S.O.M. Sinnorientierte Medizin. Eine Methode zur Risiko-/Nutzen-Analyse medizinischer Maßnahmen

Imago Hominis (2004); 11(1): 55-58

In Zeiten der Ressourcenknappheit auf der einen Seite und einer zunehmenden Tendenz zur Medikalisierung aller Lebensbereiche auf der anderen wurde mit Unterstützung des Fonds „Gesundes Österreich“ des Gesundheitsministeriums eine Methode zur Risiko-/Nutzen-Abschätzung bei Langzeitbehandlungen über mehrere Jahre erstellt.

S.O.M.-Konzept:

  • Entmedikalisierung des Lebens
  • Das Sinnvolle tun / Unnötiges unterlassen
  • Rationalisierung statt Rationierung
  • Qualitätssicherung ohne 2-Klassen-Medizin

Es geht darum, das Sinnvolle zu tun, aber das Unnötige zu unterlassen, um so gleichsam in einer Umkehrbewegung die Entmedikalisierung des Lebens einzuleiten.

Schlagwortartig könnte man sagen: „Rationalisierung statt Rationierung“. Nur so wird man die steigenden Medikamentenkosten in den Griff bekommen, ohne Qualitätsverlust und ohne Abdriften in eine 2-Klassen-Medizin.

Methode:

  • Gewinn/Verlust an gesunden Lebensjahren
  • Lebenszeitrisiko ab Therapiebeginn

Die S.O.M.-Nutzen-/Risiko-Analyse basiert auf einer kumulativen Gewinn-/Verlust-Bilanz gesunder Lebensjahre für eine bestimmte Therapie sowie auf der Berechnung des Lebenszeitrisikos ab einem bestimmten Therapiebeginn. Die Berechnungsmethode wurde von Prof. Felsenstein am Institut für Statistik der Technischen Universität Wien erarbeitet.

Die Methode wurde an folgenden 3 Beispielen angewandt:

  1. Lebensstiländerung im Vergleich zur Medikalisierung (Relevanzindikatoren)
  2. Osteoporosebehandlung
  3. Hormonersatztherapie.

1. Beispiel: Lebensstiländerung (Relevanzindikatoren)

Der sicher wichtigste Ansatz zur Entmedikalisierung des Lebens ist wohl eine gesunde Lebensführung. Deshalb wurden die Effektivität bzw. das Ausmaß der Lebensverlängerung bei Lebensstiländerungen als Referenz nach der S.O.M.-Methode berechnet. Danach ist der präventive Wirkungsgrad einer gesunden Lebensführung um eine Zehnerpotenz effektiver als eine präventive medikamentöse Therapie:

Durch Rauchverzicht z. B. kann eine Lebensverlängerung um ca. 8 Jahre erzielt werden. Durch regelmäßiges körperliches Training 2,5 – 6 Jahre, dabei kommt es natürlich auf das Ausmaß des Trainings an. Das Minimum wäre ein tägliches forciertes Gehtraining über 30 Minuten, besser natürlich über 60 Minuten. Die Einhaltung des Normalgewichts bringt 2,5 Jahre und eine gesunde Ernährung zumindest 2 Jahre. Unter gesunder Ernährung versteht man die sog. mediterrane Kost: täglich Obst und Gemüse, fettarme Milchprodukte (Buttermilch, 1%-iges Joghurt), Vollkornprodukte (Vollkornbrot, Vollkornnudeln, Naturreis) und wenig Zucker und Süßigkeiten, weiters Meidung von tierischen Fetten (gesättigte Fettsäuren) und stattdessen Fischöl und pflanzliche Öle (häufig Fisch und wenig Fleisch und Wurst).

Wenn man alle Faktoren zusammen berücksichtigt, ergibt eine gesunde Lebensführung einen Gewinn von 15 – 18 zusätzlichen Lebensjahren, während man durch eine primärpräventive Einnahme von Medikamenten z. B. Cholesterinsenker oder Thrombozytenaggregationshemmer bestenfalls 0,5 – 1 Jahr dazugewinnen kann.

2. Beispiel: Osteoporose

Ein weiteres Beispiel zur Entmedikalisierung des Lebens aus der Studie ist der Beginn einer medikamentösen Osteoporosebehandlung z. B. mit Bisphosphonaten auf Basis von Knochendichtemessungen. Heute wird als Normalwert die Knochendichte einer 30 Jahre alten gesunden Frau zugrunde gelegt, ohne dass der normale Knochenabbau im Alter berücksichtigt wird. Die Folge ist, dass sich bei fast allen Frauen ab dem 50. Lebensjahr eine erniedrigte Knochendichte finden lässt. In der Studie konnte gezeigt werden, dass es nicht sinnvoll ist, gesunde Frauen alleine wegen erniedrigter Knochendichte bereits ab dem 50. Lebensjahr medikamentös gegen Osteoporose zu behandeln. Bei diesen Patienten ist ein Behandlungsbeginn (wenn überhaupt) ab dem 65. Lebensjahr völlig ausreichend. (Entmedikalisierung!)

