IMABE-Symposium: Grenzen in Gesundheitsberufen erfahren, durchleiden und integrieren

Imago Hominis (2019); 26(3): 103-106
Susanne Kummer

Ärzte und Pflegende stoßen in ihrem Berufsalltag oft an ihre Grenzen: Wenn am Lebensende Entscheidungen über einen Behandlungsabbruch oder -verzicht getroffen werden müssen. Wenn Patienten und Angehörige in schwierigen Situationen mehr Zeit brauchen. Wenn wirtschaftlicher Druck und Zeitknappheit auf dem Personal lasten. Menschen in Heilberufen erleben die positiven Möglichkeiten ihres Tuns, sie erfahren aber zugleich ihre Ohnmacht angesichts von Krankheit, Leid und Tod. Vor welche emotionalen, strukturellen und ethischen Grenzsituationen sind Medizin und Pflege gestellt? Diesen Fragen widmete sich das diesjährige interdisziplinäre IMABE-Symposium unter dem Titel „Grenzsituationen in Medizin und Pflege“, das mit 250 Teilnehmern am 22.11.2019 im Wiener Raiffeisenforum stattfand.

Mitgefühl entwickeln, ohne selbst den Boden unter den Füßen zu verlieren

Das Wort „Grenzsituation“ hat der deutsche Philosoph und Psychiater Karl Jaspers im Jahr 1919 für Phänomene der menschlichen Bedingtheit wie Leid, Schuld und Tod eingeführt. „Grenzsituationen erschüttern und ängstigen uns, gleichzeitig sind sie Möglichkeiten zum individuellen Lernen. Auch als Mediziner müssen wir lernen, die Grenzen unserer menschlichen Verfasstheit positiv in den Berufsalltag zu integrieren. Dazu braucht es Demut als Grundhaltung. Sie bewahrt vor Selbstüberschätzung und hält die Grenzen des eigenen Wissens wach“, unterstrich Johannes Bonelli, IMABE-Direktor, selbst Internist, zur Eröffnung.

„Unser eigener Anspruch, für alles eine Lösung anbieten zu müssen, ist allgegenwärtig“, sagt
Ingrid Marth, Leiterin des Mobilen Palliativteams der CS Caritas Socialis in Wien. Um Menschen, deren Lebensende absehbar ist, angemessen begleiten zu können, müssten sich in Gesundheitsberufen Tätige „zuallererst selbst mit Verunsicherung, Irritation und den grundlegenden Fragen des Lebens auseinandergesetzt haben“, betont Marth. Nur dann könne man „Mitgefühl entwickeln, ohne dabei selbst den Boden unter den Füßen zu verlieren“.

Medizin: Der ganze Mensch steht im Mittelpunkt, nicht bloß seine Krankheit

Thomas Sören Hoffmann, Philosoph an der Fernuniversität Hagen, sieht einen Paradigmenwechsel angezeigt: Momentan herrsche das Bild einer Medizin vor, die sich vor allem als technisch-naturwissenschaftliche Disziplin definiert. Damit aber, so Hoffmann, würde der innerste Kern des Auftrags der Medizin ausgehöhlt. Medizin ist mehr als Regelanwendung, es gehe um ein Aufspüren, was in diesem konkreten Fall das Richtige ist. Das hat mit ethischer Kompetenz zu tun. „Medizin ist eine Kunst des Heilens, in der dieser besondere Mensch in seiner Ganzheit im Mittelpunkt stehen muss – und nicht bloß eine Krankheit“, betont Hoffmann. Um in medizinischen Grenzsituationen bestehen zu können, müssten daher die im Gesundheitsberuf Tätigen immer auch als „ganze Menschen“ auf ihr Gegenüber eingehen und den Faktor „Unsicherheit“ als Grundbedingung des Handelns anerkennen.

Um Menschen in der Krankheit, zwischen Leben und Tod zu begleiten, braucht es professionelle Kompetenz, Mitgefühl, aber auch Selbstreflexion und ein starkes Team. Elisabeth Medicus, die mehr als 20 Jahre  als ärztliche Leiterin der Einrichtungen der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft fungierte, richtete ihren Fokus auf die Betreuung von Angehörigen schwerkranker und sterbender Menschen. „Wir als professionell Betreuende müssen den Angehörigen ermöglichen, ihre Rolle wahrzunehmen, wir müssen sie in ihren Kompetenzen bestärken, die Ressourcen heben und fördern“, betont die Palliativmedizinerin. Dazu zähle ein solides Wissen über das Lebensende und über Symptomlinderung, Fertigkeiten in der Kommunikation und in der Entscheidungsfindung sowie die Haltung des Mitgefühls.

Die Wiener Radioonkologin und Psychotherapeutin Tilli Egger und der Kinder- und Jugendpsychiater Christian Popow von der Medizinischen Universität Wien machten anhand von Einzelfällen deutlich, dass Grenzsituationen nach klug bedachten, individuellen Lösungen rufen und der Rückzug auf ein Regelwerk kontraproduktiv ist.

Ist die Pflege an ihrer Grenze?

