Das ethische Problem bei der Betreuung von Patienten mit Erbkrankheiten am Beispiel von Chorea Huntington

Imago Hominis (2002); 9(3): 171-178
Raphael M. Bonelli

Zusammenfassung

Die Chorea Huntington ist eine autosomal dominant vererbte neurodegenerative Erkrankung. Sie wurde früher auch als erblicher Veitstanz bezeichnet und ist eine fortschreitende Erkrankung, die meist zwischen dem vierten und fünften Lebensjahrzehnt ausbricht. Innerhalb von einigen Jahren kommt es zum Verlust der motorischen Kontrolle, zu Demenz und zu Wesensveränderungen. Die Ursache der Erkrankung ist eine Mutation des Huntingtin-Gens auf dem Chromosom 4. Infolge der Mutation erfährt das vom Gen codierte Protein mit der Bezeichnung Huntingtin eine Strukturveränderung von der normalen Struktur in eine Amyloidstruktur, welche die Nervenzellen zerstört. Es kommt zum Untergang von Nervenzellen, insbesondere in den Stammganglien und der Hirnrinde. Die Therapie beschränkt sich auf eine symptomatische Behandlung. Die Erkrankung führt immer zum Tod, wobei der zeitliche Verlauf variabel ist und Jahre bis Jahrzehnte (5 bis 20 Jahre) dauern kann. Die Diagnose der Erkrankung erfolgt durch neurologische, elektrophysiologische sowie bildgebende Untersuchungsverfahren. Durch einen Gentest sind eine direkte molekulargenetische Diagnostik bei Erkrankten und eine differentialdiagnostische Abklärung möglich. Vielschichtig ist die ethische Problematik: erstens die Aufklärung und die Entscheidung zum Gentest; zweitens die Abtreibung bzw. Embryonenauswahl; drittens die Implantation von Embryonen in das Gehirn erkrankter Personen; viertens die von Erfolglosigkeit belastete Arzt-Patient-Beziehung; und fünftens das große Thema der sozialen und gesellschaftspolitischen Diskriminierung.

Schlüsselwörter: Chorea Huntington, Ethik, Gentest, Embryonenauswahl, Arzt-Patient-Beziehung

Abstract

Huntington’s disease is a autosmal dominantly inherited neurodegenerative disease with a progressive course which usually starts between the fourth and fifth decade of life.  Dominant clinical features are movement disorders (such as choreatic hyperkinesias), dementia, and psychiatric symptoms (such as psychotic episodes or depression). This increasingly severe motor impairment, cognitive decline, and behavioral manifestations are leading to functional disability. The therapy of motor symptoms, especially chorea, is rather difficult. Typical neuroleptics like haloperidol, pimozide and fluphenazine, decrease chorea, but care is needed not to increase to doses that impair the individual's functional level. Low doses of those neuroleptics are often well tolerated, whereas high doses are rarely helpful and may impair motor function, such as swallowing or fine motor tasks, and cognitive function. There are several ethical problems: (1) the problem whether or not do the genetic testing; (2) abortion / selection of emryos; (3) the implantation of fetal tissue in the striatum; (4) the relationship to the doctor; and (5) social discrimination.

Keywords: Chorea Huntington, ethics, genetic testing, selection of embryos, relationship to the doctor


Einleitung

Der Name Chorea (griech. Choreia = Tanz) rührt her von den für die Erkrankung typischen unkontrollierten Bewegungen, wie überschießenden Bewegungen, einem torkelnden Gang, oder dem Grimassieren. Die Chorea Huntington wurde erstmals 1841 von C.O. Waters beschrieben.1 Benannt wurde sie später nach dem amerikanischen Nervenarzt George Huntington aus Ohio, der 1872 erkannte, dass es sich um eine Erbkrankheit handelt und sie von der Chorea minor, die die Folge einer Streptokokkeninfektion ist, abgrenzte.2 Die Bezeichnung Veitstanz = Tanzwut ist eine Lehnübersetzung des mittellateinischen Begriffs Chorea Sancti Viti. Ursprünglich war Veitstanz die Bezeichnung für die Tanzwut, zu deren Heilung man im 14. Jahrhundert nach der Veitskapelle bei Ulm wallfahrte.3 Bei der Chorea Huntington werden die normalen Bewegungsabläufe durch nicht kontrollierbare Bewegungen zeitweilig unterbrochen, was an einen Tanz erinnern kann. Heute werden mit Chorea plötzlich einsetzende, vielgestaltige unwillkürliche Bewegungen verschiedener Muskeln, besonders der distalen Extremitäten bezeichnet, die bei verschiedenen Erkrankungen auftreten können (z.B. Chorea minor Sydenham, Chorea gravidarum). Nachdem 1983 das Gen in einer Region des kurzen Arms des Chromosoms 4 lokalisiert wurde4, dauerte es noch zehn Jahre bis das verantwortliche Gen identifiziert werden konnte.5 Das Huntington-Gen enthält einen Bereich aus Wiederholungen des Codons Cytosin-Adenin-Guanin (CAG-Repeat).

