Editorial

Imago Hominis (1996); 6(1): 5-6

Der Umgang der Ärzte mit Sterbenden ist, geschichtlich gesehen, relativ neu. Hippokrates hatte seinen Schülern geraten, die Finger davon zu lassen, denn wo nichts mehr zu heilen war, hatte der Arzt auch nichts mehr zu suchen. Die Beschäftigung der Medizin mit den unheilbar Kranken und Sterbenden fällt erst in den Beginn des vorigen Jahrhunderts. Auch damals wurden gleich kritische Stimmen laut. Der Umgang mit den Leidenden führe nur allzu leicht zu einer ganz schlimmen Versuchung, nämlich dann, wenn man, um das Leiden zu beenden, den Leidenden selbst „beendet“, das heißt tötet. Wäre erst einmal dieser Grenzbereich überschritten, dann wäre der Arzt der gefährlichste Mann im ganzen Lande. Dieser Rufer in der Wüste, Hufeland, sollte recht behalten. Schon wenig später wurde die Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebens-unwertem Leben gemacht, die sich bis in unsere Tage fortsetzt.

Der Umgang mit Sterbenden hat in der christlichen Tradition schon immer einen besonderen Stellenwert erhalten. Es waren über viele Jahrhunderte hindurch nichtärztliche Personen, die sich in Hospizen oder Hospitälern dieser Aufgabe gewidmet haben. Das Sterben ist für den Menschen die letzte entscheidende Phase seines Lebens, an dessen Ende der Übergang in eine andere, bessere Wirklichkeit geschieht. Dem anderen in diesen so wesentlichen Momenten beizustehen ist eine liebevolle Pflicht und gleichzeitig die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit. Das Leben, so schön und aufregend es auch immer sein mag, hat nicht den letzten und höchsten Wert. Der Arzt muß im Lichte dieser Überlegungen seinen Umgang mit den unheilbar Kranken und Sterbenden abstimmen. Er kann sich dabei nicht so, wie in vergangen Zeiten auf ein bloßes „Begleiten“ oder Beistehen zurückziehen, er hat die Aufgabe, sein Wissen und Können zumindest palliativ zum Einsatz zu bringen. Die Frage nach dem Behandlungsverzicht kann dabei nicht ausgeklammert werden. Wann sind medizinische Maßnahmen noch sinnvoll? Ab wann sind sie nur Belastung und keine Hilfe? Wann ist der Moment gekommen, in dem die gewollte Lebensverlängerung nur mehr ungewollte Sterbeverlängerung bedeutet? Der Fortschritt in der Intensivmedizin macht es den Ärzten nicht leicht, immer die richtigen Entscheidungen zu treffen. Sicher muß jeder einzelne Fall individuell entschieden werden. Allgemeine Kriterien können und müssen aber trotzdem erarbeitet werden, die es dem Arzt ermöglichen, in seinen Entscheidungen objektiv und nachvollziehbar zu sein. In schwierigen Entscheidungsmomenten spielen die Emotionen eine wichtige Rolle, sie dürfen aber nicht zum Alleinentscheider avancieren. Wer gewohnheitsmäßig aus dem „Bauch heraus“ entscheidet, wird nur schwer die Gratwanderung zwischen therapeutischem Übereifer und Euthanasie gehen können.

Diese Entscheidungen werden immer komplizierter und setzen nicht nur hohe Sachkompetenz voraus, sondern auch – und das ist vielleicht nicht immer so gesehen worden – große ethische Kompetenz. Diese besteht in philosophisch-ethischer Bildung, im guten analytischen Vermögen betreffend ethischer Fragen, aber vor allem in der Tugend im Sinne von Aristoteles, bei erworbener, nicht angeborener Fertigkeit, Leichtigkeit und Geneigtheit, das sittlich Richtige zu tun. Seit Aristoteles gilt es als unumstritten, daß ethisches Wissen nicht genügt, um Gutes zu tun, und seit Paracelsus, daß der gute Arzt zuerst ein guter Mensch sein muß. Tugend ist unerläßlich.

Trotzdem ist auch in diffizilen Fragen ein theoretisches Ethik-Wissen notwendig. Entscheidungen rund um den Behandlungsabbruch können nur kompetent getroffen werden, wenn man sich mit der Problematik in Ruhe auseinandersetzt, und zwar bevor der Ernstfall eintritt. In diesem Zusammenhang scheint es uns sehr wichtig, klare Kriterien für einen möglichen Behandlungsverzicht zu erarbeiten, um der aufflammenden Euthanasiediskussion im deutschsprachigen Raum den Wind aus den Segeln zu nehmen. Denn mancher Ruf nach Zulassung der Tötung auf Verlangen ist Folge der Angst vor therapeutischem Übereifer, die schon jetzt, aber vielleicht in Zukunft noch stärker den Menschen „um die Möglichkeit eines natürlichen Todes bringt“.

In dieser Nummer haben wir versucht, die Thematik des Behandlungsabbruchs anzuschneiden. Der Schwerpunkt befaßt sich zunächst ganz allgemein mit den ethischen Kriterien, die beim Behandlungsabbruch zum Tragen kommen, und im besonderen mit der Rolle der Verhältnismäßigkeit. Es wird ja immer wieder behauptet, daß keine Pflicht bestünde, außerordentliche Mittel anzuwenden, wobei die Festlegung von „außerordentlich“ eine Frage der Verhältnismäßigkeit ist. Offen bleiben dabei bestimmt noch viele Faktoren, die in der konkreten Situation mit eine Rolle spielen, offen bleibt auch, wie man mit der Verhältnismäßigkeit umzugehen hat. Der Aufsatz will dazu viele Gedankenanstöße geben. M. Schlag und R. Hüntelmann bringen Diskussionsbeiträge aus theologischer bzw. philosophischer Sicht. Ihre Standpunkte sind nicht deckungsgleich und spiegeln die Komplexität des gesamten Fragenbereiches wider. Seit Jahren schon ist die Diskussion im Gange, ein Konsens ist nicht in Sicht. Jedenfalls ist ein Dialog nötig.

Die Herausgeber

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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