualität war in den letzten Monaten sehr ereignisreich. In Deutschland, Österreich, in der EU, in Belgien und den USA stehen wichtige Entscheidungen ins Haus. Die Diskussion über schwierige politische und ethische Fragen, die die Spitzenforschung im Bereich der Biotechnologie aufgeworfen hat und die dringend einer Regelung bedürfen – Klonen, Forschung mit Embryonen, Stammzellenforschung, Genmanipulation, embryonenverbrauchende Diagnosetechniken u. dgl. – geht weiter. Aber auch die Euthanasiedebatte ist durch den belgischen Gesetzesentwurf neu entflammt. Dies erklärt, warum die Rubrik „Aus aktuellem Anlass“ in diesem Heft von Imago Hominis thematisch umfangreicher als sonst geworden ist.

Bei allen diesen aktuellen Fragen geht es im Grunde nur um eines: soll das Menschenrecht auf Lebensschutz – das nicht durch Satzung des Souveräns den Menschen zu- oder abgesprochen, sondern als gegeben anerkannt wird – in ein Satzungsrecht, das auch Ausnahmen und Abwägungen zulässt, umgewandelt werden? Zur Debatte steht wiederum die Aushöhlung der ca. 50 Jahre alten Menschenrechte auf demokratischem Wege.

Diesmal sind es die Forscher, die eine Auflockerung des Lebensschutzes von Ungeborenen einfordern, um embryonenverbrauchende Forschungsprojekte (z. B. Stammzellenforschung, Klonungsforschung) durchführen bzw. gewisse Technologien (z. B. Präimplantationsdiagnostik) anwenden zu können, die viel Heil für alle zukünftigen Generationen versprechen sollen. Hinter diesen Forderungen stehen natürlich beträchtliche Interessen des Kapitalmarktes, aber vor allem Teile der durch und durch pragmatisch orientierten öffentlichen Meinung, die vehement gegen ein „Aufhalten des Fortschrittes" eintritt. Die Europäische Union ist gewillt, ethisch sehr umstrittene Forschungsprojekte zu fördern. In vielen Ländern Europas wurde dadurch die Debatte, ob die Forschung mit embryonalen Stammzellen zugelassen werden soll oder nicht, losgetreten. Deutschland hat sich entschieden, die embryonenverbrauchende Erzeugung von diesen Zellen zu verbieten, ihren aber Import zuzulassen. In Österreich wird darüber diskutiert, welche Position die Regierung bezüglich des 6. Rahmenprogramms für Forschung der EU vertreten soll. In den USA will Präsident Bush jede Klonungsart gesetzlich verbieten, der Senat und das Repräsentantenhaus werden sich in den kommenden Wochen damit befassen: Stimmen dafür und dagegen dürften sich die Waage halten. Man kann auf den Ausgang der Debatte sehr gespannt sein.

In Belgien soll bald ein sehr liberales Euthanasiegesetz in Kraft treten. Die zunehmende Überalterung der Gesellschaft, gepaart mit einer Medizin, die es „geschafft“ hat, eine hohe Lebensqualität des Menschen bis ins Alter zu erhalten, aber auch ein Leben ohne Lebensqualität zu verlängern, wirft tatsächlich ein großes soziales Problem auf. Ist es nicht eine Frage von Mitleid und humanitärer Haltung, in manchen Situationen das Leben aktiv zu beenden? Das Gesetz, das nun das Belgische Parlament verabschiedet, geht einen Schritt weiter als das niederländische Gesetz, denn es lässt Tötung auf Verlangen auch für Patienten zu, deren Sterbezeitpunkt nach medizinischem Ermessen in weiter Ferne liegt.

Eine große Sorge wird allgemein von der öffentlichen Meinung geteilt, nämlich, dass die Lösungen all dieser Problemfelder der Biopolitik demokratisch, aber ohne ausreichende Einbindung der Bioethik im Konsensfindungsprozess entschieden werden. Diese Sorge war ausschlaggebend für die Entstehung einer neuen Art von Ethikkommissionen. Ihre Funktion ist die ethische Beratung politischer Organe wie Regierung, Parlament, Ministerpräsident u. dgl. In allen Ländern Europas und auch in den USA gibt es mittlerweile mindestens eine solche politische Ethikkommission. Diese neuen Einrichtungen sind zu begrüßen, wenn sie effizient dazu beitragen, in der öffentlichen Debatte für eine fundierte partei- wirtschafts- und standespolitisch unabhängige ethische Reflexion über die anstehenden Probleme sorgen. Das muss aber gesichert sein, sonst werden diese Kommissionen für parteipolitische Zwecke unweigerlich instrumentalisiert; damit wird auch ihre Bezeichnung „Ethik“ im Titel pervertiert. Solch ein Etikettenschwindel ist nicht unvorstellbar. Man bedenke, dass in der Biopolitik, wie erwähnt, Entwicklungen beobachtet werden, die den Menschenrechten entgegenstehen. Man „wünscht“ sich diese Entwicklungen, aber nicht ohne sie „sauber“ zu rechtfertigen. Die Menschenrechte dürfen definitorisch nicht zur politischen Disposition stehen; über sie darf nicht verhandelt werden. Deshalb wäre es ungeschickt, eine Debatte über sie politisch zu benennen; es ist taktisch „klüger" mit Unterstützung des Ethikprestiges diese Menschenrechte bis zur kompletten Aushöhlung nach und nach umzudefinieren. Ist dies einmal eingetreten, dann wird es auch mit dem Prestige der Ethik vorbei sein. Über die Frage der Sicherstellung der Unabhängigkeit und der ethischen Kompetenz einer Ethikkommission und ihrer Mitglieder wird man sicher noch viel nachdenken müssen. In erster Linie ist dies Aufgabe der Kommissionsmitglieder selbst. Wenn sie es versäumen, werden Institutionen ihrer Art bald unwirksam werden und das Ansehen der Ethik wird beschädigt.

In diesem Heft von Imago Hominis ist vor allem die Rede von jener anderen Art von Ethikkommissionen, die in den Krankenhäusern und Forschungseinrichtungen tätig sind. In einer Zeit, in der die Ziele der Medizin in der Krise zu sein scheinen, wie S. Ewig in seinem Aufsatz erläutert, soll der Arbeit der Ethikkommissionen eine besondere Bedeutung zukommen. Die von H.W. Eichstädt dargelegte Reflexion über seine langjährige Erfahrung zeigt das deutlich. Wie kommt man aus der Krise?
A. Oertl, D. Jonas und R. Bickeböller sehen in der Tugendlehre des Aristoteles einen Ansatz für einen Maßstab jener Qualität, die eine Orientierung für die Medizin und die medizinische Forschung darstellt.

Die Herausgeber

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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