Die Ursache der Chorea Huntington ist eine Mutation im Huntington-Gen auf dem kurzen Arm des Chromosoms 4. Bei den Mutationen handelt es sich um Verlängerungen der CAG-Repeats, die die Aminosäure Glutamin codieren.6 Die Repeat-Ausdehnungen im codierenden Bereich des Gens führen zur Bildung von langen Polyglutaminen. Durch den Einbau einer zu langen Abfolge von Glutaminresten in das Protein Huntingtin erfolgt eine Strukturumwandlung in eine Amyloidstruktur, die zu einer Zerstörung von Nervenzellen führt. Bei Gesunden wiederholt sich das CAG-Codon 10 bis 30 mal, bei einer Verlängerung von über 37 kommt es zur Manifestation der Chorea Huntington, dazwischen liegt eine Grauzone. Es besteht eine eindeutige Beziehung zwischen der Anzahl der Repeats und der Schwere der Erkrankung. Je mehr Repeats vorliegen, desto früher ist mit dem Ausbruch der Erkrankung zu rechnen und desto ungünstiger ist dann die Prognose.7

Die Chorea Huntington ist eine autosomal dominante Erkrankung, weswegen Männer und Frauen gleichermaßen erkranken. Kinder von Eltern, bei denen ein Elternteil die Genveränderung trägt, erkranken mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% ebenfalls. Fast alle Erkrankungsfälle beruhen auf einer von einem Elternteil ererbten Mutation. Sehr selten, nur in etwa 3% der Erkrankungsfälle, tritt eine Neumutation ein. Bei der Vererbung eines verlängerten CAG-Repeats durch die weibliche Keimbahn kommt es zu keiner oder lediglich geringen weiteren Verlängerung. Dagegen erfolgt bei der Vererbung durch die männliche Keimbahn häufig eine Zunahme der Repeat-Expansion mit einem daraus resultierenden früheren Krankheitsbeginn und einer schwereren klinischen Manifestation (Antizipation) bei den betroffenen Nachkommen.8 Die Häufigkeit der Chorea Huntington wird mit 4 bis 8 auf 100.000 Menschen angegeben. Sie gehört damit zu den häufigsten genetisch bedingten neurologischen Erkrankungen. Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen. Nach groben Schätzungen gibt es in Deutschland ca. 6.000 Betroffene, in Österreich wird die Zahl der HD-Erkrankten auf ca. 500 geschätzt.

Symptome

Die ersten Symptome der Chorea Huntington treten im Allgemeinen zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr auf. Ein Erkrankungsbeginn vor dem 10. Lebensjahr bzw. nach dem 60. Lebensjahr ist selten. Die Symptome können in neurologische und psychische unterteilt werden, die sich ihrerseits wieder im Früh- und Spätstadium der Erkrankung unterscheiden. Ein später Erkrankungsbeginn ist häufig mit einem milderen Krankheitsverlauf assoziiert und umgekehrt. Die Erkrankung beginnt mit einer Bewegungsunruhe der Extremitäten, also der Arme und Beine, des Kopfes, sowie des Rumpfes. Diese Unruhe steigert sich zu choreatischen Hyperkinesien. Das sind plötzlich einsetzende, unwillkürliche Bewegungen verschiedener Muskeln, wodurch die Willkürbewegungen unterbrochen werden. Betroffene versuchen zunächst, die choreatischen Bewegungen zu verbergen, indem sie diese in willkürliche Bewegungsabläufe einbauen, z.B. lecken sie sich nach dem unwillkürlichen Herausstrecken der Zunge die Lippen oder streichen sich nach einer einschießenden Beugebewegung des Armes über das Haar.9 Zunehmend geraten die Muskelbewegungen aber außer Kontrolle. Beim Vollbild der Erkrankung kommt es zum plötzlichen Grimassieren und zu schleudernden Bewegungen von Armen und Beinen. Sprechen und Schlucken fallen zunehmend schwer (Dysarthrophonie und Dysphagie). Die Bewegungsunruhe verstärkt sich unter seelischer und körperlicher Belastung. Obwohl die unkontrollierten Bewegungen im Schlaf aufhören, nehmen sie bei Ermüdung eher zu. Die anfangs choreatischen Hyperkinesien wandeln sich mit zunehmendem Krankheitsverlauf in Bradykinesen, also in eine Verlangsamung der Bewegungsanläufe. Durch Erhöhung des Muskeltonus können die Gliedmaßen minuten- bis stundenlang in einer schmerzhaften Fehlstellung verharren. Anstelle des Grimassierens tritt dann der Mutismus, d.h. der Patient ist nicht mehr in der Lage, durch Mimik, Gestik und Sprache zu reagieren. Die Bewegunsstörungen sind in der Regel wie die Demenz progredient, obwohl vereinzelt eine Reversibilität beobachtet werden konnte.10 Das Schlucken und Atmen fällt den Patienten immer schwerer und kann zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen. Die Chorea Huntington nimmt einen über 5-20 Jahre dauernden schicksalhaften Verlauf.

