Wachkomapatient. Zur Problematik der künstlichen Ernährung

Imago Hominis (2007); 14(4): 293-295
Jan Stejskal

In diesem Jahr wurde die deutsche Rechtsprechung um einen neuen Präzedenzfall bereichert. In einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm vom Mai 2007 stellte das OLG fest, dass Eltern die künstliche Ernährung ihrer vierjährigen Tochter, die sich infolge eines ärztlichen Kunstfehlers in einem Wachkoma befand, einstellen können. In der Begründung verwies das OLG auf das „Kindeswohl“ des Mädchens, das offenbar auch dann gewahrt bleibe, wenn die Entscheidung der Eltern den Tod des Kindes herbeiführen würde. Das OLG hielt das Absetzen der Ernährung für gerechtfertigt, wenn durch die weitere ärztliche Behandlung keine Besserung des Gesundheitszustandes zu erzielen ist. Durch die Entscheidung des OLG wurde den Eltern das elterliche Sorgerecht zurück übertragen, nachdem ihnen dieses in erster Instanz entzogen wurde. Das Mädchen wurde aus der Klinik entlassen, es verstarb jedoch noch im Juni eines natürlichen Todes, bevor die Maßnahmen umgesetzt wurden.

Abgesehen davon, dass das OLG das Sterben eines Wachkoma-Patienten durch Nahrungsentzug mit einem „Wohl“ gleichsetzt, stellt sich die Frage, inwiefern ein Therapieabbruch, sprich Absetzen der künstlichen Ernährung, bei solchen Patienten ethisch zu beurteilen ist. Handelt es sich bei künstlicher Ernährung der Wachkomapatienten um eine Therapie, oder gehört sie vielmehr in den Bereich der einfachen Pflege? Heißt es in so einem Fall, das Sterben zu ermöglichen oder wird vielmehr durch Unterlassung das Sterben aktiv eingeleitet? Sind diese Patienten überhaupt Sterbende im engeren Sinne?

Im September erschien ein Kommentar der Kongregation für die Glaubenslehre, der sich mit der Problematik der künstlichen Ernährung und Wasserversorgung von Patienten im sog. „vegetativen Zustand“ befasst (Gesamtwortlaut in diesem Heft1). Die Kongregation ging darin der Frage nach, ob eine solche, auch auf künstlichen Wegen erfolgte Versorgung nicht als eine übermäßig schwere Belastung für den Patienten sowie sein Umfeld bzw. als ein außergewöhnliches oder unverhältnismäßiges Mittel einzustufen und somit moralisch nicht verpflichtend sei. Diese Frage wurde im Bezug auf diejenigen Patienten untersucht, die nicht mehr auf natürlichem Weg ernährt werden können, bei denen jedoch die übrigen vegetativen Funktionen erhalten bleiben und die klinisch stabil sind, wie es z. B. beim fortgeschrittenen Morbus Alzheimer oder bei Patienten mit Ausfall der Großhirnfunktion, dem sog. apallischen Syndrom, der Fall ist.

Die Kongregation stellt klar, dass die künstliche Wasser- und Nahrungsversorgung in diesen konkreten Fällen nicht als eine außergewöhnliche Belastung zu verstehen sei und somit moralisch bindend, denn „…sie steht im Verhältnis zur Erreichung ihres Zieles, nämlich das Sterben des Patienten durch Verhungern und Verdursten zu verhindern. Sie ist keine Therapie, die zur Heilung führt, und will es auch nicht sein, sie ist nur eine gewöhnliche Pflege zur Erhaltung des Lebens.“ Die künstliche Wasser- und Nahrungsversorgung kann jedoch sehr wohl im Einzelfall für einen Angehörigen eine erhebliche Belastung bedeuten, pflegerisch unterscheiden sich die Patienten im Wachkoma jedoch kaum von anderen bettlägerigen Patienten.

