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Kardinaltugenden und ärztliche Praxis

Mag. Claudia Umschaden
Stand: März 2002

Im ärztlichen Berufsstand kommt neben dem Wissen und Können dem Gewissen eine besondere Rolle zu. Das hängt mit dem "Objekt" seiner Tätigkeit zusammen, das zugleich "Subjekt" ist. Gegenstand der ärztlichen Tätigkeit ist nicht bloß "etwas am Menschen", sondern er selbst, die Person als solche. Nur dem Menschen kommt jene Würde zu, kraft derer er niemals nur als Objekt, sondern immer und vor allem als Subjekt mit Selbstzweck betrachtet werden muss. Der Steuerberater beispielsweise vertritt Klienten, aber sein Handlungsobjekt sind Steuern, Vermögensobjekte und dergleichen, d.h. der Gegenstand seiner Handlungen ist nicht das Subjekt des Klienten selbst, sondern das, was das Subjekt besitzt oder schuldet: Geld, Vermögenswerte, usw. Der Handlungsgegenstand des Arztes ist hingegen der Patient selbst nämlich als Subjekt einer Leib-Seele-Einheit. Diese Doppeleigenschaft des Patienten als Handlungsobjekt und Subjekt stellt eine einzigartige ethische Anforderung an den Arzt. Aus diesem Grund war für den Arzt schon immer die Kultivierung des Gewissens neben der ständigen Kultivierung des Wissens und Könnens ein ernstes Anliegen.

Was ist nun aber die „Kultivierung des Gewissens“? Gewissen ist ein Akt der Anwendung des menscheneigenen moralischen Wissens auf die konkrete Handlung. Bei diesem Akt geht es um eine Art reflektierende begleitende Kontrolle der Sittlichkeit der Handlung während und nach dem Entscheidungsprozess. Durch das Gewissensurteil wird sich der Handelnde bewusst, ob etwas, das er tun will oder getan hat, getan werden darf bzw. durfte, oder nicht. Unter Kultivierung des Gewissens kann man all jene Handlungen subsumieren, die zur Erreichung bzw. Erhaltung eines hohen Standards an moralischer Sensibilität wirksam beitragen. Sie besteht in der Vervollkommnung der Vernunftsanwendung und der Willenskraft.

Kultivierung des Gewissens hängt mit der Pflege der Kardinaltugenden eng zusammen (lat. cardo, "Angel"), denn die Voraussetzung dafür, dass das Gute und Richtige erkannt und erfasst wird, sind die Tugenden. Die Kultivierung des Gewissens geschieht im Erwerb und der Pflege der Kardinaltugenden.

Aristoteles beschreibt die Tugend als jene feste Grundhaltung „durch welche ein Mensch gut wird und vermöge derer, er seine ihm eigentümliche Leistung gut vollbringt.“1 Daraus folgt, dass der gute, tugendhafte Arzt zuerst ein guter und tugendhafter Mensch sein muss. Die Tugenden sichern die Handlungsqualität des Menschen. Obwohl es sehr unterschiedliche moralische Tugenden gibt, bilden sie eine Einheit, sodass die Handlung nur dann gut (tugendhaft) ist, wenn sie allen in der Handlung geforderten Tugenden gemäß durchgeführt wird. Die gute medizinische Behandlung muss nicht nur fachgerecht, sondern auch mit Respekt und liebevoll, rechtzeitig und pünktlich, sauber und feinfühlig usw. verrichtet werden. Eine Liste aller in der ärztlichen Tätigkeit geforderten Fähigkeiten und Tugenden wäre vermutlich nahezu unendlich lang.2 So gesehen, wäre es praktisch unmöglich, auf alle Tugenden zu achten, auf die es ankommt. Ein Handeln gemäß der Tugenden wäre somit Utopie. In jeder Handlung sind Vernunft, Wille und sinnliches Strebevermögen (Affekte, Emotionen, Leidenschaften, Mut) im Spiel. Die Kardinaltugenden vervollkommnen eben diese drei Vermögen: Die Vernunft wird von der Klugheit, der Wille von der Gerechtigkeit, das sinnliche Strebevermögen von der Mäßigkeit und vom Starkmut ergänzt.