Psychische Beschwerden gehen den neurologischen Beschwerden häufig voran. Im Frühstadium werden leichte Beeinträchtigungen der intellektuellen Fähigkeiten sowie Gedächtnisstörungen oft übersehen.11 Zu den ersten Erscheinungen eines psychischen Abbaus gehören ein unbedachtes und impulsives Verhalten, sowie eine Enthemmung in zwischenmenschlichen Beziehungen. Aufgrund der mangelhaften Kontrolle über die Muskulatur, z.B. des Gesichtes mit Grimassieren, kann der falsche Eindruck eines bereits fortgeschrittenen Persönlichkeitsverlustes entstehen, was bei den Patienten Resignation und Depressionen hervorruft.12 Man führt die relativ hohe Suizidrate unter den Huntington-Patienten nicht nur auf die extrem schlechte Prognose, sondern auch auf diesen Zusammenhang zurück.13 Im Spätstadium der Erkrankung haben alle Patienten eine Demenz entwickelt, das heißt, es ist zum Verlust geistiger Fähigkeiten gekommen. So finden sich Störungen der Merkfähigkeit, damit im Zusammenhang stehend eine Desorientierung und eine Sprachverarmung.14 Einige Patienten entwickeln Wahnvorstellungen. Komplikationen ergeben sich aus der gestörten Koordination der Muskelbewegung. Infolge der Schluck- und Atemstörungen kann es zum Verschlucken, zu Aspiration oder Ateminsuffizienz kommen. Zum anderen geht die depressive Stimmungslage der Patienten mit einer relativ hohen Selbstmordrate einher.15 Die Chorea Huntington ist nicht heilbar, sie hat einen fortschreitenden Verlauf und endet immer mit dem vorzeitigen Tod. 15 Jahre nach dem Auftreten der ersten Symptome lebt nur noch etwa ein Drittel der Patienten. Es sind aber auch Krankheitsverläufe von über 40 Jahren möglich. Die häufigsten Todesursachen dabei sind Ateminsuffizienz, also Atemstörungen, und Aspirationspneumonien, also Lungenentzündungen durch Verschlucken, infolge der gestörten Koordination der Atemmuskulatur.

Diagnose

Die klinische Diagnose der Erkrankung ist im Frühstadium schwierig. Die Bewegungsstörungen sind anfangs gering ausgeprägt, aber bei der neurologischen Untersuchung können bereits eine Störung der Artikulation sowie der Augenbewegung auffallen. Mit zunehmender Ausprägung der typischen Bewegungsstörungen kann sich der Verdacht auf eine Chorea Huntington erhärten. Von besonderer Bedeutung bei der Diagnosestellung ist das Vorkommen der Chorea Huntington in der Familie. Somato-sensibel evozierte Potentiale (SEP), die durch Elektrostimulation der Haut ausgelöst und über bestimmten Hirnregionen abgeleitet werden, können schon frühzeitig pathologische Veränderungen zeigen.16 In der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) lässt sich bereits im Frühstadium der Erkrankung eine Störung des Glukose-Stoffwechsels feststellen.17 In den Schnittbildverfahren (MRT und CT) kann eine Atrophie (Gewebeschwund) des Nucleus caudatus, aber auch der Großhirnrinde nachgewiesen werden.18 Veränderungen im Elektro-Enzephalogramm (EEG) stellen sich erst im fortgeschrittenen Erkrankungsstadium als unspezifische diffuse Funktionsstörung der Großhirnrinde dar.19 Durch die Kombination neurophysiologischer (SEP) mit bildgebenden Verfahren lassen sich Veränderungen 5 bis 10 Jahre vor dem Ausbruch nachweisen.