Im weiteren Text werden die Dokumente des Lehramts der Kirche aufgegriffen, ausgehend von der Erklärung zur Euthanasie aus dem Jahre 1980. Darin heißt es im Bezug auf Therapieverzicht: „Wenn der Tod trotz der angewandten Mittel unausweichlich näher kommt, ist es erlaubt, im Gewissen die Entscheidung zu treffen, auf Therapien zu verzichten, die nur eine kurze und schmerzvolle Verlängerung des Lebens bewirken würden, ohne jedoch die normale Pflege zu unterlassen, die man in solchen Fällen den Patienten schuldet." Demgegenüber betont die Kongregation, dass ein Abbruch der Pflege bei Patienten, die sich nicht in unmittelbarer Todesgefahr befinden, wie dies beim „vegetativen Zustand“ der Fall ist, den Tod bewirken würde. Sie dürfe deshalb nicht unterlassen werden.

In Anbetracht dieser Unterscheidung sowie in Anlehnung an weitere Dokumente der Kirche wird unterstrichen, dass die sog. minimalen Mittel streng verpflichtend bleiben, „…die normalerweise und unter gewöhnlichen Umständen der Erhaltung des Lebens dienen“. Papst Johannes Paul II. bekräftigte in diesem Zusammenhang, dass weder „von wirksamen therapeutischen Maßnahmen zur Lebenserhaltung noch von der Anwendung der normalen Mittel zur Lebenserhaltung“ dispensiert werden kann, wozu auch Wasser- und Nahrungszufuhr zählen. Als unerlaubt werden jegliche Unterlassungen erwähnt, welche auf eine Lebensverkürzung zwecks Leidensvermeidung hinzielen würden.

Obwohl die künstliche Wasser- und Nahrungszufuhr bei Patienten im „vegetativen Zustand“ unter ärztliche Handlungen fallen können, versteht die Kongregation diese vielmehr als Teil der Pflege. Dafür scheint die Tatsache ausschlaggebend zu sein, dass dadurch kein therapeutisches Ziel, sondern lediglich die Erhaltung des Lebens angestrebt wird. Dezidiert heißt es: „Die Versorgung mit Nahrung und Flüssigkeit gehört, auch wenn sie künstlich erfolgt, zur normalen Pflege, die man dem Kranken immer schuldet, solange sie sich nicht als unerträglich für ihn erweist.“ Anschließend wird darauf hingewiesen, dass ein Abbruch bzw. Nichtverabreichung von Wasser- und Nahrungszufuhr eine Euthanasie durch Unterlassung zur Folge hätte.

Auf diesen Grundsätzen aufbauend betonte Johannes Paul II. die menschliche Würde auch jener Patienten, die sich in einem „anhaltenden vegetativen Zustand“ befinden. Darunter werden Fälle verstanden, wo nach einem Jahr im Bezug auf Prognose kaum Aussichten auf eine mögliche Besserung bestehen. Eine Unterbrechung der minimalen Pflege inklusive Ernährung wäre bei solchen Patienten nicht zulässig, denn sie hätte einen sicheren Tod durch Verhungern bzw. Verdursten zur Folge. Zusammenfassend sprach er unmissverständlich: „Insbesondere möchte ich unterstreichen, dass die Verabreichung von Wasser und Nahrung, auch wenn sie auf künstlichen Wegen erfolgt, immer ein natürliches Mittel der Lebenserhaltung und keine medizinische Behandlung ist. Ihre Anwendung ist deshalb prinzipiell als gewöhnlich und verhältnismäßig und damit als moralisch verpflichtend zu betrachten, und zwar in dem Maß, in dem und so lange sie nachweislich ihre eigene Zielsetzung erreicht, die im vorliegenden Fall darin besteht, dem Patienten Nahrung und Schmerzlinderung zu verschaffen.“ Dieser Text wurde in unserer Zeitschrift im Vorjahr ausführlich kommentiert.2

Auch Patienten mit einer infausten Prognose bzgl. möglicher Besserung im sog. andauernden vegetativen Zustand steht die künstliche Verabreichung zu. Im Sinne der Devise „Ad impossibilia nemo tenetur“ kann dies jedoch in manchen armen Regionen unmöglich sein, die Verpflichtung zur minimalen Pflege bleibt jedoch aufrecht. Dazu wird ferner auch nicht ausgeschlossen, dass aufgrund von Komplikationen in manchen Fällen die künstliche Nutrition unnütz sein kann, bzw. für den Patienten aufgrund supportiver Mittel eine zusätzliche Belastung bedeuten kann.