Die Tugend der Klugheit

Die Klugheit ist die Gewandtheit des richtigen und guten Handlungsurteils. Die Klugheit wird auch praktische Weisheit genannt, wobei sie die Fähigkeit der Unterscheidung darstellt, in den gegebenen Umständen moralisch richtig zu entscheiden und danach zu handeln. Sie vervollkommnet den Verstand, indem sie sich immer auf ein Ziel ausrichtet, das gut und bejahenswert, das gerecht, maßvoll und tapfer ist.

Die Klugheit leitet daher alle anderen Tugenden an; sie leuchtet den rechten Weg aus, damit die Stärke weder in Waghalsigkeit ausartet und noch zur feigen Mittelmäßigkeit abfällt; damit das Maßhalten nicht zu Knauserei und Geiz verkommt und nicht nur von der Verschwendung Abstand nimmt; damit die Gerechtigkeit in ihren Ansprüchen real bleibt; usw.

Der Akt der Klugheit setzt sich in der Regel aus einer Abfolge von verschiedenen Momenten zusammen. Dabei unterscheiden wir zunächst den beratenden Moment (consilium), in dem die Fakten und die begleitenden Umstände erfasst werden; nun muss die situationsgerechte Handlung ausgewählt und bestimmt werden (iudicium); auf dieses Urteil muss die richtige Entscheidung folgen, die den Befehl (imperium) einschließt, den gefassten Beschluss auch in die Tat umzusetzen.

Klugheit im klinischen Alltag

Besonderen Stellenwert für den klugen Menschen hat die Beratung, das Rat einholen und Rat geben. Die Einführung in die medizinische Kunst geschieht vornehmlich in der Weitergabe der Erfahrungen älterer Kollegen an jüngere. Die Beziehung Schüler-Lehrer in der Medizin hat ihre große Berechtigung. Der angehende und der junge Arzt muss sich oftmals Rat holen, und mit diesem „fremden“ Wissen die selbst erlebten Situationen beleuchten und deuten. Mit der Zeit kann er sich so selbst einen Erfahrungsschatz aufbauen. Selbst dann wird er gelegentlich in besonderen Situationen den Rat anderer suchen. Der kluge Arzt wird auch nach jahrelanger Praxis bei außergewöhnlichen Krankheitsfällen den Rat anderer erfahrener Kollegen einholen. Klugheit setzt daher eine Einstellung der Demut voraus. Die Bitte um Rat schmälert nicht das Ansehen der Person, im Gegenteil, es zeugt von Ernsthaftigkeit und Gewissenhaftigkeit im Umgang mit anderen Menschen. Die Klugheit ist zudem begleitet von bestimmten Haltungen, die Voraussetzungen für das kluge Tun und Handeln sind. Diese sind: die Erfahrung, die Wissenseinsicht, die Lernfähigkeit, die Sachlichkeit, die Vernunft, die Voraussicht, die Umsicht und die Vorsicht. Es sind Haltungen, die je nach Situation einmal mehr im Vordergrund stehen, ein anderes Mal weniger gefragt sind. Der kluge Mensch kann sie aber jederzeit „aktivieren“ und weiß, richtig einzuschätzen, wann diese gefragt sind.