Bei leichter (präklinischer) Osteoporose ist der Effekt einer Behandlung, die ab dem 65. Lebensjahr begonnen wird, gleich gut wie ab dem 50. Lebensjahr. (Einsparung von 15 Behandlungsjahren = EUR 7.800,— = ca. ATS 110.000,—)

Die präklinische Osteoporosebehandlung führt allerdings nicht zu einer Verhinderung von Knochenbrüchen, sondern eher zu einer zeitlichen Verschiebung um bestenfalls 1,5 Jahre. D. h. Frauen, die Medikamente gegen Osteoporose einnehmen, müssen sehr wohl auch mit dem Risiko einer Knochenfraktur rechnen, allerdings etwas später als ohne Therapie. Auf alle Fälle ist jedoch eine gesunde Lebensführung gerade zur Osteoporoseprophylaxe unverzichtbar: Gesunde Ernährung (Calcium- und Vitamin-reiche Kost, Bewegung, Meiden von Nikotin und übermäßigem Alkoholkonsum.)

3. Beispiel: Hormonersatztherapie (Dauerbehandlung)

Bekannt ist in der Zwischenzeit, dass die Hormonersatztherapie in Summe mehr schadet als nützt. Wir haben anhand der bisher vorliegenden Literatur diesen Schaden sozusagen quantifiziert. Dabei ergibt sich, dass jede 4. Frau, die eine Hormonersatztherapie als Dauerbehandlung durchführt, mit einer zusätzlichen schwerwiegenden Erkrankung rechnen muss. Oder berechnet auf gesunde Lebensjahre: jede Frau, die eine Hormonbehandlung auf Dauer durchführt, muss mit einem Verlust von 5,5 gesunden Lebensjahren rechnen:

Netto-Bilanz (Dauerbehandlung ab 50a, vgl. Tabelle I):

  • Lebenszeitrisiko: Schaden +24 schwerwiegende Erkrankungen/100 Frauen
    [Jede 4. Frau, die eine Hormonbehandlung lebenslang durchführt, muss mit einer zusätzlichen schwerwiegenden Erkrankung rechnen.]
  • Verlust (an krankheitsfreien Jahren): Schaden -5,5 Jahre
    [Jede Frau, die eine Hormonbehandlung lebenslang durchführt, muss mit 5,5 zusätzlichen Krankheitsjahren im Laufe ihres Lebens rechnen.]

Auch bei nur relativ kurzer Behandlungsdauer z. B. von 5 Jahren muss mit einer schweren Erkrankung in 3 von 100 Fällen gerechnet werden. D. h. jede Frau, auch wenn sie nur eine Hormonbehandlung bis zu 5 Jahren nach der Menopause erhält, muss damit rechnen, dass sie 1 – 1,5 gesunde Lebensjahre verliert:

Netto-Bilanz (5 Jahre Behandlung ab 50a):

  • 5-Jahres-Risiko: Schaden +3,18 schwerwiegende Erkrankungen/100 Frauen
    [3 von 100 Frauen, die 5 Jahre unmittelbar nach der Menopause mit Hormonen behandelt werden, bekommen eine zusätzliche schwerwiegende Erkrankung.]
  • Verlust (an krankheitsfreien Jahren): Schaden -1,22 Jahre
    [Jede Frau, die eine Hormonbehandlung über 5 Jahre bekommt, muss damit rechnen, dass sie 1,22 Jahre zusätzlich ernstlich krank ist.]

Generell kann also gesagt werden, dass bei einer Hormonersatztherapie (kurzfristig oder als Langzeittherapie) immer mit einem erheblichen Schadensrisiko gerechnet werden muss. Sie sollte daher, wo immer es geht, vermieden werden (Entmedikalisierung). Bei Wechselbeschwerden müssen diese schon sehr ausgeprägt sein (z. B. Arbeitsunfähigkeit), wenn die schädliche Wirkung einer (auch nur kurzfristigen) Hormontherapie zugunsten einer besseren Lebensqualität in Kauf genommen werden soll.

Quelle

Das Imabe-Institut hat mit Unterstützung des Fonds „Gesundes Österreich“ diese Studie fertiggestellt. Die Ergebnisse werden hier stichwortartig dargestellt. Eine ausführlichere Version der Studie (Kurzversion) kann auf der Homepage des Imabe-Instituts unter http://www.imabe.org/ abgerufen werden.

Bearbeiter:

J. Bonelli, E. Prat, K. Felsenstein

unter Mitarbeit von:

N. Auner, R. Glowka, M. Großberger, U. Kerndl, J. Königseder, S. Meingassner, W. Rella, C. Schragl, C. Umschaden

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: