Das belgische Euthanasiegesetz

Imago Hominis (2002); 9(2): 86-87
Enrique H. Prat

Nach Holland bricht nun auch in Belgien als zweitem Land der EU ein Schutzdamm des Rechtes auf Leben. Am 16. Mai ging im belgischen Parlament ein Gesetz mit 86 Stimmen dafür, 51 dagegen und 10 Stimmenthaltungen durch, das Euthanasie in einigen Monaten legalisieren wird.

Keine zwei Wochen, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt hatte, dass das Recht auf Leben kein Recht auf eine Tötung auf Verlangen einschließt, wurde doch dieses inhumane Recht vom Belgischen Parlament verabschiedet. Politiker der Opposition kündigten allerdings an, das Gesetz vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof und der UN-Menschenrechtskommission zu klagen, um es noch zu Fall zu bringen.

Kurz zusammengefasst: Was sieht das Gesetz vor? Der Arzt, der die Euthanasie an einem volljährigen oder minderjährigen, aber emanzipierten Patienten praktiziert, wird keine gesetzeswidrige Handlung begehen, wenn a) der Patient bei vollem Bewusstsein die Tötung verlangt hat, b) das Verlangen freiwillig, bedacht und wiederholt geäußert wird und ohne jeden äußeren Druck zustande kommt und c) der Patient sich in einer medizinisch ausweglosen Situation mit dauerhaftem und unerträglichem physischen oder psychischen Leidensdruck befindet, was Folge eines Unfalls oder einer unheilbaren und schweren Krankheit ist (Art. 3 §1).

Die belgische Regelung reicht über die holländische hinaus. Zunächst sind in Holland die aktive Sterbehilfe und Beihilfe zum Freitod prinzipiell nach wie vor strafbar. Erfüllt man aber bestimmte Bedingungen, die Strafausschließungsgründe genannt werden, bleiben aktive Sterbehilfe und Beihilfe zum Freitod seit rund einem Jahr straffrei. Das belgische Gesetz dekretiert, dass, wenn die Tötung nach den Bedingungen des Gesetzes vollzogen ist, diese als ein natürlicher Tod statistisch ausgewiesen wird und in allen rechtlichen Belangen als ein solcher zu gelten hat (Art. 15).

Eine weitere schreckliche Besonderheit des belgischen Gesetzes ist die Zulassung von Sterbehilfe an physisch und psychisch schwer leidenden unheilbaren Patienten, deren Krankheit sich nicht im Endstadium befindet und deren voraussichtlicher Sterbezeitpunkt daher in weiterer Ferne liegt. Unerträglichkeit und Unzumutbarkeit von physischen Schmerzen sind trotz ihrer relativen Objektivierbarkeit weitgehend kulturell- und zeitbedingte Größen. Psychische Leiden und seelische Qualen sind außerdem kaum von außen zu beurteilen. Das Gesetz öffnet also Tür und Tor für ziemlich willkürliches Töten von kranken und alten Menschen. Hier wird nicht den Abgeordneten, die dafür abgestimmt haben, unterstellt, dass sie für die Willkür sind und ihnen jeder Verantwortungssinn fehlt. Schließlich ist nach den Meinungsumfragen die Mehrheit der Belgier für Euthanasie. Zumindest eine große Naivität haben sie aber allemal bewiesen, denn eine solche kann man dieser Regelung nicht absprechen, da sie sich an subjektiven Maßstäben orientiert. Wie neulich Georg Paul Hefty in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb: „Die subjektive Lebensablehnung und Todessehnsucht wird nun zum ersten Mal in der modernen Rechtsgeschichte zum objektiven Rechtsanspruch auf staatlich sanktionierte Lebensverkürzung erhoben.“

Weiters sieht das Gesetz vor, dass das Tötungsverlangen vom Patienten oder seinem Vertreter schriftlich verfasst sein muss und jederzeit widerrufen werden kann (Art. 3, § 4).

Das Gesetz verlangt vom Arzt (Art. 3, §2), dass er den Patienten besonders ausführlich über die therapeutischen und palliativen Möglichkeiten sowie über seine Lebenserwartung informiert, ihn berät und im Gespräch mit dem Patienten zur Überzeugung gelangt, dass es „in der Situation keine andere vernünftige Lösung gibt“. Ferner muss der Arzt eine zweite, unabhängige ärztliche Meinung einholen, mit dem Betreuungspersonal und den Verwandten den Fall ausgiebig besprechen.

Wenn sich der Patient nicht im Endstadium der Krankheit befindet, muss der Arzt noch einen zweiten Arzt konsultieren und einen Monat – ab dem schriftlichen Verlangen gerechnet – verstreichen lassen, um den Tötungswunsch zu erfüllen.

Das Gesetz (Art. 4) billigt einer schriftlichen Willenserklärung Wirksamkeit zu, wenn der Patient nicht mehr bei Bewusstsein ist. Auch die Bestellung eines Stellvertreters, der für den Patienten die Tötung verlangen kann, wird gesetzlich gebilligt. Jede Erklärung gilt fünf Jahre lang ab der Ausstellung oder ab der letzten Bestätigung durch den Unterzeichner.

Das belgische Gesetz hat einen bei jedem Regelungsversuch der Sterbehilfe immanenten Widerspruch nicht behandelt und daher auch nicht zu lösen versucht. Das Tötungsverlangen muss natürlich ganz freiwillig sein. Welches „dauerhafte und unerträgliche“ Leiden schränkt nicht die Rationalität des Patienten bis hin zur zeitweiligen Annullierung ein? Ist aber ein Willenausdruck frei, wenn er unter Einschränkung der eigenen Rationalität entstanden ist? Kann jemand damit einverstanden sein, dass der Staat verordnet, einen so entstandenen, möglicherweise irrationalen Wunsch immer zu respektieren. Das Festhalten an der radikalen Autonomie des Menschen führt zu ausweglosen Widersprüchen. Dabei wird nicht behauptet, dass jegliches Tötungsverlangen unfrei entsteht.

Jeder Euthanasiefall wird bei einer dafür eingesetzten Kommission dokumentiert zu melden sein (Art. 6). Die Kommission wird prüfen, ob die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten wurden (Art. 7 und ff.).

Das Gewissen des Arztes und des Betreuungspersonals wird allerdings vom neuen Gesetz respektiert: „Kein Arzt ist verpflichtet, dem Tötungswunsch nachzukommen, und kein Mensch muss an einem Euthanasiefall teilnehmen" (Art. 14).

Die ethische Diskussion läuft in Belgien seit Monaten auf Hochtouren. Alle „Für und Wider" wurden in aller Öffentlichkeit durchgekaut. Am Ende hat sich, wie leider schon so oft in der Biopolitik, nicht die vernünftigere, sondern die bequemere Lösung, die eigentlich keine echte Lösung ist, durchgesetzt. Schwerkranke und schwache Menschen Monate und Jahre lang zu begleiten, ist eine humanitäre Aufgabe, kann aber zur schweren menschlichen und finanziellen Belastung werden. Und für solche Belastungen hat die durch und durch materialisierte Gesellschaft ebenso wenig übrig wie für selbstlose humanitäre Aufgaben.

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Prof. Dr. Enrique H. Prat, Imabe-Institut
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Anthropologie und Bioethik
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