Die Klugheit besteht gerade darin, situationsgerecht zu entscheiden und zu handeln. Für den Arzt genügt es nicht, dass er sich bestimmte Prinzipien zurechtlegt, die zu beachten er sich auferlegt. Die Unterschiedlichkeit der Menschen und der Umstände machen eine jeweils konkrete Entscheidung notwendig, die auf den jeweiligen Fall eingeht. Die Klugheit hilft ihm in der rechten Weise gerecht, stark und maßvoll zu sein, ohne dem einen oder anderen Extrem zu verfallen. So muss der Arzt im Bereich der Aufklärung mit Fingerspitzengefühl individuell unterschiedlich vorgehen. Die Tugend der Klugheit hilft ihm, die richtige Dosis an Aufklärung anzuwenden. Das heißt, der Patient soll die Möglichkeit bekommen, in das Geschehen, das an seiner Person vorgenommen wird, einbezogen zu werden, er darf aber nicht mit unnötigen Details belastet oder gar verunsichert werden. Das Autonomiebedürfnis ist ja individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt. Ein Zuviel an Aufklärung bewirkt Verunsicherung, ein Zuwenig kommt der Bevormundung gleich. Allgemein gilt, dass die Aufklärung über die Nebenwirkungen und Risiken umso sorgfältiger und genauer erfolgen muss, je weniger akut und notwendig der Eingriff für den Patienten ist. Auch im Umgang mit den Angehörigen des Kranken muss der Arzt klug vorgehen. Streng genommen schuldet der Behandler dem Kranken allein Aufklärung und Rechenschaft über sein Tun. Nun ist es aber eine Tatsache, dass der Mensch als Person in Lebensgemeinschaften eingebunden ist, in ein bestimmtes soziales Umfeld, das gerade durch die Krankheit mehr oder weniger stark betroffen ist. Die Gemeinschaft (Familie) hat ein Recht, aber auch die Pflicht an der Krankheit eines ihrer Mitglieder Anteil zu nehmen. Der Arzt wird in Ausübung seiner Tätigkeit sehr häufig damit konfrontiert sein, die Angehörigen zu informieren, sie einzubeziehen, sie um Rat zu fragen. Häufig wird seine Therapieentscheidung auch durch das Bild, das er sich vom sozialen Umfeld gemacht hat, mit bestimmt. Dabei darf er aber nicht aus den Augen verlieren, dass er sich zuerst und vor allem seinem Patienten verpflichtet hat. Oftmals verlangt es vom Arzt ein kluges Vorgehen, um allen Beteiligten gerecht zu werden.

Die moderne Apparatemedizin hat so viele erfolgreiche Behandlungen entwickelt, dass manche der Utopie, der Mensch werde eines Tages alle Krankheiten beherrschen können, Glauben schenken. Immer wieder kommt der Arzt in die Situation, seine Möglichkeiten eingeengt zu wissen und dies dem Patienten und den Angehörigen mitteilen zu müssen. Auf das Drängen der Angehörigen, oder seltener des Patienten hin, doch noch irgendetwas zu unternehmen, kann die Versuchung sehr groß werden, Handlungen zu setzen, die medizinisch gesehen nur wenig aussichtsreich oder eigentlich nicht sinnvoll sind. Es gibt Momente, in denen Hoffnungen auf den Boden der Realität geholt werden müssen und andere, in denen die Hoffnung nicht genommen werden darf. Mit Hilfe der Klugheit wird die Wahrhaftigkeit richtig zu dosieren sein. Im Verlauf einer Krankheit muss der Arzt dem Patienten nach und nach erklären, wie sich diese entwickeln wird. Aber auch dieser Bereich ist nur schwer erfassbar, weil jeder Arzt weiß, dass es immer wieder verblüffende Wendungen und Krankheitsverläufe gibt.

Nicht selten sieht sich der Arzt vor die Entscheidung gestellt, eine Reihung der Patienten vorzunehmen, weil gleichzeitig mehrere Personen seine Hilfe in Anspruch nehmen wollen, und niemand gerne wartet. Der kluge Arzt wird versuchen, sich kurz ein Bild der Situation zu verschaffen. Ein Patient, der sich in einer akuten Notsituation befindet, könnte Schaden erleiden, wenn er länger auf Hilfe warten muss. Er hat natürlich Anspruch auf vorrangige Behandlung und Betreuung. Sein Recht verwandelt sich in einen Imperativ. Der kluge Arzt ist sogar verpflichtet, ihn vorzunehmen. Ist der Grund für die Vorreihung ein gewichtiger, so ist dies auch den anderen Patienten, die vielleicht dadurch länger warten müssen, einsichtig. Kommt es aber regelmäßig zu undurchsichtigen Vorreihungen innerhalb der Warteschlange, dann wird sich der Arzt schwer tun, den aufkommenden Unmut der Patienten mit einsichtigen Begründungen abzuwehren. Es ist eine Frage des Starkmutes des betreffenden Arztes, eine „gerechte“ Reihenfolge einzuhalten. Das bedeutet, dass die Klugheit in dieser Angelegenheit sowohl die Gerechtigkeit wie auch die Stärke den richtigen Weg weist.

Die Tugend der Gerechtigkeit

Gerechtigkeit ist diejenige Tugend, bei der es um das Verhältnis zu den anderen geht. Als Tugend ist es jene willentliche Haltung, die jedem das Seine, das ihm unabdingbar Zustehende, geben lässt eine Kardinaltugend des Willens. Die Unabdingbarkeit, jedem zu geben, was ihm zusteht, gehört zum Richtigsein des Menschen. Wenn der Mensch seinem Willen mit Vernunft begegnet, sodass er auch das Wohl der Mitmenschen und nicht nur das eigene anstrebt, dann entsteht Gerechtigkeit, die Vervollkommnung des Willens.3

Eine Voraussetzung des Aktes der Gerechtigkeit ist, dass auf Grund der Klugheit die Wahrheit der wirklichen Dinge erkannt werden und in eine Entscheidung umgesetzt werden muss. Sonst kommt es dadurch zur Ungerechtigkeit, dass der Mensch das Wahrheitsverhältnis verloren hat. Dann wird die Frage, ob jemandem etwas zusteht oder nicht, gar nicht mehr gestellt.

Zum Richtigsein als Mensch gehört es – und erst dann kann man von Tugend sprechen – das Gerechte nicht nur zu tun, sondern auch gerecht zu sein, das heißt, das Gerechte „nämlich mit Freude und ohne Zögern“ zu tun. Gerechtigkeit bedeutet also auch das Erfüllen der eigenen Aufgabe.

Die Grundgestalten der Gerechtigkeit

Die ausgleichende Gerechtigkeit (Tausch-Gerechtigkeit) ordnet das Verhältnis des Einzelnen zum Einzelnen, der auch jeweils der Träger der Gerechtigkeit dem anderen gegenüber ist.

Die zuteilende, austeilende Gerechtigkeit ordnet die Beziehung des sozialen Ganzen zu den Einzelnen, um ihm das Zustehende aus dem Gemeinwohl zu geben. Zuständig ist der Verwalter des Gemeinwohls, nicht das Kollektiv. Gerechtigkeit besteht im Zuteilen; der Staat ist der Repräsentant des sozialen Ganzen

Die gesetzliche, allgemeine Gerechtigkeit ordnet das Wohl des Gemeinwesens, insofern es durch die Rechtsordnung bedingt ist. Der Gesetzgeber wird dadurch zur Schaffung der für das Gemeinwohl notwendigen Gesetze verpflichtet, die einzelnen Glieder der Gesellschaft zu deren Befolgung.

Gerechtigkeit in der medizinischen Praxis

Tugendhaft wird das Handeln durch den Bezug zur Grundeinstellung des Arztes, der nicht bloß handelt, um nicht angeklagt werden zu können, sich abzusichern und bloß dem Gesetz genüge zu tun ("Defensivmedizin"). Er handelt vielmehr darüber hinaus aus der Grundeinstellung, das wahrhaft Gute für den anderen zu wollen. Damit kommt auch er selbst als Person mit seinem Leben in Bezug zum Patienten. Diese Erweiterung des Entscheidungshorizontes ermöglicht es erst, in der Reflexion auf die konkrete Situation das wahrhaft Gute zu finden.