Wenn bei einem Patienten Symptome vorhanden sind, die bei der Chorea Huntington vorkommen, besteht die Möglichkeit einer molekulargenetischen Diagnostik. Durch die DNA-Untersuchung anhand einer Blutprobe wird festgestellt, ob bei dem Patienten tatsächlich eine Chorea Huntington vorliegt. Auch gesunde Personen, die aufgrund einer Chorea Huntington bei Familienangehörigen ein Risiko haben, ebenfalls Genträger zu sein, können durch eine molekulargenetische Untersuchung feststellen lassen, ob sie Anlagenträger sind. Für eine solche Vorhersagediagnostik (prädiktive Diagnostik) bei Risikopatienten wurden wegen der erheblichen psychischen und sozialen Tragweite, die sich aus der Gewissheit, zu erkranken, ergeben kann, von der Internationalen Vereinigungen der Huntington-Selbsthilfeorganisationen und des Weltverbandes der Neurologen Richtlinien erarbeitet, nach denen auch in Österreich die Diagnostik durchgeführt wird.20 (siehe unten)

Therapie

Eine kausale Therapie, also eine Therapie der Ursache der Erkrankung, existiert bisher nicht. Eine symptomatische Behandlung ist nur begrenzt möglich, das Voranschreiten der Erkrankung ist damit nicht zu verhindern. Um der Abmagerung und dem Kräfteverfall entgegenzuwirken, sollten die Patienten hochkalorisch ernährt werden. Dabei müssen die Schluckstörungen bedacht werden. Dünnflüssige Nahrung wird häufig „verschluckt“, besser ist eine breiige Konsistenz der Nahrung. Es sollten öfter kleinere Mahlzeiten gereicht werden, z.B. 5-6 Mahlzeiten pro Tag. Genussmittel, wie Kaffee, Nikotin und Alkohol können sowohl die Symptomatik verstärken als auch die Wirkung der Medikamente abschwächen. Es werden vielfältige Ansätze in der medikamentösen Therapie der Chorea Huntington verfolgt, die sich aber bisher noch im Experimentalstadium befinden. Die medikamentöse symptomatische Therapie sollte unbedingt durch einen Neurologen erfolgen, da fast alle derzeit bei der Therapie der Chorea Huntington gebräuchlichen Medikamente auch ungünstige Wirkungen haben können. In letzter Zeit haben sich die neuen atypischen Neuroleptika als hilfreich zur Bekämpfung der Bewegungsstörungen und der psychischen Problematik erwiesen.21 Auch eine Hirnstimulation, die bei der Parkinson-Erkrankung durchaus hilfreich ist, wird diskutiert.22 Die rigide Form der Chorea Huntington spricht manchmal auf Dopaminagonisten an.23 Neben der medikamentösen Therapie ist Krankengymnastik außerordentlich wichtig. Dazu gehört u.a. auch ein logopädisches Training, um Sprechstörungen entgegenzuwirken. Damit werden auch Schluckstörungen günstig beeinflusst. Eine Unterweisung in Entspannungstechniken, wie z.B. autogenes Training, ist nicht nur dem Patienten selbst, sondern auch den Angehörigen zu empfehlen. Auch von einer begleitenden Psychotherapie / Seelsorge kann nicht nur der Patient, sondern auch die Familie profitieren. Es gibt leider (noch) keine Prophylaxe, obwohl immerhin Studien über potentiell neuroprotektiv wirksame Substanzen laufen.