Zur Sprache kam beim Symposium auch das angesichts der demographischen Entwicklung sozialpolitisch brennende Thema Pflege: Bereits heute leben in Österreich rund 150.000 ältere Menschen, die professionelle Pflege durch ambulante Versorgungsdienste erfahren, mehr als 80.000 Menschen in stationären Einrichtungen. Der Bedarf wird in den kommenden Jahrzehnten rasant zunehmen. Das Problem wird sich nach den Worten des deutschen Pflegewissenschaftlers Michael Isfort aber nicht allein durch mehr professionelle Pflege lösen lassen. Der Vorstand des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung in Köln sieht die Zukunft – wie er ausführte – vor allem in lokal abgestimmten, kleinräumigen Alternativen.

Als Beispiele nannte Isfort präventive Hausbesuche bei Senioren, die innerhalb der Gemeinde selbst organisiert werden und die kommunale Gemeinschaft beleben. Es brauche neue Mischformen der ambulanten und stationären Versorgung sowie eine altersgerechte Quartiersentwicklung in Bezirken und Gemeinden. Pilotprojekte in Deutschland zeigen, dass innovative Ansätze den Neubau weiterer kosten- und personalintensiver stationärer Einrichtungen langfristig eindämmen können.

Versöhnung mit den eigenen Grenzen als Burnout-Prävention

Bestimmte Berufsbilder sind mit hohen Rollenerwartungen verknüpft. Das gilt auch für Heil-und Pflegeberufe. In der Neufassung des Genfer Gelöbnisses 2017 integrierte der Weltärztebund (WMA) erstmals die Verpflichtung der Ärzte, auch auf ihre „eigene Gesundheit“ zu achten. Laut einer Erhebung der Österreichischen Ärztekammer sind Ärzte vergleichsweise häufiger von Burnout betroffen als die Allgemeinbevölkerung. Studien zeigen, dass ein großer Stressfaktor bei Medizinern durch das Wissen entsteht, den Tod nicht besiegen zu können.

Das Grundproblem von Burnout sieht der Wiener Psychiater Raphael M. Bonelli in einer falschen Motivation. Das gelte auch für Gesundheitsberufe. Wenn jemand Angst davor hat, Fehler zu machen, sich nur noch über die Arbeit definiert und glaubt, dass er nur so viel wert ist, wie er leistet, dann findet er nicht mehr das rechte Maß. So mutiert das „Soll“ zum angstauslösenden „Muss“, das den Handlungsspielraum einschränkt und keine Kritik mehr zulässt. Die Versöhnung mit den eigenen Grenzen und das Annehmen von Fehlern zählen laut Bonelli zu präventiven Faktoren für Burnout, dem häufig ein Streben nach Perfektionismus zugrunde liegt.

Kultur des Beistands: Ärztekammerpräsident Szekeres erteilt aktiver Sterbehilfe Absage

Thomas Szekeres erteilte in seiner Funktion als Präsident der Österreichischen Ärztekammer aktiver Sterbehilfe und dem assistiertem Suizid eine klare Absage. Entwicklungen wie in der Schweiz oder den Niederlanden beobachte er mit großer Sorge, so der Kammerpräsident in seiner Begrüßungsrede. Ärzte hätten einen klaren Auftrag, nämlich Kranke zu heilen, Leid zu lindern, Leben zu erhalten und Sterbenden beizustehen. Kein Mensch habe jedoch das Recht, andere „aktiv in den Tod zu befördern“, auch Ärzte nicht. Szkeres betonte, dass es dazu – trotz immer wieder aufflammender Diskussion – eine klare Mehrheit innerhalb der Ärzteschaft gebe. Erst kürzlich hat die 70. Generalversammlung des Weltärztebundes ärztliche Beihilfe beim Suizid und Tötung auf Verlangen zum wiederholten Male abgelehnt. In der neu überarbeiteten WMA-Deklaration vom 26. Oktober 2019 heißt es: „Die WMA bekräftigt ihr starkes Bekenntnis zu den Grundsätzen der medizinischen Ethik, und dass dem menschlichen Leben größter Respekt entgegengebracht werden muss. Daher stellt sich die WMA entschieden gegen Euthanasie und ärztlich assistierten Suizid“, so die Stellungnahme des Weltärztebundes im Wortlaut. Der Weltärztebund ist ein Zusammenschluss von 112 nationalen Ärztekammern (stand: 2018). Die Österreichische Ärztekammer ist Mitglied des Weltärztebundes.

Martin Schaffenrath von der Österreichischen Gesundheitskasse und IMABE-Kuratoriumsmitglied betonte am Symposium, dass es in Österreich eine „Kultur des Beistands“ gäbe, auch an den Grenzen des Lebens zusammenzustehen. Dieser menschliche Zugang habe hierzulande „gute Tradition“. Schaffenrath sprach sich für eine flächendeckende Versorgung mit Palliativmedizin und Hospizeinrichtungen aus; diesbezüglich sei man in Österreich noch nicht am Ziel – aber auf einem guten Weg.

Anschrift der Autorin:

Mag. Susanne Kummer
IMABE
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