Das Konzept des Organismus als Ganzheit und die praktischen Konsequenzen bei Non-Heart-Beating Donors

Imago Hominis (1998); 5(1): 37-40
Johannes Bonelli

Mit dem Fortschritt der modernen Medizin in den 60er Jahren bedurfte es einer exakteren Definition des eingetretenen Todes. Seitdem es nämlich die Intensivmedizin ermöglicht, den Blutkreislauf und die Atmung über einige Zeit hinweg künstlich aufrechtzuerhalten, sind für den Arzt die üblichen Todeskriterien wie Herz- und Atemstillstand nicht mehr in jedem Fall verwertbar. Relativ einmütig einigte man sich auf die Desintegration des Organismus als Ganzheit1 als das ausschlaggebende Ereignis des eingetretenen Todes.

Nach den herkömmlichen Kriterien ist der medizinisch-biologische Tod eines Menschen als Individuum (aber auch jedes Säugetieres) dann eingetreten, wenn sichere Lebenszeichen wie Atmung und Herzschlag irreversibel fehlen. Die Betonung liegt hier auf irreversibel, denn Herz- und Atemstillstand als solche zeigen den Tod keineswegs in jedem Fall an, wie dies aus der Tatsache hervorgeht, daß bei der Reanimation ein solcher Zustand wieder aufgehoben werden kann.

Auch der irreversible Ausfall der Gehirnfunktion wird als markanter Eckpunkt des Todeseintritts gewertet.2

Doch die Diskussion um die endgültige Festlegung, wann ein Mensch tot ist bzw. wann er noch lebt, verstummten bis heute nicht, im Gegenteil, neue Fragen in bezug auf den Eintritt des Todes wurden aufgeworfen.3,4,5,6

Der Schwachpunkt in dieser kontroversiellen Diskussion dürfte darin zu suchen sein, daß der Begriff „Organismus als Ganzheit“ nicht ausreichend definiert wurde.7

Leben und Lebewesen

Zur Bestimmung von Leben und Tod eines Individuums muß man primär von den Äußerungen des Lebens ausgehen, denn den Tod als solchen können wir nicht positiv bestimmen, sondern nur indirekt von der Erfahrung des Lebens her als dessen Negation.

Allen Begriffen des Lebens gemeinsam ist wohl die Vorstellung von einer Integration der Teile zu einer dynamisch koordinierten Einheit, der das Prinzip seiner Einheit und Ordnung immanent ist.

Wichtig für die Beurteilung von Leben und Tod in unserer Fragestellung ist jedoch die Unterscheidung zwischen derivatem (abgeleiteten) biologischen Leben (isolierte lebende Zellen oder Organe, Zellkulturen, Herz-Lungen-Präparate) und einem Lebewesen.

Das Lebewesen ist im Gegensatz zu einer lebenden Zelle, einer Zellkultur z.B., nicht nur eine integrierte Einheit, sondern darüber hinaus eine ganz spezifisch integrierte Ganzheit.

Diese spezifische Ganzheit des Lebewesens zeichnet sich durch vier Charakteristika aus:

  1. Abgeschlossenheit
  2. Unteilbarkeit
  3. Selbstbezogenheit
  4. Identität

Die Abgeschlossenheit eines Lebewesens zeigt sich zunächst darin, daß es nicht Teil einer größeren Einheit ist, sondern eine in sich abgeschlossene, nicht weiter überschreitbare Ganzheit darstellt (s.später).

Die spezifische Ganzheit des Lebewesens zeigt sich weiters auch darin, daß es mehr ist als die Summe seiner Teile, weshalb ein Lebewesen weder teilbar, noch aus Teilen zusammensetzbar ist (Unteilbarkeit). Ein Lebewesen hat weiters seinen Sinn und seinen Zweck weder außerhalb noch von seinen Teilen her, sondern in sich selbst. Die beobachtbaren Lebensvorgänge und Organfunktionen stehen dabei vor allem im Dienst der Selbsterhaltung des Ganzen. Das Lebewesen existiert um seiner selbst willen.

Ein weiteres wichtiges Kennzeichen der spezifischen Ganzheit eines Lebewesens ist seine unveränderliche Identität. So bleibt ein Lebewesen als Ganzheit endgültig ein und dasselbe, obwohl sich sein äußeres Erscheinungsbild im Laufe der Zeit völlig ändert, und obwohl ein vollständiger Austausch und Neuaufbau seiner stofflichen Grundlagen (Stoffwechsel, Wachstum) stattfindet.

Tod

Wenn wir uns nun der Definition des Todes zuwenden, so kommt es nicht sosehr auf die Funktionstüchtigkeit (Lebenszeichen) einzelner Organe an, denn sie könnte auch nur Ausdruck von derivatem Leben sein. Ausschlaggebend ist die Beurteilung des Organismus als Ganzheit im obigen Sinn.

Der Status des Gehirns

Für die Ganzheit eines Organismus im Sinne eines Lebewesens spielt das Gehirn eine unverzichtbare Rolle. Das Gehirn hat bekanntlich eine zentrale Koordinations- und Integrationsfunktion innerhalb des Organismus. Fundamentale Lebensparameter wie Atmung, Herzfrequenz, Blutdruck, Temperatur usw. werden überwacht, reguliert und im Sinne eines größeren Ganzen geordnet und so aufeinander bezogen, daß die Existenz des Ganzen gesichert wird.8 Somit kann gesagt werden, daß das Lebewesen mit Hilfe des Gehirns seinen Status als Selbstzweck maßgeblich verwirklicht. Es kann diesbezüglich durch kein anderes Organ auch nur annähernd ersetzt werden. Darüber hinaus fungiert das Gehirn aber nicht nur als Integrationsorgan, sondern auch als gleichsam abschließendes Organ einer letzten, nicht weiter überschreitbaren Ganzheit. Damit ist gemeint, daß einige, nicht aber alle beliebigen Teilstücke eines Körpers ohne weiters einer größeren Ganzheit zugeordnet werden können. So ist zwar die isolierte Herzzelle Teil des Herzens, dieses ist Teil des Thorax und dieser wieder gehört zum Rumpf. Der Rumpf mit dem Kopf ist hingegen nicht wiederum Teil einer übergeordneten Einheit, sondern dieser Mensch selbst als ein abgeschlossenes Individuum, obwohl ihm Arme und Beine fehlen. Das heißt, immer dort, wo das Gehirn lokalisiert ist, ist auch das Kriterium der Abgeschlossenheit eines Lebewesens zu finden. Das Gehirn und nur dieses Organ verleiht also dem Menschen seine Abgeschlossenheit. Beim Ausfall des Gehirns durch Destruktion oder Diskonnektion kann von keinem anderen Organ nachgewiesen werden, daß es diese Funktionen übernimmt. Dies entspricht der Tatsache, daß das Gehirn auch als morphologisches Fundament der Identität eines Individuums firmiert, was in einleuchtender Weise durch die heute schon angewendete Praxis einer Multiorgantransplantation en bloc demonstriert wird, bei der mehrere Organe im Organverbund (Herz, Lunge, Leber usw.) eingepflanzt werden. Niemand wird meinen, daß hier zwei lebende Menschen gleichsam „fusioniert“ werden. Immer wird die Identität des Patienten von dem Teil bestimmt, dem das Gehirn angehört, während dem hirnlosen Transplantat keine eigenständige Individualität zugesprochen werden kann.

Somit kann man sagen, daß das Gehirn das konstitutive Fundament (der Garant) für die Integration des Organismus als Ganzheit ist. Mit dem Verlust des Gehirns geht diese Ganzheit verloren. Der Mensch ist tot.

Der Hirntod

Beim Hirntoten findet man eine Reihe von Zeichen des Lebens wie Herzschlag, Stoffwechsel, Zellwachstum, Regeneration usw. Diese Lebenszeichen fungieren aber nicht im Dienst einer integrativen Selbstgestaltung eines größeren Gestaltungsganzen, sondern im Sinne eines physiologischen Organverbundes, dessen Teile in einer von außen gesteuerten gegenseitigen Abhängigkeit stehen. Dem Hirntoten fehlen jedoch die vier Kriterien eines Organismus als Ganzheit. Er ist somit kein lebender Mensch mehr. Es handelt sich daher beim Hirntoten lediglich um derivates biologisches Leben.7

Der Herz-Kreislauftod

Beim Herz-Kreislauftod kommt es zu einem irreversiblen Stillstand von Atmung und Kreislauf. Dadurch kommt es gleichsam zu einer Diskonnektion bzw. Abkoppelung des Gehirns von den übrigen Organen des Organismus. Das Gehirn kann seine Funktion als Integrationsorgan nicht mehr erfüllen, womit sich auf indirekte Weise die definitive Desintegration des Organismus als Ganzheit einstellt.