Die ethische Problematik

1) Aufklärung / der Gentest

Fast jeder der Kinder betroffener Elternteile durchlebt eine Phase der totalen Negation, in der er das Problem (oder die Möglichkeit der eigenen Erkrankung) einfach nicht wahrhaben will. Bei manchen hält diese Phase bis zum Krankheitsausbruch an. Andere halten das ständig über ihnen schwebende Damoklesschwert der Diagnose nicht aus und entschließen sich zum Gentest. Das eigentliche Problem des Gentests ist seine Effektivität.24 Eine betroffene Person, z.B. im 20. Lebensjahr, erfährt, woran sie mit wahrscheinlich 40 Jahren erkranken und mit 55 Jahren sterben wird. Für die Person stellt sich die Frage, eine Familie zu gründen oder nicht; falls sie sich entschließt, den Test nicht zu machen, muss sie mit der 50% Wahrscheinlichkeit leben. In dieser Situation ist eine Familiengründung auch eine schwere Entscheidung für viele „Risikopersonen“. Rund um den Gentest ist nachvollziehbarerweise eine vermehrte Suizidneigung beobachtbar.25 Strenge Richtlinien rund um den Gentest wurden aus diesem Grund von der World Federation of Neurology Research Group on Huntington’s Chorea erlassen.26

2) In-vitro-Fertilisation (IVF) bzw. pränatale Diagnostik

Seit dem Etablieren der IVF hat sich mancherorts der Usus entwickelt, künstlich Embryonen von betroffenen Elternteilen zu zeugen. Alle Embryonen werden danach auf die Genmutation untersucht. Die von der Mutation betroffene Hälfte der Embryonen wird getötet; die „gesunde“ Hälfte implantiert. Alternativ dazu kann man durch pränatale Diagnostik die Genmutation des Kindes bereits im Mutterleib feststellen und dann gegebenenfalls dessen Leben beenden.27 

3) Implantation von embryonalen Stammzellen in das Striatum

Das Absterben von Zellen im Gehirn (Striatum) hat zur Folge, dass die Krankheit zu Symptomen führt. Dies hat zur Hypothese geführt, dass pluripotente Zellen (d.h. aus menschlichen Embryonen gewonnene embryonale Stammzellen), die in das erkrankte Gehirn eingesetzt werden, anwachsen und die verlorengegangene Funktion übernehmen. Hierzu werden bereits jede Menge Versuche am lebenden Menschen unternommen. Dies hat zu einer breiten Diskussion über die ethische Problematik eines solchen Vorgehens geführt.28 Ein ethisch gangbarer Weg wäre die Verwendung sogenannter bone marrow mesenchymal stem cells (MSCs). Das sind Stammzellen, die aus dem Bindegewebe des Knochenmarks isoliert werden. Versuche an Ratten, denen humane MSCs in künstlich erzeugte Infarktareale im Kortex appliziert wurde, haben gezeigt, dass sie im Vergleich zu einem Kontrollkollektiv wesentlich verbesserte sensomotrische Funktionen zeigten.29 Weiters ist darauf hinzuweisen, dass bei somatischen Stammzellen keine Abstoßungsreaktionen durch die Transplantation zu erwarten sind, da sich in der Regel der Patient die MSCs selbst spendet.