Zur Sicherstellung der Patientenrechte (Patientencharta)4 wurde 1999 in Österreich eine Vereinbarung beschlossen. Darin sind die Patientenrechte in jeweils mehreren Artikeln geregelt (Recht auf Behandlung und Pflege; Recht auf Achtung der Würde und Integrität; Recht auf Selbstbestimmung und Information; Recht auf Dokumentation; die Vertretung von Patienteninteressen; die Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen).

Etliche dieser Rechte erfordern den persönlichen Einsatz des Arztes, der Pflegenden, aber auch des Spitalsträgers. Fachgerechte und möglichst schmerzarme Behandlung und Pflege, Wahrung der Privatsphäre, umfassende Information, Freundlichkeit, um einige Beispiele herauszugreifen, brauchen eine individuelle Erfassung der Situation, die es möglichst adäquat in eine Entscheidung für eine möglichst entsprechende Therapie, in ein gutes Wort, oft auch in eine Unterlassung unnötiger Belastungen umzusetzen gilt. Dazu braucht es den Willen, das möglichst gut zu tun, damit die Erfassung der je gegebenen Wirklichkeit maßgebend werden kann. So kann man der Situation gerecht werden.

Zur Gerechtigkeit gehört auch die Fortbildung, um auf dem letzten Wissensstand zu sein, das Bemühen, möglichst umfassend nach Therapien zu suchen, d.h. nicht vorschnell zu sagen, hier könne man nichts mehr machen.

Zur Gerechtigkeit gehört schließlich auch die ärztliche Verschwiegenheit, die individuell unterschiedliche Zuwendung zum Patienten je nach Charakter, ihn nicht zu beargwöhnen, oder gar, ihm übel nachzureden. Dazu gehört auch, unangenehme oder unsympathische Patienten gleich gut und gleich engagiert zu behandeln, wie angenehme und sympathische Patienten.

Ein besonders sensibler Punkt ist die Frage der Wahrheit am Krankenbett. Der Patient hat das Recht auf eine wahrhaftige Aufklärung über seinen Zustand, der Arzt ist dazu verpflichtet. Entscheidend ist die Weise, wie er dabei vorgeht, damit der Patient von ihr nicht erdrückt wird, sondern sie verkraften kann. Ohne Tugend wird es das dazu nötige Feingefühl nicht geben.

Die Tugend der Tapferkeit

Im ärztlichen Beruf bedeutet Tapferkeit (Starkmut) sowohl aktives Einschreiten bei notwendigen, auch mit Risiko verbundenen therapeutischen Eingriffen, als auch Wartenkönnen bei unnötigen oder falschen Maßnahmen. Ohne Klugheit wird Tapferkeit zur Tollkühnheit.

Immer ist der Schutz der persönlichen Integrität des Patienten – von seinem natürlichen Anfang bis zu seinem natürlichen Ende – die Richtlinie für den Arzt, der auch seine eigene Gesundheit in die Waagschale wirft, allerdings unter Einhaltung der notwendigen Vorsichtsmaßnahmen. Beispielsweise gibt es bereits gegen viele Infektionen Schutz durch Impfungen. Solche Schutzmaßnahmen nicht einzuhalten bzw. nicht durchzuführen wäre Waghalsigkeit, Verwegenheit und würde dazu führen sich und andere einem unnötigen Risiko auszusetzen. In Fällen, wo es noch keine Impfung gibt, bedeutet es Tapferkeit, solche Patienten unter bestimmten Umständen zu betreuen. Mancher Arzt verlangt als Bedingung seiner Behandlung einen negativen Test, ehe er ärztlich handelt, bzw. die Behandlung ablehnt und den Patienten abschiebt – wohl keine Tapferkeit. Der geforderte Test kann dagegen als Schutzmaßnahme gewertet werden, wenn er dann jedoch besondere Sorgfalt walten lässt. Vor einer möglichen Infektion bei der Behandlung wird er hier entsprechende Handschuhe tragen, einen Gesichtsschutz, etc. Es gibt viele Beispiele von Ärzten, die sich bewusst um solche Patienten kümmern.
Starkmut ist auch in Notsituationen gefordert, z.B. bei Unfällen oder bei der Reanimation unbekannter Patienten bestehen, da hier sofortiges Handeln notwendig ist und die Selbsthingabe notwendig macht. Andere Ärzte gehen in Seuchengebiete, in Krisengebiete, die also bewusst das Risiko der eigenen Verwundbarkeit auf sich nehmen. Sie begeben sich aber nicht blind in diese Gefahr, sondern bereiten entsprechende Maßnahmen vor. Maßnahmen der Klugheit sind auch in solchen Extremsituationen gefordert, um nicht zu hasardieren, sich bloß auf sein "Glück“ zu verlassen oder blind in die Gefahr zu laufen.

Die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft kann ebenfalls bei Begehren der Patienten oder Angehörigen zu Konfliktsituationen führen, wo die Tapferkeit notwendig wird. Statistisch basierte Richtlinien und Empfehlungen aufgrund von Leitlinien haben zweifellos ihre Berechtigung. Sie ersetzen aber nicht das Urteil des behandelnde Arztes, der mitunter ein großes Maß an Standhaftigkeit und Tapferkeit aufbringen wird müssen, die eigene Verantwortung in die Patientenbehandlung einzubeziehen.

Die Tugend des Maßhaltens

Die Tugend der Mäßigung vervollkommnet das sinnliche Begehren. Die Tugend des Maßes erhält nicht nur die Ordnung des Strebens im Gefüge der personalen leib-geistigen Einheit, sondern auch im Gefüge der sozio-kulturellen Interaktion. Schließlich ist es die Unmäßigkeit, die zu Überstürztheit, Unvernunft, Aggression und Brutalität verleitet und zugleich im Menschen die natürliche Neigung zerstört, anderen nützlich zu sein.

Das Maßhalten als Tugend des Arztes bewahrt vor diagnostischem und therapeutischem Übereifer. Allerdings kann die nötige Grenzziehung nur auf der Basis hoher beruflicher Kompetenz, kritischer Selbsteinschätzung, Takt und unerschütterlicher Achtung der Würde des Menschen erfolgen.

Die Tugend des Maßhaltens besteht auch notwendigerweise darin, in Demut die eigenen Unzulänglichkeiten anzuerkennen. Der Dienst an der Menschheit ist ohne Demut nicht denkbar. Er hat zu tun mit dem Hintanstellen der eigenen Person, des sich Einordnen-Könnens in eine Institution, in der Ausführung von Aufträgen als Teil eines großen Vorhabens und dem damit verbundenen Gehorsam. Jede „Unmäßigkeit“ im Sinne von Geltungsbedürfnis, Populismus, Mediengeilheit ist solchen Unternehmungen abträglich, so sehr in ihnen Privatinitiative, Klugheit im Umgang mit Medien und Subventionen, Tapferkeit und Gerechtigkeitssinn gefragt sind.

Das Maßhalten ist im Umgang mit Patienten in Krisensituationen gefragt, besonders wenn überbesorgte bzw. kritische Angehörige die Situation komplizieren. Die Tugend des Maßhaltens zügelt den Paternalismus alter Prägung, der aus großer Höhe und prinzipiell vom Fußende des Bettes agiert.

Die Tugend des Maßhaltens steht für die Fähigkeiten des Innehaltens, des Dialogs, der Reflexion, des klugen Kompromisses und auch der freiwilligen Selbstbeschränkung in Urteil und Handlung, verbunden mit einer unenttäuschbaren Liebe zur leidenden Menschheit.

Wie wird die Grundhaltung erreicht, die wir Tugend nennen? Diese Frage hat nicht nur die Ethik, sondern auch die Psychologie und die Erziehungswissenschaft beschäftigt. Der Schlüssel zu Beantwortung dieser Frage ist der anthropologisch-ethische Grundsatz, dass der Mensch gut wird, in dem er das Gute tut, und daher tugendhaft wird, in dem er Akte der Tugenden setzt. Dies war auch die klassische Antwort der Philosophie: Tugenden werden durch Wiederholung von tugendhaften Handlungen erworben. Mit jeder einer solchen Handlung wird die Prädisposition gestärkt, das Gute, das die jeweilige Tugend abzielt, zu tun. Das heißt, die Tugend wird gestärkt.

Ganz besonders wichtig für den Erweb der Tugend ist die gute Erziehung in der Zeit des Heranwachsens. Hier ist in erste Linie der Familienverband und in weiter Linie die Schule maßgeblich. Aber auch das ganze Leben lang sollte jeder Mensch es als seine primäre Aufgabe sehen, in der moralischen Qualität zu wachsen. Dazu helfen ganz besonders die Vorbilder, vor allem wenn sie auch als Ratgeber zur Seite stehen können. Die Bereitschaft stets das eigene Verhalten zu hinterfragen, und darüber nachzudenken, wie es an moralischer Qualität wachsen kann, d.h. sich selbst im Gewissen zu erforschen, ist eine Bedingung sine qua non für die erwähnte Kultivierung des Gewissens, die der Weg zur Tugend ist.

Gibt es spezifische Tugenden der ärztlichen Tätigkeit? Was es auf jeden Fall gibt, sind spezifische ärztliche Handlungen. Da die Tugend die Grundhaltung und die Fertigkeit ist, das Gute zu tun, d.h. die Handlungen gut zu tun, kann man davon sprechen, dass es Tugenden gibt, die für ärztliche Handlungen besonders gefordert werden. Man kann sie auch spezifische Tugenden des ärztlichen Berufs bezeichnen, z.B. könnte man von ärztlicher Klugheit sprechen. Aber der kluge Mensch, der Arzt ist, ist nur klug, wenn er auch in seinem ärztlichen Handeln die Klugheit walten lässt. Dies gilt für die Kardinaltugenden, aber auch für alle anderen, wie z.B. für die Liebe, Mitleid, Freundlichkeit, Geduld, Sanftmut, Loyalität, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Zuverlässigkeit, Großzügigkeit, Demut, Arbeitsamkeit, Gründlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Pünktlichkeit usw. Wie oben erwähnt, werden die Tugenden durch Wiederholung des Tugendhaften erworben. Der Arzt, der in den Tugenden wachsen will, muss auch spezifische Akte der Tugenden in der ärztlichen Tätigkeit wiederholen - mit Hilfe von Vorbildern, Ratgebern und der Prüfung seines eigenen Gewissens.

Referenzen

  1. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1106a 22-24
  2. Vgl. dazu Bonelli J., Qualitätssicherung im Krankenhaus und Tugenden, ein empirischer Befund
  3. Vgl. Aquin, T.v, De Virt., q.un., a.5, sol.
  4. Vgl. Bundesgesetzblatt I Nr. 195/1999

Quelle

IMAGO HOMINS 4/01: Kardinaltugenden und ärztliche Praxis

E. H. Prat, Kardinaltugenden und Kultivierung des Gewissens, S.265-272

N. Auner, Tugend der Klugheit und ärztliche Praxis, S.275-281

R. Klötzl, Die Tugend der Gerechtigkeit, S.293-290

O. Jahn, Tapferkeit als ärztliche Tugend, S.291-295

F. Kummer, Temperantia – Tugend des Maßhaltens, S.297-302

Institut für Medizinische
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