Man könnte den irreversiblen Herz-Kreislaufstillstand mit einer inneren Dekapitation vergleichen. Der gesunde Menschenverstand hat die Dekapitation bisher immer noch mit dem Tode gleichgesetzt. Die Ganzheit wird im Augenblick zerstört, auch wenn die einzelnen Organe durch das Gehirn erst im nachhinein endgültig absterben. (Derivates biologisches Leben – die irreversible Schädigung des Gehirns erfolgt innerhalb von 8-10 Minuten nach Kreislaufstillstand). Durch den endgültigen Kreislaufstopp werden die einzelnen (z.T.noch vitalen) Gehirnzellen isoliert und können irreversibel ihre Integrationsfunktion nicht mehr erfüllen. Damit ist der irreversible Kreislauf-stillstand mit einer Desintegration des Organismus als Ganzheit (Tod) gleichzusetzen. So gesehen hat auch der Herz-Kreislauftod immer einen Bezug zum Gehirn und dessen Integrationsfunktion. Herz- und Atemstillstand sind nur als indirekte Zeichen des Todes zu werten. Erst wenn diese irreversibel sind und damit sichergestellt ist, daß keine Integrationsfunktion des Gehirns mehr möglich ist, kann vom sicheren Tod eines Individuums gesprochen werden. Hier ist es wichtig, zwischen der Begründung des Todes (Desintegration des Ganzen) und den Kriterien, die diese Definition erfüllen (irreversibler Herz- und Atemstillstand bzw. irreversible Gehirndestruktion) zu unterscheiden.9

Es sei jedoch erwähnt, daß bei aller Verschiedenheit der einzelnen Methoden zur Feststellung des Todes (Hirntod, Herzkreislaufstillstand) dennoch immer nur ein und dasselbe Ereignis registriert wird, nämlich der Tod eines Menschen, der – wie oben ausgeführt – letztlich immer durch die Desintegration des Organismus als Ganzheit besiegelt wird. Auch die herkömmlichen Todeszeichen (Kreislauf- und Atemstillstand, Areflexie usw.) zielen letztlich – wenn auch zum Teil nur indirekt – auf dieses zentrale Geschehen ab. Es gibt daher nicht zwei verschiedene Arten von „Totsein“ (konventioneller Tod und Hirntod), sondern nur einen Tod des Menschen. Wenn heute Methoden gesucht werden, die den Tod des Menschen unabhängig von traditionellen Kriterien, durch direkten Nachweis der Gehirndestruktion (auf CT, EEG) erkennbar machen, so kann dies weder als Negativum (Hirntodgegner) abgewertet, aber auch nicht als conditio sine qua non gefordert werden. Wenn man den Nachweis eines Gehirnkreislaufstopps durch Angiographie oder Dopplersonographie als sicheres Todeszeichen anerkennt, so kann gesagt werden, daß der irreversible Herzkreislaufstillstand ein ebenso sicheres Zeichen für diesen Stopp ist.

Non-Heart-Beating Donors (NHB-Donors)

Die Praxis, Organe nicht nur von Hirntoten, sondern auch von NBH-Donors zu entnehmen, hat in den letzten Jahren zunehmend Verbreitung gefunden.10

Der österreichische Gesetzgeber betont, daß „es zulässig ist, Verstorbenen einzelne Organe oder Organteile zu entnehmen, um durch deren Transplantation das Lebens eines anderen Menschen zu retten oder dessen Gesundheit wiederherzustellen“. Die Todesfeststellung obliegt einem zur „selbstständigen Berufsausübung berechtigten Arzt“.

Für die Vorgangsweise bei der Hirntodfeststellung gibt es eine Empfehlung des Obersten Sanitätsrates. Verhaltensnormen, wie bei NBH-Donors vorgegangen werden soll, gibt es in Österreich bisher nicht.

Um Spannungen, Mißtrauen und Verunsicherung in der Bevölkerung zu verhindern, wäre es sinnvoll und wünschenswert, einheitlich festzulegen, wie bei derartigen Spendern vorgegangen werden sollte. Das in diesem Heft vorgelegte Konsenspapier ist ein erster Vorschlag.

Auf alle Fälle muß gewährleistet sein, daß die Organentnahme ausschließlich von Toten erfolgt. Keinesfalls darf man Organe von einem Sterbenden entnehmen. Dies würde einer direkten Tötung gleichkommen.9 Auf andere – menschlich-ethische Probleme, die mit der Verwendung von NHB-Donors verbunden sein können, kann hier nicht eingegangen werden.

Aus medizinischer Sicht kann, wie gesagt, nur dann vom Herz-Kreislauftod eines Menschen gesprochen werden, wenn sichergestellt ist, daß das Herz-Kreislaufsystem irreversibel geschädigt und der Reanimationsversuch endgültig abgebrochen worden ist. Er darf also nicht wieder aufgenommen werden. Wenn dies feststeht, wäre ein solcher Patient definitionsgemäß tot (s.oben).

Es ist – wie gesagt – eine empirische Tatsache, daß das Gehirn innerhalb einer bestimmten Zeitspanne nach Herz- und Atemstillstand derartig endgültig geschädigt ist, daß es seine integrative Funktion nicht mehr erfüllen kann, auch wenn ein Reanimationsversuch erfolgen würde. Diese Zeitspanne beträgt – wie erwähnt – 10 Minuten. Sie sollte nach endgültiger Beendigung der Reanimation bei NHB-Donors vor der Organentnahme aus Vorsicht eingehalten werden. Beatmung und Herzmassage sollten aber nicht wieder aufgenommen werden. Erst dann sollte mit der Explantation der Organe begonnen werden. Auf diese Weise wäre der Tod des Patienten gleichsam doppelt abgesichert.

Keinesfalls sollten jedenfalls Definitionslücken beim Herz-Kreislauftod dazu verleiten, im Graubereich zwischen Leben und Tod zu agieren. Bei einem NHB-Donor genügt es nicht, wenn er vielleicht, wahrscheinlich, ziemlich sicher oder praktisch tot ist. Er muß ganz sicher tot sein.9

Referenzen

  1. Beecher HK et al., A definiton of irreversible coma. Special communication: Report of the Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School to examine the definition of brain death, JAMA 1968, 205: 337-340.
  2. President’s Commission for the Study of Ethical Problems in Medicine and Biomedical and Behavioral Research. Defining Death: a report on the medical, legal and ethical issues in the determination of death. Washington, DC: Government Printing Office, 1981.
  3. Powner DJ, Ackermann BM, Grenvik A., Medical Diagnosis of death in adults: historical contributions to current controversies, The Lancet 1996, 348: 1219-1223.
  4. Evans M., A plea for the hear,. Bioethics 1190, 54(4): 10-12.
  5. Truog RD., Is it time to Abandon Brain Death? Hastings Center Report 1997, 27(1): 29-37.
  6. Halevy A, Brody B., Brain death: reconciling definitions, criteria, and tests., Ann Intern Med 1993, 119(6): 519-525.
  7. Bonelli J., Leben, Sterben, Tod in: Der Status des Hirntoten. Eine interdisziplinäre Analyse der Grenzen des Lebens, Springer Verlag Wien New York, 1995, S 83-112.
  8. Marktl W. Die Bedeutung des Zentralnervensystems für die optimale Entfaltung der Lebensvorgänge. Imago Hominis 1994, 1: 34-45.
  9. Vgl. dazu Pöltner G., Non-Heart-Beating Donors – Anthropologische und ethische Aspekte, Beitrag in dieser Ausgabe, S 45-48
  10. Vgl. dazu Mühlbacher F., Transplantation mit Nieren von Non-Heart- Beating Donors, in dieser Ausgabe, S 28-35

Anschrift des Autors:

Prim. Univ.-Prof. Dr. Johannes Bonelli, Imabe-Institut
Landstraßer Hauptstraße 4/13
A-1030 Wien

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