4) Die ärztliche Begleitung des Patienten

Die Arzt-Patient-Beziehung steht im Falle der Chorea Huntington auf einem schweren Prüfstand. Oftmals werden die Patienten mit einem niederschmetternden „da kann man nichts mehr machen“ vom Hausarzt oder vom Neurologen heimgeschickt. Und tatsächlich ist es auch als Arzt schwer zu ertragen, dass nichts wirklich hilft und junge, vormals gesunde Patienten, nach und nach verfallen – und das über 15 Jahre bis zum Tod. Dazu kommen mit der Krankheit assoziierte Persönlichkeitsstörungen30 und psychiatrische Probleme, die die Compliance erschweren und oft zum Bruch mit jeglichem Therapeuten (Arzt, Logopäde, Physiotherapeut, Ergotherapeut,...) führt.31 In diesem Zusammenhang sollte man aber darauf hinweisen, dass die Ziele ärztlichen Handelns dreifach sind: (1) Heilung, (2) Lebensverlängerung, (3) Verbesserung der Lebensqualität. Tatsächlich sind die ersten beiden Punkte für die Huntington Patienten zum gegenwärtigen Zeitpunkt offensichtlich nicht zu erreichen. Allerdings kann der Arzt sehr viel beim 3. Punkt machen, nämlich die Lebensqualität auch medizinisch zu verbessern. Es geht also darum, dass man dem Patienten einerseits zwar keine Heilung versprechen kann, dass man ihm aber doch in Bezug auf die Lebensqualität einiges helfen könnte und dass man ihm dieses Gefühl auch geben muss. In diesem Punkt handelt es sich sicher um eine ursprünglich und spezifisch ärztliche Aufgabe. Die Verzweiflung wächst beim Patienten, besonders da er ja den ganzen Krankheitsverlauf von einem seiner Eltern kennt und oftmals seine/n Mutter / Vater ständig schwer pflegebedürftig, inkontinent und hochgradig dement vor sich hat – und das natürlich auf seine Zukunft bezieht. Die Patienten erwarten keine Heilung – obwohl sie in dieser Phase Quacksalbern leicht auf den Leim gehen könnten (wer von uns würde in dieser Situation nicht auch alles versuchen?). Aber sie erwarten sich, dass der Arzt auf dem neuesten Stand der Forschung ist, dass er weiß, welche Medikamente und Operationen unpubliziert im Versuchsstadium sind. Für diese Kompetenz sind manche Patienten auch bereit, 500 km Fahrt zum Spezialisten in Kauf zu nehmen. Im Allgemeinen ist bei Chorea Huntington Patienten eine hohe Bereitschaft zum Risiko (d.h. neue Medikamente, neue Verfahren / Operationen,...) zu beobachten – die absolut nachvollziehbar ist. Die ethische Frage, ob solch eine experimentelle Therapie auch an Patienten sofort durchgeführt werden soll, zumal die Patienten auch dazu bereit sind, ist ebenfalls sehr wichtig. Je risikoreicher die Patienten sind, desto vorsichtiger müsste der Arzt agieren, weil er immer das Prinzip primum nil nocere vor Augen haben muss. Aus ethischer Sicht kann man sagen, dass ein Experiment v.a. dann gerechtfertigt erscheint, wenn es dem Patienten sehr schlecht geht bzw. wenn sein Leben wegen der Grundkrankheit ohnehin in Gefahr ist und das Experiment sozusagen die einzige Hoffnung darstellt. So ist es geraten, betroffene Personen zum Spezialisten weiterzuschicken oder ihnen das zumindest anzubieten.

Ein weiterer Punkt ist die Frage der psychologischen Betreuung des Patienten in Bezug auf das Tragen und Ertragen seiner Erkrankung. Hier wird vom Arzt etwas gefordert, das nicht in sein ursprüngliches Handlungsziel fällt, trotzdem kann man sagen, dass ihm auch die Funktion eines Trösters zukommt. Damit zusammenhängend hat er offensichtlich bei Patienten mit Chorea Huntington eine spezifische Sozialfunktion, die darin besteht, dem Patienten nicht nur medizinisch zu helfen sondern ihm auch zu helfen, sein Schicksal anzunehmen und ihn dabei bis zum Lebensende zu begleiten. Das bedarf aber dann auch einer spezifischen psychologischen und auch menschlichen Bildung des Arztes und auch eines besonderen Talents (Empathie = Einfühlungsvermögen!). Hier ist die Zusammenarbeit mit Sozialhelfern, Psychologen, Physiotherapeuten und Ergotherapeuten sinnvoll. Selbsthilfegruppen (in Österreich: Wien, Linz, Graz) können eine erstaunlich hilfreiche Stütze sein, weil hier Familien mit denselben Problemen zusammenkommen und man „unter sich“ ist und doch nicht alleine. Innerhalb der Familie wird die Krankheit oftmals totgeschwiegen, weil fast immer einige Risikopersonen im Haushalt leben, die die Krankheit zu 50% bekommen können und die das Thema verständlicherweise nicht ständig thematisiert haben wollen.

5) Diskriminierung

In der Nazizeit wurden etwa 3.500 Chorea Huntington Patienten „aus Gründen der Rassenhygiene“ zwangssterilisiert (Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933).32 Viele von ihnen wurden später Opfer des Euthanasieprogramms.33 Auch heute mehren sich die Stimmen, dass es von einer Risikoperson oder gar von einem Erkrankten verantwortungslos wäre, Kinder in die Welt zu setzen. Dies führt in dieselbe Richtung der Verherrlichung der Gesundheit um jeden Preis. Auch manche Versicherungsträger überlegen sich, die Krankenversicherung von Risikopersonen nicht mehr zu übernehmen oder diese gar zu kündigen. Die Frage nach Erbkrankheiten in der Familie bei Versicherungsbeginn kann als Szenario zum Ausstieg aus der Versicherung Bedürftiger gesehen werden. Sosehr diese Bemühungen firmenpolitisch nachvollziehbar sind, verbirgt sich hier doch eine erschreckende Unmenschlichkeit.

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Anschrift des Autors:

Dr. Raphael M. Bonelli
Facharzt für Neurologie
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