In Anbetracht dessen ist ein Wachkomapatient kein Sterbender. Wie bereits U. Eibach in diesem Zusammenhang erklärte: „Sterbend im biologischen Sinne ist ein Mensch dann, wenn es zu einem unwiderruflichen und fortschreitenden Prozess kommt, der erfahrungsgemäß in absehbarer Zeit zum Zusammenbrechen lebenswichtiger Organfunktionen und damit zum Tod führt. Der Entzug der Nahrung richtet sich dagegen gegen das Leben. Ziel ist die Herbeiführung des nicht natürlicherweise eintretenden Todes. Der Nahrungsentzug hat nichts mit einem Verzicht auf eine Bekämpfung der Krankheit zu tun. Der Grund ist das Urteil, dass ein Leben nicht mehr wert ist gelebt zu werden, also ein Lebenswerturteil.“3

Da allerdings in der Ärzteschaft – zumal im österreichischen Recht – die künstliche Ernährung als therapeutische Handlung angesehen wird, verschwimmen die Grenzen zwischen der künstlichen Ernährung als Bestandteil der Therapie beim gewöhnlichen Patienten und als pflegerische Maßnahme bei einem Wachkomapatienten. Trotz Gemeinsamkeiten wird bei dem letzteren nicht ein gewisses therapeutisches Ziel im Sinne einer Genesung verfolgt, sondern lediglich die Erhaltung des Lebens angestrebt. Die künstliche Ernährung eines solchen Patienten ist vielmehr mit dem Füttern eines Säuglings bzw. alten Menschen zu vergleichen, auch wenn dies auf eine künstliche Art und Weise, sprich mit einem Löffel geschieht. Denn „auch die orale Ernährung einer Person durch eine andere Person ist ja kein bloßer Naturprozeß, sondern ein sozialer Akt, ebenso wie die Einstellung dieser Ernährung“.4

Zusammenfassend lässt sich behaupten, dass ein Wachkomapatient per se kein Sterbender ist und seine künstliche Ernährung zwar zum Teil im Dienste der Therapie steht, hauptsächlich aber eine pflegerische Maßnahme darstellt. Ihre Unterlassung wäre mit einer Euthanasie gleichzusetzen. Dies schließt allerdings nicht aus, dass, sobald der Sterbeprozess beim Wachkomapatienten beginnt, eine Therapiereduktion bzw. Abbruch inklusive Nahrungszufuhr abgewogen werden kann, so wie dies bei den übrigen Patienten in der terminalen Phase der Fall ist. Dies erfordert jedoch die Sensibilisierung der Ärzteschaft gegenüber der Würde des Menschen, insbesondere bei Menschen im Wachkoma, und verlangt, sich von jeglichen utilitaristischen Bewertungen und Fragen nach dem Nutzen so eines Lebens fernzuhalten. Nur mit solchem Feingefühl können auch die richtigen Entscheidungen zur Erhaltung des Lebens dieser Patienten getroffen werden, um der Gefahr zu entgehen, den Zustand des eingeschränkten Bewusstseins eines „Apallikers“ mit Sterben gleichzusetzen.

Referenzen

  1. Kongregation für die Glaubenslehre, Antworten auf Fragen der Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten bezüglich der künstlichen Ernährung und Wasserversorgung, Imago Hominis (2007); 14: 363-366
  2. vgl. Prat E. H., Therapiereduktion aus ethischer Sicht. Der besondere Fall der künstlichen Ernährung und Flüssigkeitszufuhr, Imago Hominis (2006); 13: 311-317
  3. Eibach U., Tödliches Mitleid. Wehret den Anfängen: Kritik am Urteil des Bundesgerichtshofes zur „Sterbehilfe“, Lutherische Monatshefte (1994); 11: 22
  4. Bobbert M., Werner M. H., „Keine wesentlich neuen Gesichtspunkte“? Stellungnahme zum Entwurf der Richtlinie der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung und den Grenzen zumutbarer Behandlung, Ethik in der Medizin (1997); 9: 217

Anschrift des Autors:

Dr. Jan Stejskal, IMABE
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